Edith Hunkeler will in Athen Gold gewinnen

Paralympics / 12. Mai 2004, "Annabelle"

Symbolbild zum Thema Sport

Egal, was sie wollte, sie bekam es. Edith Hunkeler, die Bauerntochter, war ein wildes Kind mit starkem Willen, eine Herausforderung für ihre Eltern. Ständig auf Achse, getrieben von einer unbändigen Neugier, machte das Mädchen Tag für Tag den Hof im luzernischen Altishofen unsicher. Zerlegte jedes Gerät in seine Einzelteile, streunte durch die Ställe, molk Kühe und verlangte ungehalten nach Anregung und frischen Ideen, wenn ihm einmal langweilig war. Auch als Teenager legte sie den Turbogang ein, stürmte vorwärts, voller Erlebnisdrang.

Dann kam der 22. Februar 1994. Edith Hunkeler hatte in Zofingen einen Verkehrsunfall. Ein Autofahrer rammte die linke Seite ihres Peugeots, sie erlittschwere Brüche, das Rückenmarkwurde verletzt. Monatelang war sie im Spital ans Bett gefesselt und musste letztlich einsehen, dass ihr Wille zum ersten Mal in ihrem Leben nichts bewirkte. Dass sie allen Anstrengungen zum Trotz nie wieder würde gehen können. Tiefe Trauer überwältigte sie. «So etwas möchte ich nicht noch mal erleben», sagt sie mit Nachdruck, und ihre Hand zieht eine scharfe Grenzlinie.

Seither sind genau zehn Jahre vergangen. Das ist eine lange Zeit, in der sie sich eine neue Existenz aufgebaut hat. Edith Hunkeler ist zu einer der weltbesten Rollstuhlsportlerinnen auf den Mittel- und Langstrecken geworden. Sie hat Europa- und Weltmeisterschaften gewonnen, triumphierte am Berlin-, am Hamburg- und am Boston-Marathon und bereitet sich jetzt auf die Paralympics in Athen im September vor. Ihre Energie ist bemerkenswert.

Wir treffen Edith Hunkeler in Egolzwil im Atelier der Designerin Lisbeth Egli, die für sie Kleider entwirft und gerade an einem Deuxpièces für einen festlichen Anlass arbeitet. Obwohl Edith Hunkeler einen anstrengenden Tag hinter sich hat, zweimal trainiert und daheim ihre Korrespondenz erledigt hat, ist sie präsent und hellwach.


Edith Hunkeler, warum haben Sie 1996, zwei Jahre nach Ihrem Unfall, mit dem Sport begonnen?

Ich bin ein absoluter Naturmensch und wollte einfach wieder raus aus dem Haus. Zudem hatte ich Kraft und überschüssige Energie. Die musste ich einfach loswerden. So habe ich, just for Fun, mit dem Rollstuhlsport begonnen. Aber ich habe schnell gemerkt, dass ich über ein grosses Potenzial verfüge und Rennen gewinnen kann. Mein Ehrgeiz war geweckt, und ich habe begonnen, mich für die Paralympics in Sydney im Jahr 2000 vorzubereiten.

Kurz vorher allerdings stürzten Sie schwer und mussten Ihre Pläne begraben.

Das war eine riesige Enttäuschung für mich, weil ich mich wahnsinnig auf diese Reise und die Wettkämpfe in Australien gefreut hatte. Damals habe ich viele Tränen vergossen. Trotzdem habe ich weitergemacht, der Sport war einfach zu wichtig für mich geworden. Ich verdanke ihm unglaublich intensive Momente des Glücks.

Auch Gelegenheiten, sich zu beweisen?

(Ungehalten) Das fragen mich viele Leute. Dazu kann ich nur sagen: Nein, absolut nicht. Ich treibe Sport, weil es mir gut tut. Ich muss niemandem etwas beweisen.


Der Behindertensport hat lange Zeit ein Mauerblümchendasein gefristet und wurde von vielen kaum wahr-, geschweige denn ernst genommen. Dank Rollstuhlsportstars wie Edith Hunkeler hat er inzwischen eine Aufwertung erfahren und geniesst deutlich mehr Beachtung. Die Luzernerin ist zum Liebling des Publikums und der Medien geworden, die sie mit ihrer Schönheit und Dynamik, ihrem Witz und Erfolg für sich eingenommen hat. Sie ist auch ein Glücksfall für andere Behinderte, denen sie Mut macht und vorlebt, dass man selbst einem schweren Schicksal trotzen kann. Dazu gehört für sie, über ihren Alltag als gelähmte Frau zu sprechen. Nüchtern, präzise und sehr ehrlich.


