Der Psychopharmaka-Missbrauch der Manager

Wesen des Artikels / Mai 1999, "Sonntags-Zeitung"

Symbolbild zum Thema Karriere

Ein gutes Jahr lang arbeitete Franz Bolliger restrukturierungsbedingt täglich zwölf bis vierzehn Stunden. Der 56jährige Spitzenmanager mit dem ausgeprägten Pflichtgefühl wusste, was er seinem Arbeitgeber, einem der umsatzschwersten Medikamenten-Grosshändler, für ein Jahresgehalt von 280'000 Franken schuldig war. Müdigkeit war ein Fremdwort für ihn. Wenn seine Kollegen nach nächtlichen Sitzungen grau und fahl in den Stühlen hingen, wirkte Bolliger immer noch agil und dynamisch. Morgens um acht Uhr sass er jeweils wieder tatendurstig an seinem Pult. Er nahm zwar schon lange nicht mehr wahr, ob die Sonne schien und wie sich seine Ehefrau fühlte. Dafür stimmten seine Zahlen. "Das Geschäft", erinnert sich Bolliger, "hatte mich fest im Griff."

Doch dann eskalierten die Schwierigkeiten. Zweihundert Mitarbeiter mussten entlassen werden; die Intrigen häuften sich. Bolliger wurde aufgerieben zwischen den Ansprüchen seiner Vorgesetzten und seiner Kollegen. Gleichzeitig ging seine Ehe endgültig in die Brüche. Der Marketingdirektor begann unter Schlafstörungen und Konzentrationsschwierigkeiten zu leiden. Beklemmungsgefühle in der Brust und nächtliche Schweissausbrüche weckten in ihm so starke Todesängste, dass er das Medikamentenangebot seines Arztes, bestehend aus einem Tranquilizer, einem aufhellenden Antidepressivum und einem Schlafmittel, dankbar entgegennahm. Einige Wochen später ereilte ihn, den Tabletten zum Trotz, der psychische Zusammenbruch: Mitten auf der Strasse war er so verwirrt, dass er nicht mehr ein noch aus wusste. Auf einem Spaziergang im Grünen fasste der Topmanager den Entschluss: "Ich steige aus und orientiere mich neu." Seine Medikamente schluckte er dennoch, wenn auch in immer geringeren Dosen, während vier Jahren.

Antidepressiva an der Spitze

Der Psychopharmaka-Konsum in der Schweiz nimmt beständig zu. Allein in den Jahren von 1991 bis '97 wuchsen die Ausgaben von 200 auf 300 Millionen Franken. Spitzenwerte erzielten die Antidepressiva, deren Umsatz sich in dieser Zeit gar verdreifachte. So überrascht es nicht, dass die Schweiz europaweit das einzige Land ist, in dem für Antidepressiva mehr Geld als für jedes andere Medikament ausgegeben wird.

Dass die Psychopillen schon lange nicht mehr nur "mother's little helpers", also Stimmungsaufheller für frustrierte Hausfrauen sind, sondern insbesondere auch Managern bei der Bewältigung ihres beruflichen Alltags nützliche Dienste leisten, bestätigen Fachleute weitherum. Johannes Czwalina, Coach für Führungskräfte in Basel, konstatiert: "Mehr als zwanzig Prozent meiner Kunden schlucken Psychopharmaka, weil sie anders nicht mehr mit der Belastung, dem Stress und der Angst klarkommen." Die Tendenz , so Czwalina, sei eindeutig steigend. Auch Evelyne Coen, die Besitzerin der Zürcher Beratungsfirma "Cross-Roads", ist zunehmend häufiger mit Managern konfrontiert, die "die gnadenlosen Leistungsanforderungen und die unmenschliche Behandlung in den Firmen" nur noch mittels chemischer Hilfsmittel bewältigen zu können glauben. In der Rehabilitationsklinik Gais gehören ausgebrannte Führungskräfte, die unter Erschöpfungsdepressionen, Panikattacken und hypochondrischen Beschwerden leiden, denen sie zunächst mit Alkohol, dann mit Valium und/oder Prozac, Seropram oder Aurorix zu begegnen versuchen, zu den ständigen Patienten.

