Madame Courage

Neuorientierung / Juni 1998, "Bilanz"

Symbolbild zum Thema Karriere

Karrieremüde? Unzufrieden? Evelyne Coën unterstützt verunsicherte Manager darin, sich auf die eigenen Bedürfnisse zurückzubesinnen. Manch einer fasst dank ihr den Mut zum Neuanfang.

"Zum Besten der Menschheit kann niemand beitragen, der nicht aus sich selbst macht, was aus ihm werden kann und soll." (Lessing, aufgehängt an Evelyne Coëns Bürotür)

Hans-Peter K.* hatte einen Traumjob. Innert Kürze war der 33jährige HSG-Absolvent in einem grossen Schweizer Dienstleistungsunternehmen die Karriereleiter hinaufgeklettert, verdiente knapp 300'000 Franken pro Jahr und galt innerhalb seiner Branche als hochkarätiger Fachmann, dem alle beruflichen Türen offenstehen. Er residierte in einem Einzelbüro mit exquisitem Mobiliar, arbeitete an einem PC, der allein 16'000 Franken kostete, jettete in der Business-Class durch die halbe Welt, stieg jeweils in Fünfstern-Hotels ab und konnte im firmeneigenen Klub Tennis spielen - mit einem Wort: Es ging ihm königlich.

Glücklich und erfüllt war er trotzdem nicht. Im Gegenteil. Nach einigen Jahren geriet K. in eine schwere persönliche Krise, litt unter Schlafstörungen und Antriebslosigkeit, legte mangels sportlicher Betätigung an Gewicht zu und fragte sich zusehends resignierter, ob das jetzt alles gewesen sei. Nach einem internen Abteilungswechsel lebte er vorübergehend auf, musste aber nach kurzer Zeit feststellen, dass er "genauso unzufrieden" war wie vorher. In Gesprächen mit Berufskollegen, denen er von seinen noch unausgegorenen Kündigungsabsichten erzählte, stiess er auf Unverständnis: "Einen solchen prestigeträchtigen Posten", hiess es unisono, "verlässt man doch nicht." Routiniert, aber freudlos erledigte K. weiterhin seinen Job.

Einzelgespräche und Neuorientierungsseminar

Hin- und hergerissen zwischen seinem Wunsch nach Karrieresicherung und der diffusen Sehnsucht, doch "irgendetwas" zu verändern, kontaktierte er schliesslich mehrere Headhunter und Personalberater. Ernüchtert musste er feststellen, dass er zwar etliche lukrative Stellenangebote, aber nicht den erhofften "Kick" bekam, der ihn auch persönlich weitergebracht hätte. Erst als er per Zufall Evelyne Coën, die Inhaberin der Beratungs-Firma "Cross-Roads", kennenlernte und ihre fachliche Hilfe in Anspruch nahm, begann sich in seinem Leben etwas zu bewegen: K. gestand sich das Recht auf seine Bedürfnisse zu und vertraute einer inneren Stimme, die ihm mitunter Irritierendes einflüsterte, wie den unmissverständlichen Appell, seinen vermeintlichen "Traumjob" aufzugeben, die Branche zu wechseln und beruflich etwas vollständig Neues zu wagen.

In vielen Einzelgesprächen mit der Fachfrau und einem dreitägigen Neuorientierungsseminar bei ihr hatte er die entscheidenden Schritte hin zu mehr Selbstbestimmtheit und innerer Freiheit gemacht. Dank Coëns Unterstützung lernte der stets höfliche und zuvorkommende Mann, auch einmal "nein" zu sagen und sich auf einen Prozess einzulassen, der zwar oft schmerzhaft, aber gleichzeitig "ungeheuer befreiend" war: "Ich spürte", sagt er, "wie ich wieder lebendig wurde und emotional in Bewegung geriet." K. hatte die Kraft, seine Gefühle der Frustration zuzulassen statt sie unter Kompensationshandlungen zuzudecken: "Das", betont Coën, "ist wahre Stärke." Seit kurzem ist er in der Unternehmensberatung tätig und lässt sich den frischen Wind, der jeden Neuanfang begleitet, um die Ohren wehen.

