Und es geht doch! Wenn Väter mitziehen

Erschienen 2013, Wörterseh-Verlag / Kapitel "Reise durchs Vaterland"

Bildbeschreibung

Dieses Kapitel hat René Staubli geschrieben. Er ist Journalist, mein Mann und der Vater unseres Sohnes Yannick, den wir von Geburt an partnerschaftlich betreut haben.

"Unsere Geschichte beginnt im Januar 1983, als ich Barbara an der Ringier-Journalistenschule in Zofingen kennen und lieben lernte. Drei Jahre später zogen wir zusammen, und es begann die Phase, in der wir über unseren Kinderwunsch diskutierten. Man darf sagen, dass ich die treibende Kraft war; ich wollte unbedingt ein Kind mit dieser Frau. Sie war anfangs eher skeptisch.

Vielleicht willigte sie auch deshalb ein, weil ich konkrete Vorstellungen von meiner Vaterschaft hatte. Ich wollte präsent sein und nicht nur von weitem zusehen, wie unser Kind aufwuchs. Mich interessierte, wie es sich anfühlen würde, diesen kleinen Menschen im Alltag zu betreuen. Ich wollte mein Kind füttern, es trösten, mit ihm reden, lachen und spielen, es wickeln, seine ersten Schritte miterleben und mit ihm die Welt erkunden. Yannick kam am 31. Oktober 1990 zur Welt – ich war damals 37, Barbara ein Jahr jünger. Meine Erinnerungen erzähle ich den 14 Fotoalben entlang, die ich von 1990 bis 2009 angelegt habe. Auf der dritten Seite des ersten Bandes klebt ein kleines Polaroidbild, eine Krankenschwester hatte es in der Klinik aufgenommen. Darauf sieht man, wie ich Yannick kurz nach der Geburt bade; er ballt die Finger der einen Hand zu einem Fäustchen, während er die andern spreizt, ein rührender Anblick. Nach einem notfallmässigen, mit Komplikationen und brutalem Gezerre verbundenen Kaiserschnitt war er ausser sich gewesen und hatte furchtbar geschrien. Erst als er meine Stimme hörte, beruhigte er sich – ich bildete mir ein, er habe seine Öhrchen gespitzt. Während der Schwangerschaft hatte ich viel mit ihm gesprochen. Er kannte mich also schon ein wenig. Diese kleine Episode war ein schöner Start in unsere gemeinsame Zukunft.

Kampf ums Überleben

Barbara und ich waren beide berufliche Umsteiger und erst seit kurzem im Journalismus tätig. Wir wollten uns in diesem Beruf etablieren und etwas erreichen, unsere Ausgangslage war also praktisch dieselbe. Ich hatte eine Anstellung als Redaktor bei der Fachzeitung "Sport", Barbara gab ihren Job bei der Familienzeitschrift "Schweizer Woche" in jener Phase auf, um freiberuflich zu arbeiten, was sie schon lange im Sinn gehabt hatte. In den ersten beiden Monaten nach der Geburt blieben wir zu Hause und kämpften mehr oder weniger ums Überleben. Yannick war ein Schreikind und nur dann zufrieden, wenn man ihn mit sich herumtrug. Das war ein hartes Stück Arbeit, denn er wog schon 4770 Gramm, als er zur Welt kam.

Die Aufteilung der Jobs im Haushalt war problemlos, weil sie unseren persönlichen Neigungen entsprach. Bis heute gilt, dass ich zuständig bin für alles Administrative, Handwerkliche und die Wäsche, während Barbara die Einkäufe besorgt, unser Sozialleben managt und kocht. Die Putzerei mussten wir wohl oder übel gemeinsam erledigen. Wir hatten das Glück, schon früh zwei wichtige Bezugspersonen für Yannick zu finden. "Tante Margrit", die sich auf ein Inserat in der "Zürichsee-Zeitung" meldete, kam 15 Jahre lang zu uns, so dass wir jede Woche einen gemeinsamen freien Abend hatten, an dem wir Tennis spielen oder ins Kino gehen konnten. Gabi, selber Mutter von drei kleinen Kindern, betreute Yannick schon als Baby einen Tag pro Woche, was es Barbara und mir erlaubte, je 60 Prozent zu arbeiten. Ausserdem kamen Barbaras Eltern – Oma und Opa – jeden Mittwoch zu uns. Tagsüber betreuten sie ihren Enkel und bauten zu ihm eine herzliche Beziehung auf, abends setzten wir uns zum gemeinsamen Nachtessen an den Tisch.

