Als ein Ringhändler noch ein "Sibesiech" war

Technologischer Fortschritt / 8. Juni 2000, "Die Weltwoche"

Symbolbild zum Thema Karriere

"Der Reiz des Besonderen ist weg", konstatiert Armin Moser, Obligationenhändler bei der Bank ABN Amro und ehemals Ringhändler. Ein Aktienhändler hat heute einen normalen Büro-Job, sitzt, wenn es sein muss, durchgehend an seinem Schreibtisch vor seinen drei, vier oder auch fünf Bildschirmen, verschlingt irgendwann achtlos ein Sandwich oder eine Pizza aus der Hand, allein für sich, ohne Gesellschaft, bedacht einzig darauf, die Flut der Informationen im Auge zu behalten und für seine Bank die richtigen Kauf- oder Verkaufsentscheide zu treffen. Am Abend ist er müde und erschöpft von der gewaltigen Konzentrationsleistung, die zwar grosse geistige Präsenz erfordert, aber auf Grund ihrer Einseitigkeit auch "die Gefahr zur Verblödung" in sich birgt. Ausgewählte Freizeitbeschäftigungen wie die sorgfältige Suche nach horizonterweiternder Lektüre sind eine Notwendigkeit.

Die Einführung der elektronischen Börse hat einen ganzen Berufsstand weggefegt. Anstelle der Händler, die am Ring mit grossem Geschrei regelrecht um Wertschriften kämpften, werden heute alle Transaktionen über einen Grosscomputer abgewickelt. "Diese technische Revolution", sagt Fritz Keller, Direktionsmitglied der Zürcher Privatbank Märki Baumann und einst ebenfalls am Ring tätig, "hat aus dem Aktienhändler eine ausführende Kraft ohne grossen Stellenwert im ganzen System gemacht." Damit sei nicht zuletzt auch eine Männerbastion gefallen. Heute könne jeder und jede von zu Hause aus Wertschriften handeln. Nötig dazu sind lediglich ein PC, ein Internet-Anschluss und ein Vertrag mit einer Bank oder einem Broker. Fritz Keller weiss, wovon er spricht, ist doch auch seine Frau inzwischen ins "Internet-Trading" eingestiegen. So lautet das Fazit des Fachmannes: "Das Börsenwissen ist auf eklatante Art demokratisiert und damit transparent geworden."

Eine Spur Wehmut

Dagegen wäre ja eigentlich nichts einzuwenden. Trotzdem weckt die Erinnerung an die alten Zeiten am Ring, die 1996 mit der Einführung der Elektronischen Börse Schweiz EBS zu Ende gingen, bei den Betroffenen auch eine Spur Wehmut angesichts des Verlusts des einstigen Status: "Ein Ringhändler war noch ein Siebesiech", sagt Keller, "den man bewunderte und gern in jedem Klub aufnahm." Ringhändler müssen tatsächlich schillernde Figuren gewesen sein: Einerseits schlitzohrig, andererseits aber auch derb und deftig, was ihnen den Ruf, die "Maurer der Banken" zu sein, eintrug. Das waren noch ganze Kerle, die unter vollem Einsatz ihrer körperlichen Präsenz, mit wild gestikulierenden Armen und Händen, bösen Blicken, mitunter schweissgebadet, für ein solches Spektakel sorgten, dass die alte Börse am Bleicherweg einen Höhepunkt auf der Route jedes Zürcher Fremdenführers bildete.

Damals, schwärmt Keller, sei das Menschliche noch grossgeschrieben worden. Täglich habe man die anderen Ringhändler getroffen, die zwar allesamt Konkurrenten waren, aber gleichwohl auch respektierte Kollegen. Wenn die Börse gegen 13, spätestens um 13. 30 Uhr schloss, sass man bei ausgiebigen Mittagessen zusammen, klopfte einen Jass, um gegen 16 Uhr nochmals im Büro einen Blick auf allfällige Administrativarbeiten zu werfen und um "spätestens 17 Uhr zu verkünden: "So, das war's dann wohl."

Um wenigstens einen Zipfel dieses Männerglücks zu retten, gründete man bereits 1995 den Verein ehemaliger Zürcher Ringhändler VeZR, der 250 Mitglieder zählt. Viermal pro Jahr stehen grosse Events auf dem Programm, zu denen man Persönlichkeiten wie Christoph Blocher einlädt. Jeden ersten Donnerstag im Monat trifft man sich zu einem Stammtisch in der "Insiders"-Bar in der alten Börse.

An diesem Donnerstagabend findet sich nur ein versprengtes Häuflein von sechs, sieben treuen Seelen ein. Offenbar hatte das am vorhergehenden Wochenende ausgetragene Fussballturnier, an dem mehr als hundert VeZR-Mitglieder teilnahmen, die Bedürfnisse nach Austausch, Geselligkeit, Bier und flotten Sprüchen bereits weitgehend befriedigt. Dafür bietet der kleine überschaubare Rahmen günstige Bedingungen, um den Anwesenden Fragen zur Umstellung vom alten Ring zur elektronischen Börse zu stellen.