Evelyne Coën ist ein Geheimtip in der Szene der Coachs, Trainer, Berater - oder wie man die Angehörigen eines inzwischen unüberschaubar gewordenen Berufsstands alle nennen mag. Anfangs der neunziger Jahre gründete die Autodidaktin ihre Firma "Cross-Roads" und setzte es sich zum Ziel, Menschen an den beruflichen, aber auch privaten Kreuzungen (sprich Cross-Roads) ihres Lebens Orientierungshilfe zu leisten und ihnen Mut zur Umsetzung ihrer Träume und Visionen zu machen.

Weitverbreitete Unzufriedenheit

Ihre einjährige Tätigkeit als Personalvermittlerin bei der Zürcher "Ecco" hatte ihr die Augen geöffnet für die weitverbreitete Unzufriedenheit an den Arbeitsplätzen: "Ich war erschüttert", sagt die 52jährige, "dass fast niemand beruflich das macht, was er eigentlich möchte." Sie stellte mit Befremden fest, in welchem Masse sich die Menschen reduzieren und ihre wahren Eignungen und Neigungen verkümmern lassen.

Als sie anschliessend im Rahmen der Zürcher Organisation "Balance" ihre eigene "Laufbahnberatung und Stellenvermittlung für Frauen" ins Leben rief, wurde sie in ihrem Eindruck bestärkt, dass der Preis, den Frauen (wie Männer) für ihre berufliche Karriere zahlen, zu hoch ist: "Es ist unvorstellbar", sagt Coën, "wie viele Leute sich verleugnen und verraten und sich von ihren authentischen Bedürfnissen entfernen, nur um sogenannt 'marktkonform' zu bleiben." Krise und Arbeitslosigkeit, konstatiert die Expertin, würden das Ihre dazu beitragen, viele Menschen noch ängstlicher und anpassungsbereiter zu machen und ihnen allfällige Träume, Visionen und Veränderungswünsche definitiv auszutreiben.

Dieser Tendenz galt es zu begegnen. Schliesslich wusste Evelyne Coën aus ihrer eigenen Lebensgeschichte, dass nichts so gut tut wie eine Neuorientierung, ein mitunter harter Schnitt auch in schwieriger Lage. Als sie 26 Jahre alt war, liess sie sich trotz bodenloser Existenzangst von ihrem ersten Mann, einem äusserst erfolgreichen Journalisten, scheiden und stand eines Tages mit zwei kleinen Kindern, einem Hund, einem Bett und einem Deux Chevaux vor dem Nichts. Sie überlebte den Sprung ins kalte Wasser und gewann an Selbstvertrauen. Studien in Psychologie, Theaterarbeit, Lehrtätigkeiten und Arbeit mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen erweiterten ihren Horizont. Gleichzeitig erzog sie als alleinstehende Mutter ihre beiden Töchter. Mit 40 Jahren gab sie zugunsten einer zweiten Ehe ihr Haus und ihre Stelle als Musik-, Theater- und Tanzlehrerin auf und lernte mit ihrem neuen Partner das Metier der Filmproduktion von der Pike auf. Vier Jahre später folgte ihre zweite Scheidung. Berufliche Zusatzausbildungen und Wechsel in Bereichen wie vergleichende Verhaltensforschung, Personalvermittlung und Frauenförderung markierten immer wieder Zäsuren und Neuanfänge, die sie zwar jedesmal Kraft kosteten, ihr aber auch frische Energie schenkten.

"Das schaffst du nie!"