Beruflich erlebte ich nach Yannicks Geburt ein hartes Jahr. Die kriselnde Zeitung "Sport" erlebte einen Relaunch nach dem andern. Dabei verlor ich meine Position als Ressortleiter und Mitglied der Chefredaktion. Weil ich nur noch drei Tage pro Woche arbeiten wollte, musste ich die wenig beachtete Tourismusseite betreuen. Der Vorteil war, dass ich 1991 viel Zeit mit Yannick verbringen konnte. Wir waren dauernd unterwegs. In der Badi und auf dem Dorfplatz lernte ich ein halbes Dutzend Frauen mit Kleinkindern im Alter von Yannick kennen. Alle hatten wir dasselbe Bedürfnis: Wir wollten raus aus den eigenen vier Wänden, wollten Gesellschaft für uns und unsere Kinder. Im Herbst, als das Wetter trübe und regnerisch wurde und uns die Decke auf den Kopf zu stürzen drohte, beantragten wir bei der Gemeinde die Benutzung einer leer stehenden, beheizten Baracke. Wir schafften Spielzeug heran, legten einen Teppich aus und installierten eine Kaffeemaschine. So entstand ein Treffpunkt mitten im Dorf. Unsere Kinder hatten in dieser Krabbelgruppe ihren Spass und wir Anregung und Unterhaltung, zwei Fixpunkte in der Woche, auf die sich alle freuten. Mit der Zeit unternahmen wir immer mehr zusammen: Gemeinsame Spaziergänge im nahen Wald, Ausflüge in den Zoo und jede Menge Geburtstagsfeste.

Natürlich fühlte ich mich als einziger Mann in dieser Gruppe zuweilen als Exot. Damals waren unter der Woche noch kaum Männer mit Kinderwagen zu sehen. Ich schaute mich um und entdeckte ein Inserat, in welchem eine Männergruppe in Zürich neue Mitglieder warb. Man traf sich jeweils am ersten Sonntagmorgen im Monat. Ich ging aber nur zwei, drei Mal hin – es waren keine Männer dabei, die ihre Kinder unter der Woche betreuten; vielmehr entlasteten sie ihre Partnerinnen jeden vierten Sonntagmorgen. Die Gespräche drehten sich vorwiegend um berufliche Dinge. Ich fand dort nicht, was ich suchte: Männer, die ihr Leben so einrichteten wie ich.

Früh um 6 auf die Schaukel

Wenn ich an jene Zeit zurückdenke, sind mir zwei Sequenzen noch besonders gut in Erinnerung: Bei warmem Wetter waren Yannick und ich oft schon morgens um 6 Uhr im Garten. Er war ein Frühaufsteher, wollte immer raus und liebte die Schaukel, die an einem Ast des Birnbaums befestigt war. Unter einer dreiviertel Stunde machte er es nicht, und während ich ihm Schub gab und er zufrieden vor sich hin trällerte, überlegte ich mir, was der Tag so alles bringen könnte. An besonders trüben Tagen, an denen nichts los war, spielten wir oft Lego auf dem Wohnzimmerboden. Ich war froh, dass Yannick nach dem Mittagessen eine Stunde schlief, da konnte ich ein paar Dinge für mich erledigen oder die Zeitung lesen. Nachmittags um vier schälte ich für uns einen Apfel oder ein Rüebli. Solche Regentage waren ziemlich unspektakulär, zuweilen auch furchtbar lang. Wir waren einfach zusammen, spielten miteinander, kugelten herum und freuten uns beide, wenn Barbara endlich nach Hause kam und kochte.

Als Yannick ein Jahr alt war, kündigte ich beim "Sport" und trat einen neuen Job als Wirtschaftsredaktor bei der "SonntagsZeitung" an; ich war reif für eine neue berufliche Herausforderung. Eigentlich wollte ich weiterhin 60 Prozent arbeiten, musste mich aber auf 80 Prozent einlassen – Mittwoch bis Samstag. Die Anforderung der Chefredaktion war dieselbe wie an alle andern Journalisten: Ein Artikel pro Woche, was so viel bedeutete wie 100 Prozent Arbeit für 80 Prozent Lohn, aber egal: Barbara konnte von Montag bis Donnerstag arbeiten, denn Yannick war Mittwoch/Donnerstag in der Krippe, wo es ihm unter all den Kindern nach kurzer Eingewöhnungzeit sehr gut gefiel. Ganz zu Beginn war ich als Vater allerdings gefordert. Am zweiten Tag rief die Krippenleiterin an. Yannick sei aus dem Mittagsschlaf erwacht, weine bitterlich und lasse sich nicht trösten. Ich fuhr sofort hin und nahm mein völlig nassgeschwitztes Kind in die Arme, worauf er sich wie ein Äffchen an mich klammerte. Wir fuhren nach Hause, ich zog ihm seinen kleinen Schlafanzug an, legte ihn ins Bett und mich daneben. Der Kleine schlief auf der Stelle ein. Wir erwachten erst wieder gegen Abend. Am nächsten Tag brachte ich ihn wieder in die Krippe und blieb zu Hause "stand-by". Es rief aber niemand an.

