Erfolgreich verhandeln: Mit Takt und Taktik ans Ziel

Harvard-Konzept / 26. März 2004, "Annabelle-Business"

Symbolbild zum Thema Karriere

Wir verhandeln unser ganzes Leben lang, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht: Tag für Tag führen Frauen, Männer, ja sogar schon Kinder Gespräche mit dem Ziel, eine Übereinkunft mit jemandem zu finden, von dem sie gegensätzliche Interessen unterscheiden. Ehepaare verhandeln, welchen Kinofilm sie anschauen wollen. Der Vater verhandelt mit seiner Tochter über die Höhe des Taschengelds, Managerinnen haben mit ihren Mitarbeitenden zu klären, welche Projekte in welchem Zeitraum zu erledigen sind.

Die Notwendigkeit, innerhalb nützlicher Frist Probleme mit anderen lösen und tragfähige Entscheidungen treffen zu können, nimmt in unserer Gesellschaft des schnellen Wandels ständig zu. Führungskräfte in der Wirtschaft wissen inzwischen, dass Alleingänge in einer Welt der Vernetzungen in die Sackgasse führen. Wirtschaftlicher Erfolg ist mehr denn je von Kooperation und damit von der eigenen Verhandlungskompetenz abhängig. Und gerade da hapert es bei vielen Frauen noch.

Dass besonders Frauen einen Nachholbedarf in Sachen Verhandlungstechnik haben, ist für die Zürcher Unternehmens- und Verhandlungsberaterin Marianne Roth unbestritten. Aus ihrer Beratungs- und Seminartätigkeit weiss sie, dass Frauen dazu neigen, «die persönliche und die Sachebene miteinander zu vermischen und sich dabei zu verheddern.» Statt an der Lösung zu arbeiten, verstricken sie sich zum Beispiel in Gefühle von Widerstand und Ablehnung gegenüber ihren Verhandlungspartnerinnen und -partnern. Vielen Frauen falle es zudem oftmals schwer, die eigenen Bedürfnisse überhaupt wahrzunehmen und zu artikulieren: «Für ihre Familie gehen sie zwar auf die Barrikaden», sagt die Expertin, «aber wenn es um den eigenen Lohn geht, verhalten sie sich still.»

Dominant oder devot

Die meisten Menschen beherrschen die Kunst des Verhandelns nur ungenügend, sie schlagen entweder den dominanten oder den devoten Weg ein. Während die einen eine Verhandlung als Kampf ansehen, den sie unbedingt gewinnen wollen, sind andere so nachgiebig, dass sie um des Friedens willen jeden noch so faulen Kompromiss eingehen. In beiden Fällen gibt es keine Gewinner. Die Rambos unter den Verhandlern mögen kurzfristig Erfolg haben, auf Dauer zerstören sie jedoch ihr Beziehungsnetz. Wer sich von Drohungen und unsauberen Psychotricks unter Druck setzen lässt, fühlt sich in extremen Fällen gedemütigt und sinnt womöglich auf Rache. «Kluge, effiziente und gütliche Einigungen kommen auf beide Arten mit Sicherheit nicht zu Stande», konstatiert der Verhandlungsberater Ulrich Egger.

Nun gibt es einen dritten Weg, der Härte in der Sache mit Sanftheit gegenüber dem Partner vereinigt: die Methode des sachgerechten und interessengeleiteten Verhandelns nach dem Harvard-Konzept, dessen Ziel es ist, Win-Win-Situationen zu schaffen.

Dazu ein Beispiel: Karin hat noch eine einzige Orange in der Obstschale. Da kommen gleichzeitig ihre beiden Kinder Sarah und Marina angerannt. Beide rufen: «Ich will die Orange unbedingt haben.» Was tun? Soll Karin die Frucht zerschneiden? Eine Münze werfen? Die beiden sich selbst überlassen? Intuitiv macht sie das einzig Richtige; sie fragt: «Warum wollt ihr denn die Orange unbedingt haben?» Sarah will einen Kuchen backen und braucht dazu die Schale. Marina hat Durst und würde gern einen frisch gepressten Orangensaft trinken. Die Lösung liegt auf der Hand und befriedigt die Bedürfnisse beider vollumfänglich. Statt sich mit der Hälfte der Schale beziehungsweise mit der halben Frucht zu begnügen, also einen schnellen Kompromiss zu akzeptieren, verlassen zwei zufriedene Gewinnerinnen die Küche.

