Eine Frau mit Pfiff

Fussball-Schiedsrichterin Nicole Petignat / 9. Februar 2005, "Annabelle"

Symbolbild zum Thema Sport

Hudelwetter herrscht. Es regnet Bindfäden, der Wind lässt die Augen tränen und die klamme Kälte dringt in alle Poren. Auf dem Hardturm, dem Stadion des Zürcher Grasshopper-Klubs, ist es an diesem Sonntagnachmittag anfangs November um 16 Uhr bereits so dunkel, dass das Flutlicht eingeschaltet werden muss. Jeder normale Mensch sitzt jetzt in der warmen Stube, trinkt einen heissen Kaffee, liest ein schönes Buch und lässt es sich wohl sein.

Die Schiedsrichterin Nicole Petignat dagegen steht in kurzen schwarzen Hosen und einem dünnen gelben Trikot am Anspielpunkt des Spielfeldes, springt wiederholt hoch, reibt sich die Hände, nimmt Blickkontakt mit ihren beiden Assistenten an den Aussenlinien auf und pfeift den Super League-Match GC gegen St.Gallen an. Von den Rängen, auf denen sich der Ostschweizer Anhang versammelt hat, tönt es laut und vernehmlich: "Nicole an den Herd." Ein Zuschauer auf der Haupttribüne stöhnt: "Oh, nein, nicht schon wieder die Blondine!"

Da spricht der Stammtisch, der überzeugt davon ist, dass Petignat genauso wenig von Fussball versteht wie die Frauen vom Autofahren. Als sie sich eine halbe Stunde vor Spielbeginn hochmotiviert auf dem Rasen eingelaufen, Haken geschlagen und ein paar kurze Sprints hingelegt hat, mokiert sich ein älterer Herr: "Die soll doch Juniorenspiele pfeifen. Dagegen hätte ich ja überhaupt nichts."

Besonders beliebt beim knapp 8000köpfigen, mehrheitlich männlichen Publikum ist die Schiedsrichterin, die hierzulande als einzige Frau in der obersten Spielklasse tätig ist, wahrlich nicht. Pfeift sie einen Freistoss gegen die Zürcher, grölt die Hardturmfront. Zeigt sie einem St.Galler Spieler die gelbe Karte, toben die auswärtigen Anhänger. Fans finden jeden Schiedsrichterentscheid, der sich gegen ihren Klub richtet, falsch. Dass jetzt aber eine Frau bestimmt, wo es lang geht, passt den meisten erst recht nicht in den Kram.

Fussball ist Männersache. Spieler, Trainer, Präsidenten, normalerweise Schieds- und Linienrichter, deren Inspizienten, Journalisten und Fernsehschaffende - alles Männer. Frauen servieren höchstens im Klubcafé selbstgebackenen Schokoladekuchen oder stehen in rosa Daunenjacken an den Tribünenaufgängen als Platzanweiserinnen. Kein Wunder, hat Petignat Mühe, als sie ihren roten Mini Cooper zwei Stunden vor Spielbeginn auf dem Parkfeld, das für Offizielle und Klubangehörige reserviert ist, abstellen will. Wer sie denn sei, fragt der Wächter. "Die Schiedsrichterin", lacht sie ihn an. Mit einem freundlichen Nicken öffnet er eilig die Barriere und murmelt: "Ah, die Frau des Schiedsrichters."


Warum, Frau Petignat, tun Sie sich diesen Spiessrutenlauf an?

Nicole Petignat: Fussball ist mein Leben. Ich liebe diesen Sport leidenschaftlich. Ich habe schon in der Schule als eines von zwei Mädchen in einer Mannschaft mitgespielt, und wenn es im Jura, wo ich aufgewachsen bin, ein Frauenteam gegeben hätte, wäre ich aktive Fussballerin und nicht Schiedsrichterin geworden. Es war Zufall, dass ich mich für die Schiedsrichterei entschieden habe.