In jener Zeit hatten wir nur noch einen gemeinsamen Familientag, den Sonntag, doch damit kamen wir gut zurecht; die Vorteile überwogen. Ich schätzte es, drei Tage am Stück mit meinem Sohn verbringen zu können. Im Fotoalbum Nr. 4 gibt es eine Bilderserie aus dem Sommer 1992, die von grosser Vertrautheit zeugt. Die Fotos zeigen Yannick und mich im Rapperswiler Kinderzoo. Er, wieder mal dreckig von Kopf bis Fuss und mit verschmiertem Gesicht, brüllt mich an wie ein kleiner Löwe, ich – neben ihm kauernd – brülle wie ein grosser zurück. Dann brüllen wir beide Richtung Fotokamera, seine kleine Pfote liegt auf meinem Oberschenkel.

Kinder funktionieren nicht linear

1991 bis 1997 waren beruflich ausserordentlich intensive Jahre. Auf meiner Redaktion herrschte grosse Konkurrenz. Wir waren zu siebt im Wirtschaftsressort, und jeder hatte den Ehrgeiz, den sonntäglichen Aufmacher zu schreiben. Wir recherchierten mit unglaublicher Intensität und Rivalität. Die Tage mit Yannick empfand ich als schönen Ausgleich zum beruflichen Stress. Sie waren zwar ebenso intensiv, aber auf ganz andere Weise. Während ich als Journalist den direkten Weg von A nach B suchte, drehte ich mich mit Yannick gewissermassen im Kreis. Kinder funktionieren nicht linear. Mal gehen sie vorwärts, mal seitwärts, mal rückwärts. Oft drehen sie sich im Kreis. Mal sind sie fröhlich, im nächsten Moment fliessen die Tränen. Mal wollen sie möglichst weit weg, mal suchen sie Schutz in den Armen des Vaters. Das sind beglückende Erfahrungen.

Die Fotos aus jenen Jahren dokumentieren solche kleinen Ereignisse: Yannick beim Plantschen in der Badi, erstmals zu Hause auf dem Klo, an der Chilbi auf dem Rücken eines Esels, triumphierend mit der Dreikönigskrone auf dem Kopf, bei den ersten zaghaften Schlittschuhschritten auf dem Eisfeld, lachend mit meinem überdimensionierten Sturzhelm auf meinem Motorrad, vollgekleckert mit schwarzem Sand in den Ferien am Strand von La Palma.

Im August 1993 gingen wir mit unserem Barackengrüppli zum ersten Mal gemeinsam nach Wildhaus, wo sich das Ferienhaus unserer Gemeinde befindet. Wir kochten gemeinsam, spielten draussen mit den Kindern, unternahmen Ausflüge und führten spätabends interessante Diskussionen. Ich fühlte mich wohl und willkommen in der Gruppe, doch gab es auch schwierige Momente. Yannick riss in jenem Sommer gerne andere Kinder an den Haaren, bis sie weinten. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass die Mütter insgeheim dachten, so komme es eben heraus, wenn ein Vater das Kind betreue. Einmal packte ich Yannick nach einer solchen Episode ins Auto und fuhr mit ihm in ein Hallenbad im Rheintal, um die Gruppe vor ihm zu schützen.

Verletzende Bemerkung

Bevor wir mit unserem Grüppli zum dritten Mal innert drei Jahren nach Wildhaus fuhren, machte einer der Ehemänner einen ziemlich blöden Spruch: "Pass auf, dass Du Dich beim Pissen nicht aufs Klo setzt", sagte er zu mir. Frei übersetzt: "Pass auf, dass Du mit all den Kindern und unter all den Frauen Deine Männlichkeit nicht verlierst." Ich habe die verletzende Bemerkung kommentarlos geschluckt und unter Eifersucht abgebucht. Doch der Stachel sass tief. Kurze Zeit später spielte ich bei uns zuhause mit Yannick im Garten, als der gleichaltrige Nachbar sein Rennvelo aus dem Schuppen zog. Er trug eine unverschämt enge Rennhose und gab ein strotzendes Exemplar von Männlichkeit ab. Er sagte Hallo und machte sich auf seine Trainingsfahrt. Da hatte ich eine echte Identitätskrise und fragte mich: "Zähle ich eigentlich mit dem, was ich da mache, noch als richtiger Mann?"