Wie nehmen Sie Ihre Beine wahr?

Ich sehe sie, berühre sie, spüre sie aber nicht. Genauso gut könnte ich die Beine einer anderen Person anfassen. Nach dem Unfall gab es eine Zeit, in der ich meine gelähmten Beine nicht mehr gemocht habe, ja, sie vielleicht sogar hergegeben hätte: Wozu waren sie denn noch zu gebrauchen? Heute gehören sie wieder zu mir. Das hat auch etwas mit Ästhetik zu tun.

Was können Sie trotz der Lähmung für Ihre Beine tun?

Ich gehe regelmässig in die Physiotherapie. Es ist wichtig, die Beine zu dehnen, damit es keine Verkürzung der Sehnen gibt.

Immer wieder erscheinen in den Medien Schlagzeilen wie «Hoffnung für Gelähmte». Was lösen solche Berichte in Ihnen aus?

Ich lese sie gar nicht. Ich lebe nun seit zehn Jahren im Rollstuhl, und durch das ewige Sitzen entstehen Deformierungen an Rücken, Gelenken und Sehnen, die nicht mehr rückgängig zu machen sind. Für Leute wie mich ist der Zug abgefahren. Zudem wäre ich auch nicht bereit, bei einer neuen Methode oder Operation als Erste herzuhalten. Ich müsste vorher wissen, mit welchem Resultat ich rechnen kann.


Edith Hunkeler erinnert sich auch Jahre nach ihrem Unfall noch genau daran, wie es war, laufen zu können. Manchmal stellt sie sich vor, wieder einmal zu rennen und nachher einen richtigen Muskelkater in den Beinen zu spüren oder ein Brennen in den Füssen. Im Herbst würde sie gern noch mal durch den Wald gehen und die Blätter wegtschutten. Manchmal träumt sie auch davon, am Meer zu spazieren und den Sand an den Füssen zu spüren. «Das sind Sehnsüchte», sagt sie, «die wehtun.»

Sie stellt sich ihnen. In einem Interview liess sie sich sogar über ihre Sexualität ausfragen. Und erklärte dem Journalisten geduldig, dass sie mit ihrem Freund bei allen Einschränkungen ein erfülltes Sexualleben geniesse. Sie sagte: «Was mein Unterkörper nicht mehr vermag, macht mein sensibler Oberkörper mehr als wett.»


Empfanden Sie es nicht als indiskret, so direkt auf Ihr Sexualleben angesprochen zu werden?

Die Fragen waren tatsächlich direkt, und ich weiss, dass man sie einem Menschen, der laufen kann, nicht stellen würde. Aber die Leute sind nun mal neugierig. Sie wissen vieles nicht über den Alltag von Behinderten. Sie haben zum Beispiel keine Ahnung, dass auch eine Frau im Rollstuhl Kinder bekommen kann. Da muss noch viel Aufklärungsarbeit geleistet werden, und daran beteilige ich mich gern.

Sind Sie schon einmal diskriminiert worden?

Ich bin bekannt und geniesse daher einen Extrabonus, den ich eigentlich gar nicht will. Das ist ja die Hunkeler, sagen sich die Leute und sind dann lieber zu freundlich als ruppig zu mir. So gesehen bin ich zu hundert Prozent gesellschaftlich integriert.


Das schien sich zu bestätigen, als das Schweizer Fernsehen sie vor zweieinhalb Jahren fragte, ob sie Lust hätte, gemeinsam mit Beni Thurnheer die Miss-Schweiz-Wahlen zu moderieren. Sie flippte fast aus vor Freude. Auf einmal interessierten sich alle für sie; sie gab Dutzende von Interviews, und zum ersten Mal seit langer Zeit stand sie «als Edith», so empfand sie es, und nicht als die Rollstuhlsportlerin im Zentrum der Aufmerksamkeit. Und die Reaktionen auf ihren Auftritt waren so positiv, dass sie mit der Idee zu liebäugeln begann, vielleicht auch künftig für das Fernsehen arbeiten zu können.