Inzwischen sind Sie seit 21 Jahren dabei, haben sich als einzige Frau international durchgesetzt und belegen auf der Rangliste der weltbesten Schiedsrichter Platz 16. Trotzdem müssen Sie es sich gefallen lassen, dass die Fans Sie "an den Herd" zurückwünschen und die Journalisten Sie zur "pfeifenden Blondine" beziehungsweise "steten Attraktion auf dem Spielfeld" stempeln.

Petignat (lacht): Das ist doch egal. Der Schiedsrichter ist sowieso immer der "Depp" und kann nur verlieren. Dass ich als Frau doppelt unter Beschuss bin, macht mir längst nichts mehr aus. Stattdessen geniesse ich den Kitzel, die Spannung und die Aufregung vor und während einem Match. Es ist ein grossartiges Gefühl, inmitten von 22 Spielern zu stehen, die voller Energie, Motivation und Konzentration sind und mich mit ihren Emotionen anstecken. Wirklich leiden würde ich, wenn mein Leben langweilig wäre.


Das ist es an diesem Sonntagnachmittag mit Sicherheit nicht. Das Spiel GC gegen St.Gallen ist von höchster Brisanz, treten doch zwei abstiegsgefährdete Mannschaften gegeneinander an, die um jeden einzelnen Punkt kämpfen müssen. Petignat ist sich bewusst, dass ihr eine schwierige Partie bevorsteht, in der sie von der ersten Minute an hochkonzentriert auftreten muss. Entsprechend gross ist ihr Lampenfieber, als sie sich kurz vor Spielbeginn nochmals in ihre Kabine zurückzieht, um sich gedanklich zu sammeln.

Als sie kurz vor 16 Uhr hoch erhobenen Hauptes an der Spitze beider Teams auf das Feld marschiert, donnert aus den Stadion-Lautsprechern die pathetische Strauss-Symphonie "Zarathustra" und verwandelt den Hardturm vorübergehend in eine römische Arena: Einzug der Gladiatoren. Wenn das nicht unter die Haut geht! Vas-y, sagt sich die gebürtige Jurassierin in diesem Moment, in dem sie in das Spielgeschehen eintaucht, unberührbar von allen Widrigkeiten wie Nässe und Kälte.


Macht es Ihnen Spass, 22 Männer nach Ihrer Pfeife tanzen zu lassen?

Petignat: Es macht tatsächlich Spass, ein Spiel im Griff zu haben, einen reibungslosen Ablauf zu ermöglichen, so zu pfeifen, dass möglichst wenig Verletzungen passieren. Es wäre aber fatal, wenn ich die Macht, die jeder Schiedsrichter hat, ausspielen würde. Ich muss korrekt pfeifen, das ist alles, sonst werde ich sofort unglaubwürdig, und die Spieler weigern sich, meine Entscheide zu befolgen. Das habe ich, Gott sei Dank, nur einmal erlebt. Vor vielen Jahren ist mir ein Spiel entglitten, und ich habe, verzweifelt wie ich war, eine gelbe Karte nach der anderen verteilt, natürlich erfolglos in der verfahrenen Situation. Am liebsten hätte ich mich damals in Luft aufgelöst.

Sie leiten rund 50 Spiele pro Jahr und widmen ihre Freizeit damit vollumfänglich dem Fussball. Pro Super League-Match, von denen Sie jährlich rund zehn pfeifen, verdienen Sie 1000 Franken. Das grosse Geld machen Sie also nicht.

Petignat: Reich wird man als Schiedsrichterin nicht. Dafür bin ich fit und habe dank der zwölf bis fünfzehn Kilometer, die ich pro Match zurücklege, eine gute Kondition. Ausserdem liegt es mir im Blut, Streitigkeiten zu schlichten. Auch wenn ich auf der Strasse eine Schlägerei sehe, muss ich mich einmischen und die Streithähne stoppen. Das habe ich von meinem Vater geerbt, der bei uns im Dorf bekannt dafür war, dass er an den öffentlichen Festen für die Sicherheit sorgte.