Yannick kam nun ins Alter, in dem man gut mit ihm reisen konnte. Wir flohen vor den kalten Wintern am liebsten auf die Kanarischen Inseln. Er liebte es, in der Umgebung der Ferienwohnung herumzustreunen und irgendwelche Sachen zu sammeln. Ein Foto zeigt ihn im Swimmingpool mit Brille, Flossen und einer Petflasche auf dem Rücken. Er wollte unbedingt Taucher spielen. Auf einem andern Bild balanciert er auf einem kleinen Surfbrett, mit dem wir uns bei moderatem Wellengang auch ins Meer wagten.

Eine Zäsur für uns alle war sicherlich der Eintritt in den Kindergarten im August 1995. Als Paar bekamen wir ein bisschen mehr Freiraum, während sich Yannick in einer ungewohnten Umgebung behaupten musste. Am ersten Morgen begleitete ich ihn, denn der Montag war ja mein Familientag. Alle andern Kinder setzten sich auf ihre Stühlchen, die in einem Halbkreis angeordnet waren. Auf jeder Lehne klebte ein kleines Bild: ein Bär, ein Adler, ein Hund. Als Yannick, sah, dass sein Stuhl mit einem Schmetterling versehen war, zeterte er: "Ich will kein Schmetterling sein!" und setzte sich einfach in die Erwachsenenreihe neben mich. Das war furchtbar peinlich. Aber es kam noch schlimmer. Die Kindergärtnerin hatte einen Wellensittich, der seinen Schnabel dauernd an einem Salzstein wetzte. Plötzlich rief Yannick: "Mann, der Papagei nervt!" In den Augen vieler Mütter glaubte ich zu lesen: "Kein Wunder, das arme Kind, so ganz ohne Mami..."

Der Umgang mit Frustrationen

Auch das Fotoalbum Nr. 7 erinnert mich daran, dass die Erziehungsarbeit nicht immer leicht war. In unserem Garten hatte ich für Yannick und den Nachbarsbuben Dominik zwei Fussballtore aus Holz mit richtigen Netzen gebaut. Die beiden waren total fussballverrückt. Yannick liebte es, Tore zu schiessen, hasste es aber, welche zu bekommen. Wenn ich mit ihm spielte, schonte ich ihn nach Möglichkeit, aber ab und an setzte ich ihm auch einen Ball in die Maschen, weil das nun einmal zum Spiel gehört. Dann rannte er oft weinend hoch in die Wohnung und vergrub sein Gesicht in den Kissen des Sofas. Er war wütend und untröstlich. Meinen Auftrag als Vater verstand ich dahingehend, dass ich ihn zwar nicht übermässig strapazieren durfte, er aber auch lernen musste, mit Gegentoren und Frustrationen umzugehen.

Als Baby konnte ich mit Yannick mehr anfangen als Barbara. Das führte dazu, dass er sich in den ersten Jahren lieber von mir trösten liess als von ihr, wenn wir zu dritt unterwegs waren und er sich weh tat. Barbara hatte als Mutter von Anfang an losgelassen. Sie vertraute mir und ging unbelastet zur Arbeit. Sie mischte sich auch nicht ein, wenn wir zu dritt waren und er meine Nähe suchte, auch wenn ihr das zuweilen weh tat und sie sich als Rabenmutter fühlte. Wie schon den ersten Kindergartentag bestritten Yannick und ich im August 1997 auch den ersten Schultag miteinander. Nach einer Stunde bat die Lehrerin die Eltern, sich von ihren Kindern zu verabschieden. Ein Foto zeigt, wie Yannick und ich uns umarmen. Wir waren uns wirklich nahe.

Nach ungefähr zwölf Jahren veränderten sich die Dinge. Nun wurde die Beziehung zwischen Barbara und Yannick intensiver. Persönliche Dinge vertraut er seither lieber ihr an, während er mit mir die praktischen Probleme des Lebens bespricht. Während sie sich in den ersten Jahren zuweilen die Frage stellte, ob sie als Mutter genüge, wurmte es mich später machmal ein wenig, wenn er sie vor mir ins Vertrauen zog. Diese Dinge sollte man wohl aus der Sicht des Kindes betrachten: Es ist nicht übel, wenn man auswählen kann, womit man zu wem geht.

