Sexueller Missbrauch – Der Fall Möriken und seine Folgen

Erschienen 2000, Beobachter-Buchverlag / 1. Kapitel: Gerichtstermin in Laufenburg

Bildbeschreibung

Dieses Buch enstand in enger Zusammenarbeit mit der Prix Courage-Preisträgerin Ruth Ramstein. Sie schildert, wie sie den ersten Verhandlungstag gegen den Sportlehrer Köbi F. erlebte.

"Kalt war es an diesem Morgen im Mai, grau und ungemütlich. Nieselregen setzte ein und rann in dünnen Schlieren über die Fensterscheiben. Auf einmal spürte ich, wie sehr ich fror. Als mich die TV-Equipe von "Schweiz aktuell" um sieben Uhr vor unserem Haus in Möriken abholte, hatte ich eine Wolljacke über den Pullover gezogen, trug dicke Schuhe und einen Schal. Wir brachen auf Richtung Laufenburg. Um neun Uhr sollte dort im Bezirksgericht die Gerichtsverhandlung "in Sachen Aargauische Staatsanwaltschaft gegen Jakob F. betreffend sexuelle Nötigung und mehrfache sexuelle Handlungen mit Kindern" beginnen.

Die Fernsehmitarbeiter, die mich während des ersten Prozesstages am 19. Mai 1999 filmisch begleiteten, fragten mich auf der Fahrt, wie ich mich fühlte. Ich war ungeheuer angespannt, weil ich nicht einschätzen konnte, wie ich reagieren würde, wenn ich Köbi F. das erstemal nach fast vier Jahren wiedersah. In den vergangenen Tagen war mir nochmals in voller Schärfe deutlich geworden, was er auch mir und meiner Familie angetan, wieviel Zeit und Energie er uns geraubt hatte. Jahrelang hatte mich diese Geschichte belastet. Trotzdem war mir von Anfang an klar gewesen, dass ich der Gerichtsverhandlung beiwohnen würde. Ich wollte Köbi F. auf der Anklagebank sehen, und er sollte auch mich, den "Rammbock", wie er mich seinerzeit voller Hass genannt hatte, zur Kenntnis nehmen. Darüber hinaus hatte mich Sabine B., eines der Opfer, gebeten, sie zu begleiten.

Angehörige der Securitas in blauen Overalls, Kampfstiefeln und Berets auf dem Kopf, ausgerüstet mit Funkgeräten, marschierten vor dem Gerichtsgebäude auf und ab. Knapp vierzig Männer und Frauen, Journalisten, die Opfer und zwei, drei weitere Personen standen in kleinen Gruppen zusammen. Ein kalter Wind blies. Plötzlich tauchte Köbi F. in Begleitung seines Anwalts auf. Der ehemalige Spitzenturner deckte sein Gesicht schützend zu und schlich regelrecht an uns Wartenden vorbei. Der ganze Pulk setzte sich in Bewegung und betrat das 400jährige Gerichtsgebäude. Auf Grund des grossen Andrangs wurden wir nicht in den stilvollen Gerichtssaal, sondern in einen nüchternen Raum im Untergeschoss dirigiert.

Grosser Zusammenhalt unter den Mädchen

Neun Zeuginnen waren vorgeladen, junge Frauen im Alter von 11 bis 28 Jahren, ehemalige Schülerinnen und Kunstturnerinnen, die ihrem Primarlehrer beziehungsweise Kunstturntrainer Köbi F. vorwarfen, sie während mehreren Jahren sexuell ausgebeutet zu haben. Fünf der Betroffenen hatten den Ausschluss der Öffentlichkeit beantragt; vier, darunter Sabine B., wollten ihre Aussage in Anwesenheit des Publikums machen. Eine junge Frau liess sich entschuldigen; sie sei krank geworden. Es beeindruckte mich zu beobachten, wie gross der Zusammenhalt unter den ehemaligen Kunstturnerinnen war, wie sehr sie einander in diesen Stunden brauchten, um sich Mut zuzusprechen. Nur eine einzige Mutter hatte es für nötig erachtet, ihre Tochter auf diesem schweren Gang zu begleiten. Ein Gefühl der Trostlosigkeit beschlich mich, das noch an Intensität gewann, als ich realisierte, dass weder ein Möriker Behördenmitglied noch eine Lehrerin oder ein Verantwortlicher des Turnvereins Satus Möriken-Wildegg anwesend waren. Wäre es nicht deren Pflicht und Schuldigkeit gewesen, fragte ich mich, sich hier zu zeigen, nachdem sie "ihren Köbi" seinerzeit in den Himmel gehoben und ihm die Mädchen schutzlos überlassen hatten?

