Was dem St. Jakob zum Hexenkessel fehlt

Buchkapitel aus "Fanatics" / 2001, Verlag Schwabe & Co.

Symbolbild zum Thema Sport

Ich gehe immer noch hin, selten zwar, höchstens alle paar Wochen. Dann lösen mein Mann, mein zehnjähriger Sohn, ein paar Freunde von ihm und ich ein Familienbillet und richten uns in der ersten Reihe auf der Tribüne Ost im Zürcher Hardturmstadion ein. Umgeben von vielen Männern sowie einigen Vätern und Müttern mit ihren Kindern essen wir unsere Sandwiches, trinken einen klebrigen Punsch oder eine kalte Cola, verfolgen das Aufwärmen der beiden Mannschaften und nachher das Spiel zwischen den Grasshoppers und ihrem jeweiligen Gegner.

Mein Mann ist ein beseelter Ex-Fussballer und interessierter Fan, mein Sohn aktiver E-Junior. Und ich bin auf der Suche nach Kubi, besser gesagt einem Spieler, der Kubi auch nur annähernd das Wasser reichen könnte. Kubi, der Stürmer mit dem muskulösen Hintern und den gewaltigen Schenkeln, der während dem Einlaufen mit aufreizender Langsamkeit und sparsamsten Bewegungen nur mühsam in Gang kam, mal einem Teamkollegen freundschaftlich in den Oberarm knuffte, beiläufig und dennoch scharf aufs Tor schoss, lasziv seine Kreise drehte und als erster abdrehte, wenn es nochmals zurück in die Kabine ging. Egal, ob er mit dem Anpfiff erwachte, geniale Pässe schlug, dribbelte wie ein Gott, ein, zwei Tore erzielte, seinen Gegner mit einem gezielten Stoss in die Rippen zur Weissglut brachte oder vorzeitig, gegen seinen Willen und gestikulierend von seinem Trainer vom Platz genommen wurde - Kubilay Türkyilmaz liess mich nie kalt. Ein Besuch auf dem Hardturm war ein Erlebnis, das alle in Aufregung versetzte, nicht zuletzt jeden Schiedsrichter. Sechzig Prozent der Zuschauer, hiess es seinerzeit, kämen wegen Kubi ins Stadion. Zahllose Buben und Mädchen standen in Kubi-Leibchen mit der magischen Nummer elf am Rücken auf den Rampen.

Keiner hat die Aura von Kubi

Und heute? An einem kalten, aber sonnigen Oktober-Sonntag spielt GC gegen den FC Basel. Die Ränge sind gut gefüllt, und der Match ist für hiesige Verhältnisse recht attraktiv. Drei Zürcher und der Basler Koumantarakis werden des Feldes verwiesen, es fallen drei Tore, Basel gewinnt. An Aggressivität, Kampf und Spannung fehlt es wahrlich nicht. Trotzdem hinterlässt der Match bei mir keine Spuren; kein einziger Spieler vermag auch nur annähernd die Wirkung von Kubi zu erzielen.

Espositio? Dunkelhaarig, kräftig, gutaussehend - das schon, aber bar jeglichen Geheimnisses. Eindimensional und ohne Zwischentöne. Da nützt es auch nichts, dass er wie Kubi "Genussmensch und Autofreak" sein soll. Bieli? Bei allem Respekt vor seinem Fleiss und Eifer: Da sucht ein Primaner vergeblich das Tor. Zanni? Jung, aufgeweckt, beweglich und munter. Aber angesichts des filigranen Burschen reagiert eher das Herz einer Mutter als das des weiblichen Fussballfans. Goalie Huber? Dann schon lieber St. Gallens Jörg Stiel, der die Fans auf dem Hardturm immerhin in Rage versetzt. "Sau-Stiel" ist noch das Vornehmste, was sie ihm an den Kopf werfen. Chapuisat? Eine Kollegin von mir schwört auf seinen jugendlichen Charme, den unverwechselbaren Gang eines Watscheltiers, seine leicht verschlafen-milchbubenhafte Aura, die gepaart mit seiner Cleverness, der unbestrittenen Dribbelkunst und immer wieder überraschenden Durchsetzungskraft durchaus ihren Reiz (auf andere) haben mag. Haas? Gross und schnell. Athletisch, antriebsstark und immer topmotiviert, aber es fehlt das gewisse Etwas. Zu offen trägt der nette junge Mann sein Herz über den Rasen.