Zeit für einen Karriereschritt

Als Primarschüler besuchte Yannick einmal pro Woche den Mittagstisch, und er ging einmal nach der Schule zu einer Tagesfamilie. Oma und Opa kamen nach wie vor jeden Mittwoch zu Besuch. Unter diesen Umständen waren berufliche Karriereschritte wieder möglich. Ich übernahm zusammen mit einem Kollegen die Leitung des Wirtschaftsressorts der "SonntagsZeitung" mit einem 90-Prozent-Pensum. Das bedeutete, dass ich in den geraden Kalenderwochen Sonntag und Montag zu Hause war und in den ungeraden Sonntag, Montag und Dienstag.

Wenn ich zurückschaue, so habe ich den Eindruck, dass wir als Familie über all die Jahre hinweg in einem guten Gleichgewicht waren. Sowohl Barbara als auch ich arbeiteten intensiv und hatten Freude an unserem Beruf. Abends gab es immer viel zu bereden, wir interessierten uns gegenseitig für das, was wir erlebt hatten. Die Fotoalben erinnern an viele glückliche Begebenheiten: Yannicks erste Spiele mit den Fussballjunioren im Dorfklub, Theateraufführungen in der Schule, das erste Skischulrennen in Österreich, Ferien in Arosa, wo uns eines Abends ein Dachs über den Weg lief, Besuch im Trainingslager des FC Bayern München in Horw LU, Sonnenfinsternis 1999 im Garten, Schwimmunterricht mit Opa im Zürichsee, Ferien auf dem Bauernhof im Jura. Es gab aber auch Tiefschläge. Im Fotoalbum Nr. 11 klebt ein roter Zettel: "1999/2000 – Jahre der Fesseln. 1999: René (Augenoperationen), 2000 René (schwerer Velounfall), 2000 Opa (Herzoperation). Sonst alles ok." In jene Zeit fiel auch mein Wechsel von der "SonntagsZeitung" zur "Weltwoche", wo ich einen Vertrag unterschrieb, der es mir erlaubte, an einem Tag pro Woche zu Hause zu arbeiten. Nach acht Jahren hatten wir wieder ein gemeinsames, zweitägiges Wochenende.

Während ich vor dem Computer sitze, überlege ich, was an der Form der Vaterschaft, die ich gewählt habe, überhaupt erwähnenswert ist. Vielleicht das wichtigste: Ich war unter der Woche immer zwei Tage zu Hause und für meinen Sohn verfügbar, wenn er mich brauchte. Das war gar nicht so oft der Fall, denn seine vielen Freunde interessierten ihn meist mehr. Aber er hatte die Gewissheit, dass ich da war und für ihn Zeit hatte, wenn er zwischendurch in die Wohnung steppte und dringend etwas brauchte. Eine gute Sache war vielleicht auch die Geduld, über die ich reichlich verfüge. Einmal musste Yannick in der Schule die Familienmitglieder als Tiere zeichnen. Er malte Barbara als Tiger, mich als Elefanten und sich selber als Äffchen, das munter herumturnte. Das trifft die Verhältnisse ziemlich genau. Als drittes fällt mir ein, wie wir in all diesen Jahren unsere Tage begonnen und beendet haben. Am Morgen stand Barbara auf, weckte mich und machte Frühstück. Ich ging zu Yannick, legte mich für eine Viertelstunde neben ihn und knuddelte ihn wach. Abends mochte er es, wenn Barbara oder ich noch eine Weile an seinem Bett sassen. Das waren unspektakuläre, aber wichtige Rituale. Man war sich nahe, konnte lachen und Blödsinn machen, aber auch schwierige Dinge besprechen.

Neue Herausforderung

Der Übertritt ins Gymnasium war für Yannick mit viel Arbeit und Disziplin verbunden. Auch ich stand vor einer neuen Herausforderung. Nach der Entlassung bei der "Weltwoche" wurde mir die Leitung des Reporter-Teams beim "Tages-Anzeiger" angetragen. Ich willigte unter der Bedingung ein, dass ich 80 Prozent arbeiten und damit weiterhin einen Wochentag zu Hause sein konnte.