Als sie sich anfangs der neunziger Jahre mit der Gründung von "Cross-Roads" einen alten Traum verwirklichte, stiess sie in ihrem Umfeld auf Skepsis und Zweifel. Man warnte sie vor dem Scheitern, wenn sie ihr Konzept eines Unternehmens mit hohem ethischen Standard vortrug. Sie müsse kompromissbereit sein, sich den herrschenden Machtspielen und Mauscheleien unterwerfen - andernfalls werde sie auf dem riesigen Markt der Berater chancenlos bleiben. Männliche Klienten, hiess es, würden sowieso Abstand halten, wenn eine Frau ihnen den Weg weisen wolle, und noch dazu eine, die weder einem ausgeklügelten Firmenleitbild noch einem eleganten Chromstahlbüro in der Zürcher City Bedeutung schenke: "Viele Leute", erinnert sich Coën, "bedachten mich und meine Ideen mit einem müden Lächeln und sagten: 'Das schaffst du nie!'"

Weil sie sich ihrer Sache - allen Unkenrufen zum Trotz - sicher war, liess sie sich nicht beirren und ging ihren Weg. Seither offeriert "Cross-Roads" Neuorientierungs-, Persönlichkeits-, Krisen- und Konfliktseminare und -beratungen. Coën arbeitet mit Einzelpersonen, Gruppen und Firmenteams und bietet auch Personalvermittlung auf Mandatsbasis an. Ihr Name, heisst es in der Szene, stehe für Unabhängigkeit, Unbestechlichkeit und Authentizität: "Wer es wagt", so ein ehemaliger Kunde, "ausserhalb der gängigen Strukturen zu denken und eingespielte Verhaltensmuster hinter sich zu lassen, ist bei Coën am richtigen Ort."

Im Laufe der Jahre hat sie Hunderte von Frauen und Männern, Generaldirektoren, Firmenchefs und Kader aller Stufen, aber auch Selbständigerwerbende, Unternehmensberater, Ärzte, Ingenieure und Anwälte, darunter auch prominente Namen, beraten, unterstützt und auf ihrem Weg aus der emotionalen Erstarrung begleitet. Etliche, sagt sie, vollzögen nachher einen radikalen Wechsel in ihrem beruflichen und/oder persönlichen Alltag, machten sich beruflich selbständig oder verwirklichten sich langgehegte Träume wie vorübergehende Auslandaufenthalte oder gar den endgültigen Wechsel in ein fremdes Land. Bei anderen hingegen genüge die Veränderung einiger Organisations- oder Kommunikationsabläufe innerhalb ihrer Firma, damit sie wieder eine befriedigende Arbeits- und damit auch Lebensqualität erreichten.

Leben, nicht nur funktionieren

Doch bis es soweit ist, ist harte Arbeit angesagt. Es sei für sie, sagt Coën, jeweils erschreckend zu realisieren, wieviel Freudlosigkeit, Unglück, ja, Verzweiflung auf den Chefetagen unserer Firmen versammelt sei: "Leiden", präzisiert sie, "das im Alltag schamvoll verborgen wird und unter keinen Umständen gezeigt werden darf." Erst wenn der Druck unerträglich werde und die Betroffenen körperlich krank oder depressiv würden, wagten sie es, um Hilfe nachzusuchen. Regelmässig erklären ihr dann Manager am Telefon, dass sie es moralisch und gesundheitlich nicht länger verkraften, mit steigender Hierarchiestufe zusehends mehr unlautere Mittel gegenüber ihren Mitarbeitern und Kunden anwenden zu müssen: Jetzt müssten sie endlich etwas unternehmen.

Angesichts solcher Bedürfnisse kann es nicht überraschen, dass ihr jüngst in der "Neuen Zürcher Zeitung" publiziertes Inserat mit dem Titel "Sie wollen leben, nicht nur funktionieren!" zu einem Volltreffer wurde. Dutzende von Interessenten griffen prompt zum Telefonhörer, betroffen vom so beworbenen Neuorientierungs-Seminar "Kursänderung ohne 'Wenn und Aber'". Die Angst, dass man seine eigentlichen Wunschvorstellungen, so Coën, endgültig verfehle und nur noch "gehandelt werde statt selber zu handeln", grassiere insbesondere unter Managern und Berufsfrauen, die sich den männlichen Strukturen angepasst haben, und lasse immer mehr nach einem Ausweg aus der Krise suchen.