Und bei den Baslern? Massimo Ceccaroni, den altgedienten Kämpfer, umfängt das Flair des Big-Brother-Antihelden Zlatko. Trotz seinem Kultstatus bei den Basler Fans ist er ein schlagendes Beispiel für die Durchschnittlichkeit des Schweizer Fussballs: Solides Handwerk, charakterlich und vom Einsatz her vorbildlich und das alles bei kompletter Abwesenheit jeglicher Genialität. Wenn Ceccaroni spielt, wird man den Eindruck nie ganz los, er habe Bleikappen in den Spitzen seiner Schuhe.

Koumantarakis fliegt nach einem brutalen, unübersehbaren Schlag ins Gesicht seines Gegenspielers nach wenigen Minuten vom Feld. Kubi beendet kaum einen Match, ohne die eine oder andere Tätlichkeit begangen zu haben. Vom Platz gestellt wird das ausgebuffte Schiitzohr trotzdem nicht.

Keine Tief-, aber auch keine Höhepunkte

Tholot? Die flinke, kampfstarke und technisch hochbegabte Nummer zehn der Basler erregt tatsächlich mehrmals meine Aufmerksamkeit. Doch auch ihm fehlt eine entscheidende Komponente. Tholot rennt so zuverlässig, wie eine Schweizer Uhr tickt: gleichmässig, solid, perfekt. Was ihm abgeht, sind Kubis aufreizende Atempausen und seine selbstverordneten Auszeiten. Tholots Spiel entbehrt jegiicher Dramaturgie, es kennt keine Tief-, aber auch keine Höhepunkte.

Bei Kubi hingegen sind die Tiefs mitunter so niederschmetternd, dass seine Höhenflüge einen hin-reissen. Kubi weckt Emotionen, immer, egal, in welcher Lebenslage.1998 erkoren ihn die Leserinnen des "Sonntagsblick" zum "erotischsten Schweizer". Zweimal wurde er zum "Fussballer des Jahres" gewählt. Wenn er will, ist Kubi Weltklasse. Die Fussball-Schweiz ist arm ohne einen wie ihn. Wer, bitte schön, zieht heute das Publikum dermassen in seinen Bann? Ich höre den Aufschrei, ich kenne die Einwände bestens. Divenhaft sei er, wehleidig, unnahbar, wenn nicht gar arrogant, sogar den deutschen Startrainer Otto Rehhagel, der ihn nach Kaiserslautern holen wollte, soll er versetzt und sich damit insbesondere den heiligen Zorn dessen Gattin zugezogen haben. Trainingsfaul sei er, ein Simulant und Kameradenschwein, um es pointiert zu sagen. Seine Mannschaft lasse er in den entscheidenden Momenten jeweils im Stich, darüber hinaus gilt er als Schwalbenkönig, unfair wie kein anderer, kurz: ein schlechter Mensch mit Starallüren. Dazu soll der Profisportler getrunken, geraucht, zu viele Frauen aufgerissen und alle paar Monate den Luxusschlitten (Mercedes 500, Porsche, Ferrari) gewechselt haben, so ein Kindskopf. Nur unter Trainern, die ihm Extrawürste brieten und ihn hinreichend verhätschelten, war der Exzentriker überhaupt bereit, Leistung zu zeigen. Auch bei Brescia, in der italienischen Serie A, drohe er bereits wieder mit seinem vorzeitigen Abgang, es sei denn sein Trainer stelle ihn regelmässig von Beginn an auf. Das Weichei zetert schon wieder, heisst es, weil es sich nicht genug respektiert fühlt.