"Das Problem des Psychopharmaka-Missbrauchs zur Leistungssteigerung", sagt der Zürcher Kantonsapotheker Werner Pletscher, "ist eindeutig vorhanden, aber bisher erst dürftig mit Zahlen dokumentiert." Auch in vielen Schweizer Unternehmen wie Novartis, der UBS oder der SBB ist man sich der allgemeinen Suchtproblematik bewusst und verfügt sogar über spezielle Programme zur Bewältigung des Alkoholismus am Arbeitsplatz. Konkrete Erfahrungen mit Tablettenabhängigen fehlen allerdings. Medikamentensucht, heisst es unisono, lasse sich eben sehr lange im Verborgenen betreiben. Da sehe man nichts, rieche nichts wie beim Alkohol und ahne mithin nichts Böses.

Pausenloses Getriebensein

Dass geschluckt wird, ist dennoch unbestritten. Die zunehmende Hektik in den Chefetagen und der Zwang, in immer kürzerer Zeit immer mehr zu erledigen, verdichten sich vielerorts zu einem Gefühl des pausenlosen Getriebenseins, das Menschen auf Dauer oft nur noch pharmakologisch unterstützt bewältigen können. Wer 24 Stunden im Dienst des Geschäfts steht, Tag und Nacht per Natel, Pager, E-Mail oder dem Faxgerät, das Führungskräfte mitunter sogar im Schlafzimmer installieren, erreichbar ist, brennt aus. Ein 41jähriger Zürcher Banker sagt es drastisch: "Freitagabends sind meine Batterien jeweils so leer, dass ich kaum noch meine Familie geschweige denn irgendwelche Gäste vertrage." Erschöpft zwar, aber dennoch unfähig abzuschalten, bleibt dann nichts anderes übrig als der nächtliche Griff zum Schlafmittel, was - fatale Folge - nicht selten mit dem Einwurf eines Weckamins am nächsten Morgen kompensiert werden muss. Darüber hinaus wachsen die Aengste und Verunsicherungen, den steigenden Anforderungen nicht mehr gerecht zu werden und selber eines Tages "entsorgt" oder "eliminiert" zu werden, wie die zynischen firmeninternen Termini lauten. Derselbe Banker unmissverständlich: "Wer die Leistung nicht bringt, ist weg - hopp und zack, und dein jüngerer Nachfolger steht schon parat." US-Verhältnisse auch bei uns. Was liegt also näher, als sich mit angstlösenden Mitteln wie Temesta und Seresta wieder auf Vordermann zu bringen?

Was momentan allerdings noch stärker im Trend liegt, ist die neue Generation der Antidepressiva wie Prozac (hierzulande unter dem Markennamen Fluctine erhältlich), das ähnlich wie Kokain "aufchlöpft", mithin antreibt und daher - so ein Arzt - "in gewissen Managerkreisen so locker wie ein Aperitiv konsumiert wird." Gehandelt als Lifestyle-Präparat für das allgemeine Wohlbefinden, hat Fluctine denn auch schon längst das Stigma des Psychopharmakons für Kranke und Frustrierte verloren und kann ohne Gesichtsverlust eingenommen werden. Erhältlich ist das rezeptpflichtige Medikament problemlos via Internet oder beim Arzt. Der Psychopharmakakritiker Marc Rufer schreibt dazu in seinem Buch "Glückspillen": "Prozac-Konsumenten sind keine leidenden Patienten, sondern aktive Leute, die dem Arzt klipp und klar erklären, was sie von ihm erwarten: Prozac." Angesichts der Tatsache, dass "Prozac & Co.", nach Aussage von Ueli Müller, dem Präsidenten des Schweizerischen Konkordats der Krankenkassen "in Unternehmen schon jetzt in rauhen Mengen geschluckt werden," sieht der Fachmann besorgt einer Entwicklung entgegen, "die unseren Markt in naher Zukunft mit weiteren Lifestyle-Stimmungsaufhellern überschwemmen wird."

"Das ist der volle Hammer"

Daneben nehmen viele Manager aber auch noch andere Medikamente, die zwar keine psychoaktiven Substanzen enthalten, aber gleichwohl in direktem Zusammenhang mit der täglichen Stressbewältigung stehen. Ein Zürcher Broker, der bei einer renommierten Privatbank arbeitet, schluckt seit vier Jahren blutdrucksenkende Mittel im Wissen, dass es sein Job ist, "der ihn krankmacht." 150 Telefonate pro Tag, ständig drei Bildschirme vor der Nase, Fluten von Informationen in mehreren Sprachen, Dutzende von hochprofessionellen Grosskunden, unaufhaltsame technologische Entwicklungen: "Das ist", seufzt er, "der volle Hammer."