Verhandlungen nach dem Harvard-Konzept sind keine Hexerei, sondern folgen einem bestimmten Muster, das sich anhand eines Beispiels gut illustrieren lässt: Ein Lastwagenfahrer rast seit Tagen immer wieder mit 70 Kilometer pro Stunde durch ein kinderreiches Quartier und versetzt die dort wohnenden Eltern in Angst und Sorge. Nun sinnen sie auf Abhilfe. Das Harvard-Konzept, das im Wesentlichen auf vier elementaren Prinzipien beruht, kann ihnen dabei wertvolle Dienste erweisen:

Die vier Grundprinzipien

Prinzip I: Sachbezogen diskutieren. Die beteiligten Menschen und das Problem werden getrennt voneinander betrachtet. «In Verhandlungen soll man sich nicht auf sein Gegenüber einschiessen», sagt die Verhandlungsberaterin Marianne Roth, «sondern sich auf das Ziel konzentrieren.» Im Falle des Lkw-Fahrers geht es also nicht darum, ihn abzukanzeln, sondern gemeinsam mit ihm eine Lösung zu finden, die ihm erlaubt, seine Fahrten zu machen und gleichzeitig die Kinder zu schützen.

Prinzip II: Interessen abwägen. Die Parteien konzentrieren sich auf die je individuellen, aber auch die gemeinsamen Interessen, statt sich in ihren Positionen einzugraben. Im Gespräch zwischen dem Lkw-Fahrer und den Eltern wird sich schnell herausstellen, dass die Gesundheit der Kinder ein gemeinsames Interesse ist, das beide Seiten verfolgen. Auch der Chauffeur will einen Unfall verhindern, würde er doch sonst seine Lizenz verlieren. Wenn man ihm im weiteren Verlauf gezielt «Warum»-Fragen stellt, erfährt man womöglich, dass er im Akkord angestellt ist und deshalb so rast. Indem man Verständnis für seine Bedürfnisse zeigt, erleichtert man es ihm, von seiner sturen Einstellung getreu dem Motto «Ich fahre in dem Quartier von jeher siebzig» abzuweichen.

Prinzip III: Optionen suchen. Die Verhandelnden entwickeln Optionen, das heisst Lösungsmöglichkeiten, die im Idealfall beiden Seiten den grösstmöglichen Nutzen bringen. In der Regel finden kreative Köpfe, die sich nicht auf «die einzig denkbare Lösung» fixieren, verschiedene Optionen. Dabei ist es oft hilfreich, wenn man den zu verteilenden «Kuchen» erweitert. Mit dem Lastwagenfahrer würde man also nicht um eine Geschwindigkeitsreduktion von 10 oder 20 Kilometer pro Stunde feilschen, sondern man könnte stattdessen mit ihm eine alternative Route austüfteln oder einen auf die Spielzeiten der Kinder abgestimmten Fahrplan entwerfen.

Prinzip IV: Beweise erbringen. Verhandlungsergebnisse werden unter Einbezug von objektiven Kriterien erzielt. Damit wächst die Chance, tragfähige und überzeugende Lösungen zu finden. Reine Willensentscheide hingegen, bei denen sich der Stärkere durchsetzt, stehen auf wackligen Füssen. Indem man dem Lkw-Fahrer beispielsweise eine Studie vorlegt, die beweist, dass die Gefahr tödlicher Unfälle auf der Strasse ab 70 Kilometer pro Stunde in dem und dem Masse steigt, wird man ihn eher zu einer Verhaltensänderung bringen, als wenn man ihm eine Strassensperre androht.

Aufmerksam zuhören

Abgesehen von diesen Grundprinzipien legt das Harvard-Konzept besonderen Wert auf die Qualität des Zuhörens. Wer beim Verhandeln Erfolg haben will, muss aufmerksam zuhören und die richtigen Fragen stellen können. Ein gutes, entspanntes Verhandlungsklima, in dem sich alle Beteiligten ernst genommen fühlen, hat mindestens ebenso grosse Bedeutung wie die sorgfältige Vorbereitung der Argumente. Sprachliche «Türöffner», weiss Marianne Roth, können Bewegung in eine verfahrene Situation bringen, wie der folgende Gesprächsausschnitt illustriert: «Ich habe nichts gegen Sie persönlich, im Gegenteil, ich bin der Meinung, dass Sie grosszügig und geduldig sind. Andererseits fühle ich mich mit dem vorliegenden Vorschlag unfair behandelt, weil meine Interessen nirgendwo berücksichtigt sind.» Wer so konziliant gegenüber dem Menschen auftritt, aber gleichwohl hart in der Sache bleibt, hat bessere Chancen, mit dem anderen eine Lösung zu finden.

