Unterwegs mit Ottmar Hitzfeld

Trainer des FC Bayern München / 31. August 2001, "Annabelle"

Symbolbild zum Thema Sport

Ottmar Hitzfeld wirkt erschöpft. Sein Gesicht ist gerötet, die Augen blicken angestrengt gegen die gleissende Sonne an. Es ist mittags um 13 Uhr, dreissig Grad im Schatten, kurz nach dem Essen, und schon ruft die nächste Pflicht: ein Interview mit der "Annabelle."

Der Startrainer, der vor noch nicht ganz sechs Wochen den grössten Erfolg seiner Karriere feierte und innert weniger Tage mit dem FC Bayern München erst deutscher Meister und dann auch noch Gewinner der Champions League wurde, hat die Aura des Triumphs längst wieder gegen den Geruch von Schweiss, Arbeit und Pflichterfüllung eingetauscht. Jetzt tut es ein Adidas-Trainingsanzug. Die eleganten dunkelblauen Daniel Hechter-Anzüge, in denen er jeweils die Spiele seines Teams verfolgt und im Aktuellen Sportstudio des ZDF erscheint, hängen vorerst noch im Schrank.

Seit fünf Tagen hält er sich mit seiner Mannschaft im Trainingslager in Rottach-Egern am Tegernsee auf. In der folgenden Woche zieht der Tross weiter nach Bremen, um sich auch dort in möglichst angenehmer Umgebung auf die kommende Saison vorzubereiten. Das geht bei einem Grossklub wie Bayern München nie ohne die entsprechende Kulisse ab. Mindestens zwei-, oft auch dreitausend Fans säumen Tag für Tag das Trainingsgelände, wollen Autogramme, besser noch Fotos, auf denen sie Seite an Seite mit Ottmar Hitzfeld zu sehen sind. Hunderte von Interviewanfragen aus der ganzen Welt landen auf dem Klubsekretariat und bedrängen den Meistermacher, der bereits wieder unter Hochdruck steht, noch bevor er den Stress und die unvorstellbare Anspannung der vergangenen Saison richtig verdauen konnte.

Keine ausreichende Regeneration

Um sich wirklich zu erholen von jenen Wochen, in denen der FC Bayern München in einer atemberaubenden Aufholjagd erst in der Nachspielzeit des letzten Bundesligaspiels den Meistertitel errang und auch den Champions League-Gewinn erst in einem nervenaufreibenden Penaltyschiessen sicherstellen konnte, wäre mehr Zeit erforderlich als ein knapper Monat. Einem Getriebenen gleich hat er in diesen vier Ferienwochen dann auch noch ständig den Aufenthaltsort gewechelt: Erst München, dann Mallorca, weiter nach Ibiza und zuletzt an die Côte d'Azure. Mit Freunden hat er Golf gespielt, mit der Familie gebadet. Er weiss, dass er längst noch nicht im Vollbesitz seiner Kräfte ist: "Ich brauche sicher noch ein Vierteljahr", sagt er, "um vollständig regenerieren zu können."

Ob er diesen Zustand tatsächlich in absehbarer Zeit erreichen wird, steht in den Sternen. Momentan ist er nämlich mit einer Mannschaft konfrontiert, die ebenso müde und erschöpft wie er aus dem Verschleisskampf der vergangenen Saison hervorgegangen ist, gleichzeitig aber durch den Zuzug von vier neuen Spielern bereits wieder unter internen Druck und eine gewaltige Anspannung geraten ist: "Die Konkurrenz unter den Spielern ist sprunghaft gestiegen", konstatiert Hitzfeld, "es setzt Positionenkämpfe ab, Hierarchien werden neu ausgelotet, und damit wird das Gruppengefüge komplett umgeschichtet." Es sei ihm in den nächsten Monaten, lächelt er sein angestrengtes schmales Lächeln, auf jeden Fall viel Ärger gewiss.

Doch Hitzfeld würde sich niemals beklagen. Er hat sich sehr bewusst für den Beruf des Fussballtrainers entschieden und kennt die Bedingungen haargenau, unter denen Erfolg auf höchstem Niveau zu haben ist. Disziplin sei erforderlich, maximaler Leistungswille, höchste Konzentration, Verantwortungsbewusstsein, Stressresistenz und die Bereitschaft, Opfer zu bringen und alles dem Erfolg unterzuordnen.