EBS wird einhellig gelobt

Die Männer reden gern über ihren Beruf und das dazugehörige Umfeld. Die EBS wird einhellig gelobt. Schneller sei sie, flexibler, effizienter. Volumen, von denen man sich zu Zeiten des Rings noch gar keine Vorstellung gemacht habe, würden heute täglich umgesetzt. Mehr Präzision könne garantiert werden, da Fehlerquellen wie handgeschriebene Notizzettel ausgemerzt seien und alles automatisiert abgewickelt werde. Die Angst vor Systemabstürzen habe sich, abgesehen von Einzelfällen, nicht bewahrheitet. Aber schliesslich habe auch die alte Börse mehr als einmal geräumt und der Handel unterbrochen werden müssen. Zu Beginn der achtziger Jahre verpestete ein Senfgasanschlag den Saal so sehr, dass ihn alle fluchtartig verliessen. Ein anderes Mal war gar das Dach eingestürzt.

Der einzelne Händler sei heute dank zahlreicher Informationssysteme besser im Bilde und darüber hinaus weitgehend von Administrativarbeiten entlastet. So habe sich auch die Befürchtung, das neue System werde zu immensen personellen Mehrkosten führen, in Luft aufgelöst. Statt die Konkurrenz am Ring mit Tricks, Bluff und dem berühmten Pokerface hinter's Licht zu führen, werde heute viel rationaler und pragmatischer gehandelt. Der technisch versierte, reine Kopfarbeiter sei gefragt, währenddem der alte "Ringkämpfer", der seinem Gegenüber auch einmal an den Kragen sei und ihm "Schlötterlis" ausgeteilt habe, so überflüssig geworden sei wie einst der Heizer auf der Dampflokomotive.

Je weiter der Abend fortschreitet, um so reichlicher fliessen das Bier und die Erinnerungen. Anfangs der neunziger Jahre hätten die ersten realisiert, dass etwas im Busch sei. Der Computer war allgegenwärtig; das Internet hatte seinen Siegesezug angetreten. Mit der Zeit mussten selbst altgediente Ringhändler erkennen, dass die elektronische Revolution auch vor ihrem Berufsstand nicht haltmachen würde.

Zu alt, zu langsam, zu unflexibel

Als es 1996 soweit war, traf die Umstellung dann doch etliche unvorbereitet. Rund zwanzig Prozent wurden ausgemustert. Zu alt, zu langsam und unflexibel, um nochmals umzusatteln und sich fehlende Fremdsprachenkenntnisse anzueignen, lautete das Verdikt, das in Einzelfällen auch bittere Konsequenzen hatte. Mehr als einer, heisst es, verdinge sich seither als Hausabwart. Ein anderer sei mit seiner Ehefrau nach Thailand ausgewandert, wo er sich bessere berufliche Chancen versprochen hätte.

Drei von vier aber schafften den Sprung in das neue Zeitalter: "Was blieb uns auch anderes übrig", fragt Erich Brander von der Bank Coutts, "'Vogel friss oder stirb', lautete der Befehl, also haben wir gefressen."

Dabei sei manch Schönes auf der Strecke geblieben. Was sie besonders vermissen, sei das "psychologische Flair", das den Ring wie eine eigene Duftmarke umgeben habe. Das "Feeling" sei verlorengegangen: "Der Markt", sagt Brander, "lebt nicht mehr." Während die Ringhändler seinerzeit die unterschiedlichsten Ausbildungsgänge durchlaufen hätten, der beste SBG-Mann sei ursprünglich Konditor gewesen, werde heute zunehmend auf akademische Abschlüsse gepocht. Alles sei nur noch Ratio, Technik - und Stress. Es würde ihn nicht wundern, meint Brander, wenn über kurz oder lang der 24 Stunden-Schichthandel eingeführt werde. Öffnungszeiten bis 22 Uhr würden ja bereits heute von den Grossbanken ins Auge gefasst. Die Logik sei einfach: "Die Systeme stehen zur Verfügung; also nützen wir sie".

Damals, seufzt einer von Nostalgie ergriffen, habe man alleweil noch Zeit für einen guten Spass gehabt. Legendäre Wetten um tausend Crèmeschnitten oder hundert Kilogramm Gummibärchen seien nicht nur abgeschlossen, sondern auch - ein Mann, ein Wort - eingehalten worden. Ehrensache. Und dann erst die Feste. Feste? Orgien hätten sie gefeiert. Auch Fritz Keller bekommt glänzende Augen, wenn er vom "Fest aller Feste", der Abschlussparty zu Ehren der alten Börse, erzählt: "So etwas erlebt man nur einmal." Brasil Girls seien aufgetreten. Jeder Ring habe einen anderen Kontinent dargestellt. Bars, Musik,Tanz bis morgens um sechs: "Herrliche Zeiten waren das". Auch die Ausflüge der Börsianer müssen im Stil reinster Burschenherrlichkeit schier im Alkohol untergegangen sein, und es konnte passieren, dass der eine oder andere in einem Brunnen landete: "Zwecks Ausnüchterung." Wenn man an solchen Abenden nach Zürich zurückgekehrt sei, habe die Stadt mit allem rechnen müssen. Die Sprüche seien grob, die Zoten an der untersten Grenze gewesen. "Es gab Momente", sagt Keller, "in denen das ganze nahezu überbordete."

Wollen sie heute unter den Börsianern ein Fest feiern, sitzen sie mehrheitlich unbekannten Gesichtern gegenüber, Männern, inzwischen auch etlichen Frauen, von denen sie nicht einmal den Namen wissen. Wie soll unter solchen Bedingungen, fragen sie ratlos, eine gute Stimmung entstehen. "Die Kameradschaft ist weg", konstatiert Peter Botha von der Credt Suisse First Boston, "und das ist bei allen technischen Fortschritten tatsächlich sehr schade."

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© Barbara Lukesch