Gilbert Gress bot den Verschmähten wieder auf

Na und? Seine neue Liebe Roberta behauptet immerhin, dass er süss, zärtlich, sensibel und sehr, sehr fürsorglich sei. Toll aussehen tut er auch, sonst hätte ihn der verstorbene italienische Modezar Gianni Versace nicht gemeinsam mit dem Top-Model Eva Herzigova in eine seiner Kollektionen gesteckt. Und sowieso: Warum muss sich ein Stürmer rechtfertigen, der fast alle Tore für die Schweizer Nationalmannschaft schiesst? Der gegen Dänemark in der 60. Minute aufs Feld kommt, seinen schlappen Mitspielern allein mit seinem Erscheinen neuen Mut einhaucht und dann noch den 1:1-Ausgleich erzielt? Der gegen Weissrussland das 2:0 im Alleingang besorgt? Der im Rahmen der WM-Qualifikation gegen die Färöer drei Elfmeter souverän verwandelt, den dritten so cool, dass es wieder einmal Spass macht, Schweiz-Fan zu sein? Und der auch gegen Slowenien seinen Job tadellos erfüllt, beide Tore schiesst und damit gleichzieht mit der Torschützen-Legende Xam Abegglen, der im Verlauf seiner Nati-Karriere 32-mal traf. Und all das, nachdem verschiedene Nationalcoaches Kubi zum Teufel gejagt (Gress: "Kubi - c'est fini") und die hiesigen Journalisten ihn lächerlich gemacht, klein geredet, ja, letztlich totgeschrieben hatten. Aber so schnell ist Kubi, der mit 33 Jahren bereits ein beachtliches Alter für einen Stürmer hat, nicht totzukriegen. Sein Comeback in der Nati war etwas Besonderes, Aufsehenerregendes. Ausgerechnet Gilbert Gress bot den Verschmähten erneut auf, liess ihn gegen die Dänen sechzig Minuten auf der Ersatzbank schmoren, um ihn schliesslich wie einen Kampfhund aufs Feld zu hetzen.

Was, wenn nicht Gefühle, Provokationen, Sinnlichkeit, Schönheit, Adrenalin, Schmerz, Rausch und Begeisterung ist Fussball denn eigentlich? "Türkyilmaz", konstatierte einmal der Hamburger Sozialwissenschaftler und jahrelange Wahl-Zürcher Günter Amendt, "verkörpert den Fussball-Künstler." Wenn er inspiriert sei und seine ganze Meisterschaft zeige, versetze er das Publikum in einen Zustand der Fassungslosigkeit. Für einen Moment, so Amendt, vergesse man alles Hässliche und Nachteilige, das sich um den Profifussball ranke, und lasse sich ganz in den Bann seiner Spielkunst ziehen.

Dem FC Basel fehlt ein Typ wie Kubi

Mag Kubi in der Logik einiger buchhalterisch denkender Journalisten sein Talent verschleudert und nicht in vollem Masse ausgeschöpft haben. Mag er mitunter Tätlichkeiten mit Verletzungsfolgen an Gegenspielern oder gegnerischen Fans begangen haben. Soll er doch launisch, zickig und eingebildet sein und "seine Gegner im Wissen um die eigene haushohe Überlegenheit mit Verachtung strafen", wie sich der Sportmanager Guido Tognoni einst ausdrückte. Angesichts dessen, was Kubi real immer noch zu bieten hat oder zumindest in den Gedanken und Phantasien seiner ergebenen Fans zu wecken vermag, geraten seine Schwächen schnell einmal in den Hintergrund. Künstler sind nun einmal leidenschaftlich, unberechenbar und impulsiv und dürfen in der Stunde der Wahrheit auch einmal über die Stränge hauen.

Basel hat jetzt das schönste Fussballstadion der Schweiz. Doch erst wenn es dem Präsidenten des FC Basel und dem Trainer Christian Gross gelingt, einen Spieler wie Kubi zu verpflichten, einen, der die Gesetze der Vernunft ausser Kraft setzt, mit dem das Publikum in einer "Amour fou" leidet und durchs Feuer geht, erst dann wird das neue St. Jakobsstadion zum Hexenkessel, aufgeladen und vibrierend vor Spannung.

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© Barbara Lukesch