Mit Nachdruck vertritt er all jene Tugenden, die man gern als deutsche qualifiziert: Kampf, Pflicht, Einsatz. Da ist nichts von Leichtigkeit, kein Platz für Sinnenfreude oder Spontaneität. Hier herrschen Drill, Kontrolle und Zwang. Hitzfeld nickt. Ja, er glaube tatsächlich daran, dass man sogar das Glück mit dem Willen und der richtigen Einstellung erzwingen könne. Seine Werte, gibt er zu bedenken, mögen konservativ sein. Doch er sei im Glauben an sie erzogen worden und habe nicht vor, sich selber untreu zu werden.

Hitzfeld wurde noch nie entlassen

Wozu auch? Der Erfolg gibt ihm schliesslich in jeder Beziehung recht. Dutzende von Titeln, Pokalen und anderen Auszeichnungen säumen seinen beruflichen Weg. Noch nie wurde er in seiner achtzehnjährigen Trainerkarriere entlassen und bildet damit eine grosse Ausnahme. Kein Wunder, stellt er im Tonfall der grössten Selbstverständlichkeit, frei von jeglicher Arroganz fest: "Für mich ist es normal, erfolgreich zu sein." Seine Philosophie laute: "Wer nach bestem Wissen und Gewissen alles gibt, wird auch belohnt."

Hitzfeld gibt, weiss Gott, alles. Abgesehen von den kurzen Ferienwochen investiert er seine gesamte Zeit und Energie in die tägliche Arbeit mit dem Verein. Wenn es hochkommt, kann er einen, höchstens einmal zwei Tage pro Monat für private Bedürfnisse abzweigen. Seine Frau, dessen ist er sich bewusst, habe nicht viel von ihm, ja, mitunter leide sie auch unter der Stituation. Sie sei allerdings eine starke Frau, die viel Verständnis zeige und sich seit kurzem im Rahmen einer Stiftung zugunsten drogenkranker Menschen engagiere: "Ich freue mich für sie, dass sie jetzt auch eine Aufgabe gefunden hat." Sätze, die auch von jedem anderen Topmanager stammen könnten, der sich einzig und allein über seinen Beruf identifiziert, auch wenn er wie auf Knopfdruck den obligaten Satz produziert: "Meine Familie ist das wichtigste in meinem Leben."

Hitzfeld schenkt allerdings nicht nur seinen Angehörigen wenig Zeit und Aufmerksamkeit; er gönnt auch sich selber kaum etwas. Wie gern würde er wieder einmal ins Konzert gehen, wie schön wäre es, in Ruhe einmal ein gutes Buch zu lesen oder in einem Restaurant mit Freunden ausgiebig zu tafeln. All das ist Luxus für ihn, den er auf später vertagt.

Momentan ist sein ganzes Denken vom Fussball besetzt, von der nächsten Saison, der Entwicklung seiner Mannschaft, den künftigen Gegnern. Hitzfeld fällt jeden Entscheid allein; er - und sonst keiner - trägt die sportliche Verantwortung beim FC Bayern München. Nur so entwickle er die nötige Gewissenhaftigkeit, die es brauche, um Fehler auf ein Minimum zu reduzieren.

Ein einsamer, stressiger Job

Das muss eine einsame Sache sein. Er nickt. Er sei eher ein Mensch, der in sich gekehrt sei. Selten zeigt er Gefühle. Starke Gefühle wie Wut, Zorn und Euphorie schon gar nicht. Hitzfeld, schrieb einmal ein Journalist, fresse alles in sich hinein. Tatsächlich erlitt er Mitte der neunziger Jahre einen lebensgefährlichen Darmdurchbruch. Sein Verdauungssystem verweigerte ihm den Dienst. Die Frage, ob sein Körper krank geworden sei, weil er ihm zuviel Stress zugemutet hatte, verneint er vehement. Sein Professor, der ein absoluter Spezialist sei, habe ihm versichert, dass der Darmdurchbruch die alleinige Folge einer Entzündung gewesen sei, die ihm sein übermässiger Cortison-Gebrauch eingetragen habe. Diese Überdosis an Cortison liess er sich seinerzeit spritzen, um trotz schwerem Hexenschuss rechtzeitig in ein Trainingslager nach Costa Rica zu fliegen. So gesehen liess sich also alles rational erklären. Der Professor gab Entwarnung, und Hitzfeld konnte weiterstressen wie bisher.