Die neuerliche Begegnung mit dem Täter nahm die jungen Frauen sichtlich mit. Zum Teil wurden sie während zwei Stunden befragt und mussten den erlittenen Missbrauch in allen Details schildern. An welchen Körperteilen hat er Sie berührt? Gab er Ihnen Zungenküsse? War er dabei erregt? Kam es zum Geschlechtsverkehr? Haben Sie sich gewehrt? Welche Gefühle für Köbi F. empfanden Sie? F.s Anwalt setzte alles daran, die Zeuginnen in Widersprüche zu verwickeln, ihnen fehlerhafte Aussagen nachzuweisen und damit ihre Glaubwürdigkeit in Zweifel zu ziehen. Gnadenlos nahm er sie in die Zange, ritt penetrant auf Jahreszahlen und Altersangaben herum, um den Bereich der verjährten Delikte ausdehnen beziehungsweise die sexuellen Handlungen jenseits der Schutzaltersgrenze ansiedeln zu können.

Es beeindruckte mich zu sehen, wie hartnäckig sich die Frauen wehrten, als F.s Anwalt ihnen die Schuld und Verantwortung für das Geschehene anzulasten versuchte und sie damit unter Rechtfertigungszwang setzte. Sabine B., die kleine, kaum noch 25 Kilogramm schwere Person, brach wiederholt in Tränen aus und war nachher fix und fertig. Nur mit Mühe konnte sie sich überhaupt noch auf den Beinen halten. Doch F.s Anwalt verfehlte sein Ziel. Seine Argumentation überzeugte zu keinem Zeitpunkt, währenddem jedes einzelne Opfer ein hohes Mass an Glaubwürdigkeit ausstrahlte. Darüber hinaus wirkte das Auftreten des Juristen arrogant und seine Prozessstrategie auf geradezu penible Art durchschaubar. Einmal mehr bemühte er auch die absurde Theorie, dass ich als Drahtzieherin im Hintergrund agiert hätte, deren grotesken Phantasien die jungen Frauen aufgesessen seien. Auch wenn alle Opfer klarstellten, dass ich nichts mit ihrem Gang an die Medien beziehungsweise zur Polizei zu tun gehabt hätte und dass sie mich erst in jüngster Vergangenheit, wenn überhaupt, kennen gelernt hätten, kränkte mich diese Unterstellung, die mir ja von Möriken her vertraut war, immer noch. Am Abend des 19. Mai fuhr ich erschüttert nach Hause. Bohrende Kopfschmerzen plagten mich.

Der Täter als Opfer

Am zweiten Prozesstag wurde Köbi F. befragt. Er gab nur diejenigen Delikte zu, von denen er annehmen konnte, dass sie bereits verjährt waren. Alles andere leugnete er. Vor allem in seiner Tätigkeit als Lehrer, betonte er mehrfach, sei er frei von jeglicher Schuld geblieben. Im Zweifelsfall gab er vor, sich nicht erinnern zu können. Hörte man seinen Ausführungen zu, konnte der Eindruck entstehen, dass eigentlich er das arme bedauernswerte Opfer sei. Ihm sei es stets nur um liebevolle Zuwendung und zärtliche Förderung der ihm anvertrauten Schülerinnen gegangen. Einzig gegenüber seinen Kunstturnerinnen habe er sich gewisse zeitlich eng begrenzteVerfehlungen zuschulden kommen lassen. "Ich habe den Turnerinnen geschadet", stellte er fest, "das ist mir bewusst." (Doch das Gericht erachtete auch die sexuelle Ausbeutung einer seiner Primarschülerinnen für so gravierend, dass es ihn auch deshalb verurteilte.)

Auf die Frage des Staatsanwalts, ob er pädophil sei und eine Therapie benötige, antwortete Köbi F. gleichwohl mit einem lautstarken "Nein". Verächtlich lachend behauptete er, dass bei ihm keine Rückfallgefahr bestehe.