Nicole Petignat ist ein fröhlicher Mensch, der seine Umgebung mit seinem quirligen Temperament schnell für sich einnimmt. Im Nu knüpft sie Kontakte und legt einem Gegenüber nach fünf Minuten erstmals die Hand auf den Unterarm, unkompliziert, direkt und vertrauensvoll. Wozu Zweifel hegen, grübeln und hadern, scheint sie sich zu sagen, und sich damit das Leben unnötig schwermachen. Warum soll sie in Rage geraten, wenn ein blöder Macho ihr lauthals sexistische Sprüche auf's Spielfeld ruft? Als sie das kürzlich erlebte, warf sie dem Typ auf dem Weg in die Kabine eine Kusshand zu, lachte und rief: "Du bist der grösste Schatz." Andernorts hat sie einer besondes angriffigen Bande im Stadionrestaurant eine Runde Bier spendiert und aus Gegnern im Handumdrehen "meine besten Freunde" gemacht.

Nicole Petignat fährt gut mit ihrer burschikosen, ja, kumpelhaften Art. Ihre zierliche Erscheinung (1,65 Meter, 54 Kilogramm und Schuhgrösse 37,5) und die zwei übereinander hängenden Pferdeschwänze, mit denen sie ihre blonde Lockenpracht für die Dauer eines Spiels bändigt, machen aus der immerhin 38jährigen Frau ein munteres Sportsmädel, mit dem sich die berühmten Pferde stehlen lassen. Wäre sie eine Mimose, hätte sie den Sprung an die Weltspitze der Schiedsrichter niemals geschafft. Dazu passt das in ihren Augen schönste Kompliment, das sie je bekommen hat: "Der beste Mann auf dem Platz war eine Frau."

Trotzdem gibt es auch für sie einen Punkt, an dem sie keinen Spass mehr versteht. Wenn die Fans auf den Rängen "Nicole - Nutte" skandieren, ist ein solcher Punkt ereicht. Sauer reagiert sie auch, wenn man ihr unterstellt, sie habe ihre Karriere als Unparteiische nur machen können, weil sie einst mit dem St.Galler Nationalliga A-Spieler Simo Mouidi verheiratet war und seit vier Jahren mit dem weltweit anerkannten Schiedsrichter Urs Meier zusammenlebt: "Ich habe meinen Weg aus eigener Kraft gemacht", konstatiert sie für einmal ungnädig, "und nicht, weil mich meine Lebenspartner protegiert haben."

An diesem Nachmittag kann sie ihre Qualitäten unter Beweis stellen. Dezidiert erteilt sie ihre Anweisungen. Reklamiert ein Spieler, weist sie ihn mit unmissverständlichen Gesten in die Schranken. Als GC-Spieler Richard Nunez im gegnerischen Strafraum zu Boden geht, fordern die Zürcher Fans ungehalten Penalty. Unbeeindruckt entscheidet Petignat auf Torabstoss. Wenn sie einen Freistoss gibt, ist es ihr ein besonderes Anliegen, dass die gegnerischen Spieler den vorgeschriebenen Abstand einhalten, und so misst sie die neun Meter fünfzehn jedesmal selber mit grossen raumgreifenden Schritten ab.

In der zweiten Halbzeit wird das Spiel hektischer und zwingt sie, vier gelbe und eine rote Karte zu verteilen. Das ist an diesem kalten Nachmittag auch deshalb eine besondere Herausforderung, weil sie mit ihren klammen Fingern kaum die Karten und den Bleistift aus ihrem Trikottäschchen ziehen kann. Als zwei Spieler aneinandergeraten, wirft sie sich dazwischen und trennt sie mit Vehemenz. Ihr Laufpensum ist gewaltig, weil sich das Spiel blitzschnell von einer Platzhälfte auf die andere verlagert. Als sie den Match kurz vor 18 Uhr abpfeift, steht es 0:0. Sie atmet befreit auf und schnappt sich den Ball. Zahlreiche Spieler verabschieden sich bei ihr mit einem respektvollen Handschlag.