Einer der Betroffenen ist Federico S.*, 48jähriger Jurist und bis vor kurzem Mitglied des höheren Kaders einer Grossbank. S. kann eine eindrückliche Berufs-Biographie vorweisen. Egal ob in der Privatindustrie oder der Verwaltung, stets war er im Nu an der Spitze: "Ich bin intelligent, kompetent und habe bisher immer perfekt funktioniert", konstatiert er nüchtern. Erfüllt und glücklich sei er allerdings nie gewesen. Daran hätten weder die vielen Stellenwechsel noch die zahllosen Persönlichkeits-Workshops oder Motivationsseminare etwas ändern können, die er auf seiner ständigen Suche nach einer echten Veränderung absolviert habe.

Das Wagnis der Zusammenarbeit

Erst die Zusammenarbeit mit Evelyne Coën habe ihn zu jenem Punkt geführt, an dem er es gewagt habe, seine "tolle Stelle ins Blaue hinaus" zu kündigen und sich eine mehrmonatige Bedenkzeit zu gönnen. Diesem Entscheid sei ein rund dreieinhalbjähriger schwieriger Entwicklungsprozess vorausgegangen. Dabei habe ihm Coën weder mechanische Tips oder Tricks noch irgendwelche Methoden oder Programme und schon gar keine Patentlösungen auf dem Silbertablett präsentiert und ihn damit zunächst sehr frustriert. Im Verlaufe der Zeit habe er realisiert, dass sie sehr individuell arbeite, den einzelnen Menschen mit "wirklich allem, was er mitbringt", ernst nehme, ihm nichts aufpfropfe, sondern ihm einzig die Möglichkeit zur Wahl von beruflichen oder persönlichen Alternativen eröffne: "Es ist ein Wagnis", sagt S., "mit ihr zusammenzuarbeiten, weil man tatsächlich mit sich selber und nicht mit irgendwelchen Schablonen und Etiketten konfrontiert wird."

Ähnlich hat auch Hans-Peter K. seine Zusammenarbeit mit Coën in Erinnerung. "Das Beeindruckende an ihrem Beratungsstil ist die totale Akzeptanz ihrer Kunden und damit das Fehlen von jeglicher Bewertung und Beurteilung." Sie sei wie ein "Katalysator" für ihn gewesen, der ihn dazu gezwungen habe, "dranzubleiben und ehrlich zu sich selber zu sein, auch wenn es weh getan hat." Er habe ihre Klarheit und Direktheit geschätzt: "Es gibt kein unnnötiges Psychologisieren und keine falschen Mythen", konstatiert K., "sie bringt das, was in einem drinsteckt, auf den Punkt."

Evelyne Coën kommt nicht zuletzt deshalb so gut bei ihren Kunden an, weil sie über einen riesigen Fundus an persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen verfügt. Sie könne mit allen Leben umgehen, hält sie fest, denn sie selber sei durch "verschiedene Höllen gegangen" und habe diese "überstanden". Aufgewachsen als Künstlerkind war sie von klein auf an ständige Schulwechsel, aber auch Heimaufenthalte gewohnt. Ausgrenzung, körperliche Gewalt und Psychoterror waren die Begleiterscheinungen. Gleichzeitig wurde sie aber auch geprägt von der familiären Freude an Musik, Gesang und Tanz. Seit ihrem achten Lebensjahr steht sie auf der Bühne und singt. Ihre Leidenschaft gehört alten jiddischen Liedern, die sie in Konzerten weitergibt - und damit beweist, dass der Mensch sehr wohl auf mehreren Hochzeiten tanzen und sich keineswegs auf "eine Sache zur Zeit" beschränken muss. Auch diese Botschaft vermittelt sie ihren Kunden und Kundinnen gern, ist ihr doch die "ganzheitliche Betrachtung des Menschen" ein klares Anliegen.

* Namen geändert

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© Barbara Lukesch