Die Folgen dieses Lebensstils sind trotz professoraler Beschwichtigung durchaus sichtbar. So bemerkte einmal der ehemalige Schweizer Nationaltrainer Daniel Jeandupeux: "Deutlicher als seine Kollegen trägt Hitzfeld die Wundmale seines Berufs." Dieser winkt ab. Er sei nun einmal ein asketischer Typ, der schneller angegriffen aussehe als Menschen mit fülliger Konstitution. Da sei nichts, was ihm Anlass zur Sorge geben müsse. Seine Gesundheit sei ihm das höchste aller Güter: "Sollte sie gefährdet sein, würde ich meinen Job sofort an den Nagel hängen." Auch das sagen alle Spitzenmanager und arbeiten dennoch, bis sie umfallen.

Warum tut sich Ottmar Hitzfeld, der Mathematik- und Sportlehrer mit einem Universitätsabschluss, dieses Leben auf dem Pulverfass an? Weil sein Ehrgeiz riesig ist, und er Niederlagen dermassen hasst, dass er alles unternimmt, um sie zu vermeiden. Die Vorstellung, dass er, die Inkarnation des Fussball-Erfolgs, eines Tages doch einmal entlassen werden könnte, kontert er dennoch gelassen. "Das wäre zwar ein Tiefschlag für mich, andererseits aber auch die Erfüllung des berühmten Satzes, wonach jeder grosse Trainer auch einmal die Erfahrung einer Entlassung machen muss." Gut gegeben. Doch halt. Der Nachsatz geht schier im Vogelgezwitscher auf der idyllischen Hotelterrasse unter: "Ich werde ja nicht entlassen."

Gefährlich wird es, wenn er leise spricht

Hitzfeld gibt immer höflich Antwort, mitunter etwas vorfabriziert zwar, dafür aber stets gefällig und freundlich. Dieses Kommunikationsverhalten dürfte allerdings nicht ausreichen, um 22 zumeist millionenschweren Stars wie Effenberg, Kahn, Scholl und Elber den Meister zu zeigen. Wie schafft es dieser elegant wirkende, stilsichere Mann, der eher an einen Geschäftsmann als an einen Bundesligacoach erinnert, seine Supertruppe in Trab zu bringen. Woher rührt eigentlich seine unbestrittene Autorität?

Noch so gern würde man ihn einmal dabei beobachten, wie er seiner Mannschaft in der Pause eines Spiels, das nicht in seinem Sinne läuft, den Tarif durchgibt. Kann er denn tatsächlich auch laut werden? "Ich kann schon auch laut werden", räumt er etwas widerwillig ein, "dann schreie ich kurz mal los, allerdings mehr, um das Team anzuspornen und wachzurütteln." Richtig gefährlich wird es in Hitzfelds Gegenwart allerdings erst, wenn er sehr leise spricht: "Dann wissen die Spieler, was es geschlagen hat, und man kann eine Stecknadel fallen hören." Er habe erkannt, dass er sich als Trainer nur dann seine Glaubwürdigkeit bewahre, wenn er nicht zu viel rede und schon gar nicht zu viel herumschreie: "Man darf nur kleine Sachen sagen, dafür aber sehr wichtige."

Hitzfeld ist berühmt für seine Menschenkenntnis. Auch von seinen Freunden redet er gern. Er habe viele - was beweise, dass ihn der Erfolg nicht verbogen habe und er trotz Villa und Mercedes ganz der Alte geblieben sei: Zuverlässig, bescheiden und frei von jeglicher Selbstüberschätzung. Er ist sich durchaus bewusst, dass ein Mensch wie er auch viele vermeintliche Freunde, Schmarotzer und Schulterklopfer anzieht, denen gegenüber Vorsicht geboten sei. Er sei nun einmal ein prominenter Mann, dem die Menschen auch auf der Fifth Avenue in New York ein Stück Papier mit der Bitte um ein Autogramm entgegenstrecken. Das sei schon okay, Teil seines Jobs, damit könne er leben.