Sein Anwalt verlangte einen vollumfänglichen Freispruch für Köbi F. In seinem zweistündigen Plädoyer ging er erneut unzimperlich, ja, regelrecht respektlos mit den Opfern um, verharmloste deren Leiden und brachte damit auch den Staatsanwalt in Rage, der das Plädoyer des Kollegen sogar als teilweise geschmacklos abqualifizierte. Wie muss es erst auf die jungen Frauen gewirkt haben. Die Anwältin von Sabine B. und zwei weiteren Betroffenen legte eindrücklich dar, auf welch raffinierte Art der Trainer die Mädchen von sich abhängig gemacht und damit ihren Widerstandswillen gebrochen hatte. "In der Person des Angeklagten", konstatierte sie, "trafen sie auf eine Hochburg von Macht und Ansehen." Von den Geschädigten sei Köbi F. im Nachhinein als "Sektenchef, Machtfigur, Führertyp, Vaterfigur oder als der beste Schachspieler auf der Welt" bezeichnet worden. Sie zitierte Aussagen der jungen Frauen, die mich vor allem deshalb so traurig machten, weil sie zeigten, wie sehr die damaligen Kinder ihren eigentlichen Bedürfnissen und Empfindungen entfremdet worden waren: "Er war fast ein Gott für mich. Damals war er die wichtigste Person in meinem Leben." "Jede wollte alles für ihn machen." "Er gab uns das Gefühl, nur mit ihm überleben zu können." "Alles was er sagte, war richtig." Ich bin überzeugt, dass der Staatsanwalt in diesen Momenten realisierte, wie ausgeliefert die Mädchen dem Täter waren, und dass er nicht zuletzt unter diesem Eindruck für eine Heraufsetzung des Strafmasses von dreieinhalb auf viereinhalb Jahre Zuchthaus plädierte.

Freispruch oder Verurteilung?

Am Morgen des 21. Mai herrschte eine ungeheure Anspannung unter den Anwesenden. Wird Köbi F. freigesprochen? Wird er verurteilt? Gegenüber den mich bestürmenden Opfern hütete ich mich, irgendwelche Bedenken zu äussern. Ich selber zweifelte ja gar nicht an Köbi F.s Schuld; die Entscheidung des Gerichts aber blieb bis zu ihrer Verkündigung offen und unwägbar. Dreieinhalb Jahre Zuchthaus lautete schliesslich das Urteil, das in Abwesenheit von Köbi F. und seinem Anwalt gesprochen wurde. Auch Sabine war nicht da. Erschöpft von den Anstrengungen der letzten Tage war sie zu Hause geblieben.

Es tat mir leid, dass ausgerechnet sie, die so auf diesen Moment hingefiebert hatte, nun nicht miterleben konnte, wie sich Erleichterung und Genugtuung unter den Opfern breitmachten. Ich war beruhigt und froh, weil mir die Vorstellung, F. könnte nur eine bedingte Strafe bekommen oder sogar freigesprochen werden, im Vorfeld des Prozesses wirklich auf dem Magen gelegen war. Es wäre eine Katastrophe für Sabine und all die anderen gewesen. Einmal mehr wären sie nicht ernstgenommen worden. Aber auch mich befriedigte es, endlich schwarz auf weiss bestätigt zu bekommen, dass Köbi F. tatsächlich ein Verbrechen begangen hatte. Es tat gut, dass hier Menschen versammelt waren, die sich nicht von dem vermeintlichen Charme "des Kindernarren Köbi", wie er in Möriken gern genannt wurde, blenden liessen. Am Abend des dritten Prozesstages fühlte ich mich von einer grossen Last befreit. Daran konnte auch die Ankündigung nichts ändern, dass F.s Anwalt das Urteil vor Obergericht anfechten werde.

Kurz bevor ich mich Richtung Möriken auf den Heimweg machte, fragten mich ein paar Journalisten, ob jetzt auch für mich im Dorf wieder alles in Ordnung sei. Würden die Zweifel an meiner Person, die subtile Ablehnung, aber auch der blanke Hass, den ich in Form von Briefen an meine Adresse oder Zuschriften an Zeitungsredaktionen zu spüren bekommen hatte, tatsächlich aufhören? Ich zögerte ein paar Sekunden, sagte dann aber überzeugt: "Ja, ich denke schon." Ein so klares Urteil, befand ich, müsste doch eigentlich auch meinen letzten "Gegner" zum Umdenken bewegen. Ich sollte mich getäuscht haben."

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© Barbara Lukesch