Yannick, nunmehr 13 Jahre alt, verliess sein Kinderzimmer im unteren Stock und richtete sich oben ein. Nun weckte er sich am Morgen selber und rannte in letzter Minute auf den Bus. Über Mittag verköstigte er sich in Imbissbuden und stellte damit alles in Frage, was wir in all den Jahren ernährungstechnisch erreicht hatten. Abends musste er oft Aufgaben machen, dazu kam das Fussballtraining. Was bleibt da als väterliche Aufgabe? Man kann da sein für den Fall, dass der Sohn einen braucht. Und man versucht, im Gespräch zu bleiben. Yannick liebte es, wenn wir ihn an seine Fussballspiele begleiteten. Zu Hause dann das Ritual: Als ehemaliger Fussballer musste ich mit ihm sämtliche Szenen durchgehen, an denen er beteiligt war. Er akzeptierte Kritik, liebte aber vor allem das Lob. Die guten Szenen wollte er mehrmals geschildert bekommen.

Die Fotoalben sind ein Indikator für die Veränderungen in jener Zeit. 11 ½ hatten wir in den 13 Jahren bis zum Start des Gymnasiums im August 2003 vollgeklebt, jedes Jahr ungefähr eines. Das 14. Album endet 2009 abrupt in der Mitte mit einer Reise, die Barbara und ich durch Europa unternahmen, während Yannick drei Wochen lang allein zu Hause blieb. Nur drei Alben in sechs Jahren, man verliert sich mit der Zeit ein bisschen aus den Augen. Als Vater vergegenwärtige ich mir bei der Niederschrift dieser Zeilen, welche Entwicklung unser Sohn durchlaufen hat. Ich sehe konzentrische Kreise vor mir, mittendrin Barbara und ich als Eltern. Als Baby war Yannick ganz nah bei uns; wir trugen ihn herum, fütterten, hegten und pflegten ihn. Schon bald begann er, sich von uns zu entfernen, um die Welt zu erkunden. Der erste Kreis ausserhalb der Wohnung begrenzte den Garten, wo er mit den Nachbarskindern spielte. Der zweite Kreis reichte bis zum autofreien Dorfplatz, wo er gefahrlos Velo fahren konnte, der nächste bis zum Dorfschulhaus. Das Gymnasium erforderte bereits die Fahrt mit dem Bus in die Stadt. Bald fuhr er mit Freunden in die Ferien. Mit 17 wagte er sich für ein Austauschjahr ans andere Ende der Welt nach Neuseeland. Vor kurzem ist Yannick, nunmehr Student, in eine WG gezogen. Unsere wichtigste Aufgabe als Eltern bestand in all den Jahren darin, ihn auf die Eroberung des nächsten Lebensraumes vorzubereiten – und ihn vertrauensvoll gehen zu lassen, wenn er so weit war. Ebenso wichtig war es, da zu sein, wenn er uns brauchte. Das ist heute noch so, beispielsweise, wenn er Barbaras Kochtöpfe vermisst, eine Frage zur Steuererklärung hat oder einfach unsere Nähe sucht.

Ein Rap fürs Vaterherz

Im Frühling 2005 war Yannick grösser als seine Mutter und trug Schuhgrösse 47. Wir fuhren noch einige Male gemeinsam in die Ferien. 2006 liess er sich taufen und konfirmieren. Als lang ersehntes Geschenk bekam er eine elektrische Gitarre. Er mochte es, wenn ich mich auf sein Bett legte und zuhörte, wie er Stücke von Guns n’ Roses, Metallica und Linkin Park spielte. Wir reisten gemeinsam in den Urlaub nach Griechenland, um die Flugangst, die ihn seit vielen Jahren quälte, zu überwinden. Nach Neuseeland kommt man nicht mit dem Auto. Am 6. Juli 2007 trat er mit seiner Ad-hoc-Band beim Fest auf, das die Schule veranstaltete, weil sein altes Primarschulhaus abgerissen werden sollte. Drei Tage vorher war ich 54 Jahre alt geworden. Plötzlich sagte mein Sohn zu meiner Überraschung ins Mikrofon, dies sei ein Song für seinen Vater, ein selbstgedichteter Rap. Ich habe den Text ins 13. Album eingeklebt und bin heute noch gerührt, wenn ich die Zeilen lese:

Daddy, du weisch gar nöd wievill du mir wert bisch,
Ich gnüsses jede tag wied mich in arm nimmsch und herzisch,
Du bisch min Rückhalt, hilfsch mer immer wänns mer scheisse gaht,
Hasch unendlich vill Geduld und meischtens au grad e lösig am Start,
(…)
Früehner häsch mi knuddlet, jetzt chochsch mer amigs feini nudle,
Regsch di amigs grausam uf, wienich mini schuelsache versuddle,
Aber nimmsches nie z'ernscht, muesch au immer sälber drüber lache,
Hauptsach isch ja, dassi ade prüefig dann e gueti note mache,
(…)
Ich finds arschgeil, dassmers immer so superguet zäme händ,
Wür mi nöd erstuune, wann öpper wür säge mer segeds beschte vatersohnduo woner kännt,
Für all das lieb ich dich für immer, let's get ready!
Happy birthday, and l love you, Daddy.