Gemäss der Manager-Gesundheitsstudie des Instituts für Arbeits- und Sozialhygiene IAS in Karlsruhe (siehe Kasten) konsumieren zehn Prozent der Untersuchten regelmässig das Kreislaufmedikament Betablocker, um, nach Aussagen von Ludger Cire, leitender Arzt am IAS, "den stressbedingten vegetativen Beschwerden wie Herzjagen und Bluthochdruck zu begegnen." Dabei dürfte der tatsächliche Betablocker-Konsum unter allen Managern, so Cire, noch um einiges höher liegen, da an der Karlsruher Studie "nur ausgesprochen gesundheitsbewusste Personen" teilgenommen haben, die regelmässig ärztliche Check-Ups vornehmen lassen.

Nicht zu unterschätzen ist sodann die Zahl all jener Führungskräfte, die im Zeitalter des weltumspannenden Reisens ihren Jet Lag-Folgen mittels Einschlafhilfen wie Dormicum oder dem in den USA problemlos erhältlichen Schlafhormon Melatonin zuvorzukommen suchen. Noch eine Pille mehr, deren Einnahme körperlich, aber vor allem auch psychisch verdaut sein will. Manager, weiss der deutsche Arbeitswissenschafter Richard K. Streich, würden ihren Medikamentengebrauch gern vor sich als "vorübergehend und stressphasenbedingt herunterspielen" - auch wenn er längst zur Gewohnheit geworden ist.

Franz Bolliger, der ehemalige Spitzenmanager, hat sein Leben auf den Kopf gestellt. Nach seiner Kündigung und einer Kur in der Rehabilitationsklinik Gais, wo er sich körperlich erholt hat und ins autogene Training eingeführt wurde, hat er zusätzliche professionelle Hilfe bei einer Beratungsfirma beansprucht. Heute studiert er Psychologie und erteilt Kurse in autogenem Training. Abgesehen von ein, zwei Schlaftabletten pro Monat lebt er ohne Psychopharmaka. Er ist glücklich, dass er wieder spürt, wenn er müde ist und zur Kenntnis nimmt, ob es draussen regnet oder die Sonne scheint.


Ergebnisse einer Langzeitstudie zu Manager-Gesundheit

Das Institut für Arbeits- und Sozialhygiene IAS in Karlsruhe präsentierte kürzlich die Ergebnisse einer Langzeitstudie zur Gesundheit von Managern, die auf 12'000 medizinischen Vorsorgeuntersuchungen basiert. Das Durchschnittsalter der Teilnehmer beträgt 51 Jahre. Fazit: Manager gehören zu den Berufsgruppen mit einem hohen gesundheitlichen Risiko.

85 Prozent der Manager - und damit weit mehr als die Gesamtbevölkerung - leiden als Folge der grossen Leistungsanforderungen an vegetativen Beschwerden wie Schlafprobleme, Herzrasen, Verdauungsstörungen, Magenschmerzen. Das sind nach Aussagen des IAS-Arztes Ludger Cire "zwar noch keine körperlichen Erkrankungen im strengen Sinne, aber eindeutige gesundheitliche Risikofaktoren."
75 Prozent haben einen überhöhten Cholesterinspiegel; bei 25 Prozent sind die Werte sogar so schlecht, dass sie sich unbedingt behandeln lassen müssten.
73 Prozent klagen über Rückenschmerzen, die oftmals in Zusammenhang mit fehlender Bewegung stehen.
38 Prozent sind übergewichtig.
20 Prozent rauchen - im Gegensatz zu 40 Prozent der Gesamtbevölkerung. Dieses Teilergebnis unterstützt Cires Aussage, wonach ihre Studie es mit einer "ausgesprochenen Positivauslese sehr gesundheitsbewusster Teilnehmer" zu tun hatte. Viele andere Führungskräfte hingegen halten sich offenbar für unverletzbar, nehmen daher auch jahrelang keine Check Ups in Anspruch und riskieren, dass der Raubbau, den sie an ihrem Körper treiben, sie endgültig zu Fall bringt.
15 Prozent klagen über stark erhöhten Blutdruck.
15 Prozent sind informiert über Verdachtsmomente auf Krebs.

Besonders alarmierend an diesen Befunden ist die Tatsache, dass sie eine Reihe von anderen schweren Krankheiten wie Herzinfarkt, Schlaganfall, aber auch Krebs begünstigen können. Wer zum Beispiel stark raucht, gleichzeitig einen erhöhten Cholesterinspiegel hat, zehn Kilogramm Uebergewicht auf die Waage bringt und einen Blutdruck von mehr als 140 zu 90 hat, ist eindeutig infarktgefährdet.

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© Barbara Lukesch