Als sie eine Stunde später frisch geduscht, mit immer noch leicht geröteten Wangen, aus der Kabine kommt, strahlt sie über das ganze Gesicht: "Es war ein angenehmer Match für mich, der trotz der vielen Verwarnungen und dem Platzverweis friedlich verlaufen ist." Anders als das Publikum hätten sich die Spieler längst an sie gewöhnt und akzeptierten sie. Klar, sei es auch schon passiert, dass ihr mal einer absichtlich den Ellbogen in die Rippe gerammt habe, aber in solchen Momenten wisse sie sich zu wehren und gebe Contra: "Noch einmal, und du siehst rot." Wie sie das erzählt, lässt ihr Blick erahnen, dass sie auch sehr böse werden kann.

Als die "Aargauer Zeitung" sie kürzlich qualifizierte, attestierte man ihr denn auch eine "resolute, unbeirrbare Spielleitung." Kritisiert wurde, dass sie "in strittigen Szenen manchmal zu hastig und aufgeregt wirkt". Sie nickt: "Ich reagiere tatsächlich manchmal zu emotional und nervös, statt dass ich die Spieler beruhigen würde."

An diesem Sonntagnachmittag ist der Inspizient jedoch mit ihrer Leistung zufrieden und gibt ihr gute Noten. Werner Müller, der Chef der Schweizer Spitzenschiedsrichter, brachte seine Wertschätzung kürzlich auf ganz besondere Art zum Ausdruck. Er vertraute ihr den Cup-Achtelfinal zwischen dem FC Thun und dem FC Basel am Samstag, den 20. November, an, weil sie, so Müller, "über ein grosses Engagement, einen extremen Willen und ein beeindruckendes Durchsetzungsvermögen verfügt." Petignat freute sich wie ein Kind: "Das war das heisseste Spiel der Runde, das alle Schiris pfeifen wollten."

Heiss waren in letzter Zeit vor allem die Ausschreitungen randalierender Fans, hat doch die Gewalt in den Fussballstadien innert Kürze auf erschreckende Art zugenommen. Immer häufiger geraten auch die Schiedsrichter ins Visier ausrastender Zuschauer, werden tätlich angegriffen und verletzt.


Hatten Sie noch nie Angst, Frau Petignat?

Petignat: Ich selber war noch nie in einer Situation, in der ich Angst haben musste. Angst habe ich aber empfunden, als Urs Meier, mein Lebenspartner, nach der Europameisterschaft in Portugal von englischen Reportern und Fans bis in unser Haus in Watt und in sein Haushaltwarengeschäft in Würenlos verfolgt und dabei massiv bedroht wurde. Mindestens fünfzigmal war ich selber am Telefon und habe mir schlimmste Beschimpfungen und Drohungen anhören müssen. Mon Dieu, das war nicht mehr lustig.

Was werden Sie tun, wenn die Gewalt in unseren Stadien eskaliert?

Petignat: Wenn es mir zu heftig wird, höre ich mit der Schiedsrichterei sofort auf. Ich bin dabei, in unserem renovierten Bauernhaus in Watt meine eigene Praxis als Sportmasseurin aufzubauen. Das heisst, ich bin unabhängig und werde das tun, was gut für mich ist.


Ein Leben abseits der Fussballplätze? Das kann man sich schlicht nicht vorstellen bei ihr. Schon jetzt leidet Nicole Petignat denn auch fast mehr als Urs Meier, der Ende dieses Jahres altersbedingt seinen letzten grossen Match pfeifen wird.

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© Barbara Lukesch