Ist es das, was das Vatersein letztlich ausmacht: Den Sohn in den Arm nehmen; da sein und helfen; solidarisch sein; Nudeln kochen; ein Auge auf die Hausaufgaben haben; Zeit und Geduld haben? Ja, vielleicht kommt es auf diese unspektakulären Dinge an.

Als Yannick am 18. Juli 2007 nach Neuseeland abreiste, kamen viele seiner Freunde an den Flughafen, um ihn zu verabschieden. Auch Opa und Oma waren da, zu denen Yannick nach wie vor eine intensive und herzliche Beziehung hatte. Es flossen viele Tränen, wir konnten uns kaum trennen. Schliesslich war es Opa, der den wichtigen Satz sagte: "Yannick, jetzt musst Du gehen." Wir haben das nie vergessen. Manchmal braucht es einen Grossvater, um die Dinge auf die Reihe zu bringen. Als er drei Jahre später unvermittelt starb, war das für Yannick ein furchtbarer Schmerz. Die beiden hatten sich sehr nahe gestanden. Opa war die Gutmütigkeit und Freundlichkeit in Person, er bastelte mit seinem Enkel, erzählte ihm Geschichten und erlaubte ihm in den Ferien, schon zum Frühstück Kuchen zu essen. Nach seinem Tod liess sich Yannick zur Erinnerung ein Tattoo mit dem Todesdatum und den Buchstaben "R. I. P." (rest in peace) in den Unterarm stechen.

Die Mausmatte als Trost

Was tut man als Vater, wenn der Sohn für ein Jahr in Invercargill am andern Ende der Welt lebt? Man leidet – und erfreut sich zugleich neuer Freiheiten. Ich kaufte für meinen Computer eine Mausmatte, auf der die Weltkarte mit Neuseeland aufgezeichnet ist. Auf dieser Mappe schrumpfte die Entfernung auf 10 Zentimeter zusammen. Im Internet las ich den wöchentlichen Newsletter des Verdon College und erfuhr auf diese Weise, dass Yannick nicht mehr Fussball, sondern Rugby spielte. Wir erlebten schliesslich von ferne, wie unser Sohn eine schwere persönliche Krise durchlebte. Natürlich konnten wir ab und an mit ihm und seiner Gastmutter telefonieren, aber letztlich mussten wir loslassen und darauf vertrauen, dass er genug stark war, um die Probleme selber zu lösen, was ihm auch gelang. Letztlich wäre er am liebsten in Neuseeland geblieben, weil ihm die Mentalität der Leute so zusagte. Er kam widerwillig nach Hause, war teilweise ungeniessbar und signalisierte seine eiserne Absicht, die Schule zu schmeissen und nach Neuseeland auszuwandern. Er weigerte sich, ein SBB-Halbtax-Abo für drei Jahre zu kaufen, denn in spätestens einem Jahr sei er eh weg. Wir überlegten uns, wer welche Interessen hatte. Yannick wollte unbedingt seine Freunde in Neuseeland wiedersehen; und wir wollten, dass er die Matura machte. Die Lösung bestand darin, dass wir ihm eine Wiedersehensreise nach Invercargill finanzierten und er sich im Gegenzug dazu verpflichtete, die Schule ordentlich zu beenden.

Wir lebten nun mit einem jungen Erwachsenen zusammen. Spätestens jetzt wird einem als Vater klar, ob man seine Chance genutzt hat. Wer nicht rechtzeitig eine Beziehung zu seinem Kind aufgebaut hat, kann dies kaum mehr nachholen. Letzthin habe ich auf der Redaktion mit einem Kollegen gesprochen, der soeben Vater geworden ist. Er nimmt sich Zeit für sein Baby und betreut es, wenn seine Frau bei der Arbeit ist. Andere Männer sagen, sie könnten mit Babys wenig anfangen, ihre Zeit als Vater komme dann, wenn das Kind erst einmal rede und sie mit ihm etwas unternehmen könnten. Ich glaube, dass der junge Redaktionskollege den besseren Weg gewählt hat.