Seither hat sich allerdings nichts getan, und sie hat ihre Fernsehträume fürs erste abgeschrieben. Der Rollstuhl sei halt doch noch ein Handicap, konstatiert sie nüchtern, die Zeit womöglich doch noch nicht reif für eine Moderatorin im Rollstuhl. «Was solls», sagt sie mit einer wegwerfenden Handbewegung, «deswegen geht die Welt nicht unter.»

Edith Hunkeler kämpft um ihre Unabhängigkeit. Auf allen Ebenen. Ihren Haushalt führt sie - natürlich - eigenständig, sie trainiert allein, und ihre Sportkarriere managt sie ohne fremde Hilfe. Sie geht auf grosse Flugreisen und war schon mehrmals in den USA, um von den guten Trainingsbedingungen dort zu profitieren. Beim ersten Mal hat sie sich ertappt bei der Frage «Spinnst du eigentlich, so ganz allein in einem fremden Land?». Um so mehr hat sie sich über die Leute gefreut, die ihr zu ihrem Mut gratulierten und sie bestätigten.

Hilfe im Alltag nimmt sie überhaupt nur an von Menschen, denen sie vertraut. «Stellen Sie sich vor, Sie fühlen sich ausgeliefert, hilflos. Und dann hilft Ihnen jemand! Das ist eine sehr intime Situation.» Die sie nicht mit jedem teilen möchte. Ist niemand zur Stelle, versucht sie, Hindernisse aus eigener Kraft zu überwinden. Weiss sie, was im Verlauf eines Tags auf sie zukommt, rüstet sie sich mit einem Gelkissen aus, das sie sich ums Gesäss bindet. Damit kann sie Schwellen und kleinere Treppen überwinden, ohne sich das Steissbein zu verletzen. «Ich habe gern selbst den Durchblick», sagt sie, und ihre blauen Augen blitzen herausfordernd. Das Wichtigste in ihrem Alltag ist ihr Auto: «Ohne Auto», lacht sie schallend, «bin ich wirklich behindert.»

Nun bittet Lisbeth Egli zur Anprobe. Das mitternachtsblaue Samttop, das mit funkelnden Swarovsky-Kristallen besetzt ist, benötigt noch ein, zwei Änderungen, bis es perfekt sitzt. Doch bereits jetzt ist ersichtlich, wie gut es Edith Hunkeler steht: Sie sieht bezaubernd aus. Mit elegantem Schwung fährt sie sich durchs lange Haar, lacht, kokettiert, flirtet.

Die Anprobe ist beendet. Wir haben uns von Lisbeth Egli verabschiedet, vor uns liegen dreissig steile Stufen der Eingangstreppe. Edith Hunkeler packt das Geländer, ein wenig trotzig beinah, kippt ihren Rollstuhl nach hinten und wuchtet ihn nun Stufe für Stufe, unterstützt allein von Armen und Händen, hinunter. Das brutal laute, fast schmerzhafte Aufprallen ihres Rollstuhls auf jeder einzelnen Treppenstufe nimmt sie mit nahezu ostentativer Gelassenheit hin. Die letzten Stufen donnert sie immer schneller und ungeduldiger hinunter. In horrendem Tempo rollt sie gleich zu ihrem Auto, sitzt im Nu hinter dem Steuer, winkt noch kurz und - stiebt davon.


Edith Hunkeler wird am 30. Juli 1972 im luzernischen Altishofen geboren. Ihre Eltern betreiben einen Bauernhof. Nach dem Besuch der Sekundarschule lässt sie sich zur kaufmännischen Angestellten ausbilden und arbeitet in verschiedenen Branchen. Am 22. Februar 1994 wird sie bei einem Autounfall in Zofingen schwer verletzt. Seither ist sie gelähmt.
Zwei Jahre später beginnt sie, intensiv Rollstuhlsport zu treiben. 26 Schweizer Meistertitel hat sie bisher gewonnen - in den Mittel- und Lang-streckendisziplinen 400 Meter, 800 Meter, 1500 Meter, 5000 Meter und Marathon. 2001 wurde sie Europameisterin über 800 und 1500 Meter und 2002 Weltmeisterin über 1500 Meter.
In ihrer Freizeit hört sie Musik oder setzt mit ihren Nichten Puzzles zusammen. Sie wohnt in Egolzwil; ihr Freund Mark Wolf, langjähriger Unihockeyprofi in Schweden und Sportlehrer, lebt in Chur.

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© Barbara Lukesch