Zunächst ist dies leichter gesagt als getan. Denn Menschen sind oft aufgebracht und wütend, wenn sie in eine Verhandlungssituation geraten. Wer es aber trotzdem schafft, erst einmal tief durchzuatmen und den grössten Zorn verrauchen zu lassen, fährt besser. Ausserdem finden die allermeisten Verhandlungen im Rahmen langjähriger Beziehungen wie Geschäftspartnerschaften, Familien oder Freundschaften statt, und fast allen Menschen ist letztlich die Aufrechterhaltung dieser Kontakte mindestens ebenso wichtig wie das Resultat einer punktuellen Verhandlung.

Das Besondere am Harvard-Konzept liegt darin, dass es den Kompromiss als herkömmliches Verhandlungsziel überwindet und Win-Win-Lösungen sucht, die unterschiedliche individuelle Bedürfnisse aller Beteiligten im Idealfall optimal befriedigen.

Sachbezogenes Verhandeln ist eine praxisorientierte Strategie, die sich für nahezu alle Zwecke eignet. Seine elementaren Prinzipien sind klar und einleuchtend und lassen sich schnell erlernen. Naturtalente unter den Verhandlern wissen von jeher, «dass sie hundert Schritte in den Mokassins ihres Gegners gehen müssen, bevor sie das Kriegsbeil ausgraben» (indianisches Sprichwort). Mit anderen Worten: Sie erfassen instinktiv, wie wichtig es ist, sich ins Gegenüber und dessen Bedürfnisse hineinzuversetzen, und leisten damit einen wichtigen Beitrag zum guten Verhandlungsklima.

Frauen in der Minderzahl

Das Buch «Das Harvard-Konzept» ist inzwischen ein Standardwerk, das in zwanzig Sprachen übersetzt und allein im deutschsprachigen Raum millionenfach verkauft wurde. Der achtzigjährige US-amerikanische Professor Roger Fisher, der das Buch vor mehr als zwanzig Jahren unter dem Titel «Getting to Yes» publizierte, verarbeitete darin Verhandlungserfahrungen aus zwei Jahrzehnten. Ulrich Egger und seine Partner sind die europaweit einzigen Repräsentanten des sich stets weiterentwickelnden «Harvard Negotiation Project» (Harvard-Verhandlungsprojekt) und damit autorisiert, die Verhandlungsmethode unter dem offiziellen Titel zu lehren und zu verbreiten.

Bisher hat Egger rund 15'000 Menschen im sachgerechten Verhandeln unterrichtet und trainiert, davon allerdings nur rund 15 Prozent Frauen. Obwohl Frauen Sicht- und Verhaltensweisen mitbringen, die sie geradezu dafür prädestinieren, das Harvard-Konzept anzuwenden. Sie schenken der Gesprächsatmosphäre grössere Beachtung als Männer und sind mehr prozess- als resultatorientiert. Während Männer oft nur die Vertragsunterschrift im Kopf haben und kaum einen Gedanken an die «Chemie» verschwenden, sind Frauen stärker darauf bedacht, die Beziehungen zu bewahren.

Selbst wenn keine Einigung zu Stande kommt, so Marianne Roth, gewinnen Frauen der Situation oft noch eine positive Note ab: «Okay. Die Verhandlungen haben zwar kein Resultat gebracht; aber immerhin haben wir gut miteinander reden können.» Auf dieser Basis, sagt die Verhandlungsberaterin, könne das Gespräch zu einem späteren Zeitpunkt problemlos wieder aufgenommen werden.

Mediation ist ein Konfliktlösungsverfahren, bei dem die im Widerstreit liegenden Parteien von sich aus einen neutralen Dritten beiziehen. Der Mediator oder die Mediatorin unterstützt sie darin, eine Lösung zu finden. Im Unterschied zu einem Gerichtsverfahren oder einer Schlichtung bestim- men aber die Parteien selber die Ergebnisse. Mediation ist vor allem dann angebracht, wenn die Emotionen zwischen den Verhandlungspartnern einer Einigung im Weg stehen oder wenn der Konflikt hochkomplex ist und von vielfältigen Interessen überlagert wird. Bei Familienstreitigkeiten wie Scheidungen und Erbangelegenheiten ist Mediation inzwischen weit verbreitet. Innerhalb der letzten zehn Jahre haben aber auch Wirtschaft und Politik den Nutzen dieser lösungsorientierten Methode erkannt und setzen Mediatoren beispielsweise bei baurechtlichen Konflikten, umweltbezogenen Problemen oder in Versicherungsstreitigkeiten ein.

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

© Barbara Lukesch