Abgrenzung tut Not

Wenn man eine gute Beziehung aufgebaut hat, hält man besser aus, was nun zwangsläufig kommt. Der erwachsene junge Mensch wohnt zwar noch zu Hause, orientiert sich aber stark nach aussen. Er geht am Wochenende bis in den frühen Morgen aus und verpennt dafür den halben Nachmittag. Er kommt nach der Schule nach Hause, sagt Hallo und verzieht sich in sein Zimmer, wo die Unordnung immer grösser wird. Das kann irritierend sein, wenn schlechte Stimmung herrscht. Wir haben uns abgegrenzt und an der verbleibenden gemeinsamen Zeit gefreut, die sich meist auf das Nachtessen beschränkte.

Gleichwohl arbeitete Barbara in den letzten Jahren vornehmlich in ihrem Büro zu Hause. Wir wollten einfach, dass jemand da war, wenn Yannick nach Hause kam. Wir wollten auch, dass jemand da war, als er nach der Matura ein Zwischenjahr einlegte. Man muss es als Eltern aushalten, wenn einer über Wochen und Monate mehr oder weniger die Zeit totschlägt. Immerhin konnten wir ihn dazu motivieren, nach London zu gehen und das Proficiency abzulegen; so hatte das Zwischenjahr doch noch ein zählbares Ergebnis.

Eines Abends, Barbara verbrachte den Abend mit einer Freundin, lag ich auf dem Sofa und las ein Buch. Da kam Yannick ins Wohnzimmer und sagte: "Papa, kannst Du mal diesen Zettel anschauen?" Auf dem Blatt hatte er fein säuberlich eine Aufstellung seiner Lebenshaltungskosten gemacht. Ganz unten stand ein Betrag für die Miete. Er sass erwartungsvoll neben mir, und ich sagte: "Aha, Du willst wohl ausziehen?" "Ja", sagte er, "ich könnte zu Kollegen in eine WG." Ich holte tief Luft und sagte: "Ich denke, dass Du bereit bist für diesen Schritt, und ich freue mich für Dich, dass Du diese Möglichkeit hast; gleichzeitig macht mich der Gedanke, dass Du weggehst, aber auch ein bisschen traurig." "Ich bin ja nicht weg", sagte Yannick, "ich kann Euch ja jederzeit besuchen." Nun hatte ich als Vater noch eine richtig schöne Aufgabe. Wir überprüften gemeinsam, ob er seine Ausgaben realistisch eingeschätzt hatte und stellten sie den Einnahmen aus dem Job gegenüber, den er annehmen wollte. Wir klapperten ein paar Möbelgeschäfte ab, um Lampen, ein Büchergestell, einen Teppich und einen Kleiderschrank zu kaufen. Es kam der Umzugstermin. Ich mietete bei Mobility einen Transporter, wir räumten sein Zimmer aus und brachten alles in die WG.

Zu zweit im leeren "Kinderzimmer"

Barbara und ich standen an jenem Abend in Yannicks leerem "Kinderzimmer" – kahle Wände, totale Leere. Wir spürten, dass ein wichtiges Kapitel in unserem Leben zu Ende ging und waren traurig. Aber wir waren auch glücklich beim Gedanken, dass wir ein wichtiges Ziel erreicht hatten: Das Kind, das wir grossgezogen hatten, war selbständig und unabhängig geworden.

Mittlerweile studiert Yannick in Zürich. Er kommt ab und an vorbei, um bei uns zu essen. Manchmal bringt er seine Gitarre mit und übt seine Lieder, während wir lesen. Wir haben einen Deal: Er informiert uns über seine Fortschritte im Studium, wir zahlen ihm eine monatliche Unterstützung, die zusamen mit den Einkünften aus seinem 30-Prozent-Job zum Leben reicht.

Wenn ich zurückschaue, bereue ich nichts, im Gegenteil. Es war ein guter Entscheid, mir viel Zeit für meine Vaterschaft zu nehmen, aber auch mit Barbara fifty-fifty zu machen. Wir hatten beide genügend Freiraum, um uns beruflich zu entwickeln, und wir hatten Zeit für uns und unsere Familie.

Als ich im Oktober 2009 beim "Tages-Anzeiger" meine Führungsposition als Ressortleiter abgab, um wieder als gewöhnlicher Reporter zu arbeiten, machte ich eine erstaunliche Erfahrung: Es war nicht einfach, loszulassen und Macht einzubüssen; es dauerte, bis ich das Vakuum ausfüllen konnte. Mir wurde klar, dass es früher viel einfacher gewesen war, beruflich zurückzustecken, denn ich hatte dafür etwas Einmaliges bekommen: gemeinsame Zeit mit meinem Sohn."

© Barbara Lukesch