Ein Herz für die Kleinen

Mitunter tut es einem fast körperlich weh, diesen hageren Mann mit seinen angespannten Gesichtszügen zu erleben. Wie eng muss das Korsett aus Ansprüchen doch sein, in dem er steckt. Hier der Verein, die Spieler und Fans, da die Sponsoren und dort sein eigener massloser Ehrgeiz, seine Erfolgsbesessenheit, die er selber lieber "Pflichtbewusstsein" nennt. Kann ein Mensch, der dermassen unter Druck steht, seine weichen Gefühle überhaupt noch wahrnehmen?

Die hat er nämlich sehr wohl. Voller Liebenswürdigkeit erzählt er von den siebenjährigen Knirpsen, die ihm mit grossen staunenden Augen ihre Blöckchen unter die Nase halten und beglückt abziehen, wenn sie ein Autogramm ergattert haben. Nach dem morgendlichen Training in Rottach-Egern zeigt er denn auch am meisten Ausdauer im Umgang mit den Fans. Hier eine Unterschrift auf ein T-Shirt, da ein Foto mit einer ganzen Familie. Das ist ein Stück weit Routine und Professionalität. Aber die Geste, mit der er einem kleinen Knaben über den Kopf fährt, wirkt nicht gespielt.

Jetzt steht die neue Saison ins Haus, und nur sie zählt. Sechs Titel, angefangen beim Liga-Pokal, über den Super-Pokal, den Welt-Pokal, den deutschen Pokal, die deutsche Meisterschaft bis hin zur Champions League, wären zu holen. Hitzfeld will am liebsten das viertemal in Serie deutscher Meister werden, den Champions League-Titel verteidigen und damit Fussballgeschichte schreiben.

Sein Blick ist nach vorn gerichtet, seine Stimme jetzt markig, das Sprechtempo gesteigert. Die Erinnerung an die Erfolge von gestern scheint bereits verblasst. Hitzfeld jagt weiter, auf dem Weg zum alles entscheidenden Tor, jenem Moment des Triumphs, in dem er wieder die rechte Faust kurz in den Himmel reckt und die Zähne bleckt: Sekunden des Glücks.

Ottmar Hitzfeld ist der Sohn eines Zahnarztes und das Jüngste von fünf Geschwistern. Der 52jährige stammt zwar aus dem deutschen Städtchen Lörrach, fühlt sich aber dank langjährigen Aufenthalten in Lugano, Luzern, Zug, Aarau und Zürich stark mit der Schweiz verbunden, wo er grosse Erfolge sowohl als Fussballspieler wie auch Trainer feiern konnte.
Anfangs der siebziger Jahre kam der agile und schussstarke Stürmer zum FC Basel, mit dem der Grenzgänger zweimal Meister und einmal Cupsieger wurde. 1973 war er erfolgreichster Schweizer Torschütze. Nach einem dreijährigen Abstecher in die Bundesliga (VfB Stuttgart) kehrte er 1978 in die Schweiz zurück und spielte beim FC Lugano und anschliessend beim FC Luzern.
Im Alter von 34 Jahren begann er beim SC Zug seine Trainerkarriere und führte den Nationalliga B-Verein prompt in die höchste Spielklasse. Genauso erfolgreich wirkte er beim Aufsteiger FC Aarau, dem er auf Anhieb die Vizemeisterschaft und den Cupsieg bescherte. Mit den Zürcher Grasshoppers wurde er zweimal Meister und zweimal Pokalsieger. 1991 wagte er den Wechsel in die Bundesliga und wurde Trainer beim Traditionsverein Borussia Dortmund. Nach der Vizemeisterschaft 1992 hatte er eine Durststrecke zu überwinden, ehe er die Dortmunder 1995 zum Deutschen Meister formte. 1997 triumphierte er endgültig und errang mit seinem Team die Champions League. Während dem darauffolgenden Jahr übte er die Funktion eines Sportdirektors aus und erholte sich von den Strapazen der Vorjahre.
1998 war er bereit für eine neue Herausforderung: Hitzfeld wurde Trainer beim FC Bayern München, mit dem er seither dreimal Meister und am 23. Mai dieses Jahres auch Champions League-Gewinner geworden ist.
In seiner spärlichen Freizeit spielt der ausgebildete Mathematik- und Sportlehrer mit Schweizer Freunden Golf oder jasst mit ihnen. Er ist seit 25 Jahren mit seiner Frau Beatrix verheiratet. Ihr Sohn Matthias hat Betriebswirtschaft studiert.

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© Barbara Lukesch