Anonyme Workaholics

Chefs und ihre Ängste / 2. Februar 2006, "Facts"

Symbolbild zum Thema Karriere

Emanuel M. ist beruflich eine ziemlich grosse Nummer mit dicht gedrängter Agenda: Er leitet die IT-Abteilung eines internationalen Konzerns. Aber egal, wie gross der Stress ist, einen Termin nimmt er jeden Monat wahr: den Besuch bei Jean-Claude Gremaud, einem Psychologen. Mit anderen Führungskräften - Firmenchefs, Kaderleuten und Unternehmern - tauscht sich Emanuel M. über persönliche, familiäre und berufliche Probleme aus. Da redet ein Mann aus der Geschäftsleitung eines Pharmakonzerns über seine Angst vor der Pensionierung, weil er sich ein Leben ohne Funktion und Rang nicht vorstellen kann. Der Besitzer eines Familienunternehmens erzählt von der Dauerkrise in seiner Ehe. M. selbst schilderte in der letzten Sitzung, wie sehr ihn die bevorstehende Entlassung mehrerer Mitarbeiter belastet.

Der 39-Jährige legt Wert darauf zu sagen, dass es bei den klandestinen Treffen keinesfalls um esoterisch angehauchte Selbstfindung gehe. Er habe mit «Weicheiern» nichts am Hut, betont M., sondern sei ein «Vollgasgeber», der seine Karriere mit Ehrgeiz und hoher Intensität vorantreibe. Dass er dennoch seit mehr als zwei Jahren den Drang verspürt, mit Männern intime Fragen des beruflichen und privaten Alltags zu besprechen, hat einen klaren Grund: Er fühlt sich einsam in seiner Position. «In der Firma kann ich mit niemandem offen über meine Probleme diskutieren, weil ich nie sicher bin, ob jemand dieses Wissen eines Tages gegen mich verwendet.» Gegenüber Vorgesetzten hüte er sich sowieso, Fragen anzuschneiden, die man ihm als Schwäche auslegen könne; aber auch innerhalb seines Teams sei es für ihn als Chef undenkbar, alle Karten auf den Tisch zu legen. Seiner Ehefrau fehlt der fachliche Hintergrund - deshalb will M. sie in der gemeinsamen Zeit nicht mit seinen Berufssorgen belasten.

80% klagen über Einsamkeit

Leistungswillig, diszipliniert, abgeklärt - solche Attribute werden dem modernen Manager zugeordnet. Der Topshot quält sich frühmorgens vor dem Gang ins Büro mit einer Joggingstunde, um fit zu bleiben. Aber über Gefühle und Ängste reden? Ein Tabu. Dabei klagen 80 Prozent der Chefs über Einsamkeit, wie eine Untersuchung der Universität St. Gallen bei 2700 Schweizer und deutschen Managern zeigt.

Deshalb hat der Psychologe und Psychotherapeut Jean-Claude Gremaud seine «Arbeitsgruppe für Führungskräfte» gegründet. Einer der Teilnehmer spricht lieber vom «Circle-Meeting für Manager». Bei Gremaud treffen sich Führungskräfte aus verschiedensten Branchen mit vergleichbarem Erfahrungshintergrund. Sie betreiben keinerlei gemeinsame Geschäfte. Unter diesen Voraussetzungen, so Gremaud, seien die Einzelnen bereit, sich wirklich zu öffnen und Seiten ihrer Persönlichkeit zu zeigen, die sie im eigenen Unternehmen nie preisgeben würden. Für einmal dürfe die John-Wayne-Haltung des «Ich habe alles im Griff und lade mir die ganze Welt auf die Schultern» aufgegeben werden.

Das Reden über Gefühle gehört für viele Männer immer noch zum Schwie-rigsten. So konstatiert auch Emanuel M., dass er lieber Fragen stellt, Fakten präsentiert, Episoden schildert, als sich in Emotionen zu verlieren. Doch weil die Gruppe höchstens acht, momentan nur sechs Personen umfasst, wagt irgendwann jeder sein Coming-out.

Roland Rasi, Ex-Chef der Bank Leu, weiss, woran die Schweizer Unternehmenswelt krankt - Einsamkeit entstehe, so Rasi, weil es vielerorts an einer ehrlichen und mutigen Feedback-Kultur fehle: «Weil alle Angst haben, den Zorn des mächtigen Chefs zu erregen, hört dieser nur Lob und Schmeicheleien.» Wer all das für bare Münze nehme, entwickle nicht selten ein Unfehlbarkeits-Syndrom: «Kein Wunder», sagt Rasi, «reduzieren die Leute den Kontakt mit einem solchen Chef.»

Der ehemalige Verwaltungsrats-Präsident eines Finanzkonzerns macht vor allem das riesige Misstrauen vieler Manager für deren soziale Isolation verantwortlich: «Ein Mann, der sich über die Jahre an die Spitze gekämpft hat, weiss ganz genau, dass er seine Konkurrenz mitunter auch mit unfairen Mitteln wie dem Vorenthalten von Informationen, dem Streuen von Gerüchten oder dem Anzetteln von Intrigen aus dem Weg geräumt hat.» Folglich werde er auch die Kontaktversuche seiner Umgebung eher misstrauisch beobachten, statt sie vertrauensvoll zu erwidern.

Der Chef im Raubtiergehege

Nach und nach verlieren solche Personen jede Beziehung zur Basis ihres Unternehmens. In schlimmen Fällen wagen sie kaum noch, an einem Firmenapéro aufzutauchen, weil sie sich nicht einmal mehr an die Namen der Anwesenden erinnern. Der deutsche Arbeitswissenschaftler Richard K. Streich traf kürzlich einen Konzernchef, der sich darüber beklagte, dass er zwar von morgens bis abends seine Bürotür offen lasse, aber trotzdem niemand seine Gesellschaft suche: «Was der Mann nicht wusste, war, dass sein Übername in der Firma «Tiger» lautete.» Wer betritt schon freiwillig ein Raubtiergehege? Gremaud sieht immer wieder Klienten, die alles in sich hineinfressen und durchzuhalten versuchen - unter anderem bis hin zum Herzinfarkt. «Wer alles mit sich allein ausmacht, brennt eines Tages emotional aus», sagt Richard Streich. Oder er hilft sich mit Alkohol aus. Im Extremfall kann es sogar zu Katastrophen kommen, wie das Beispiel jenes Kadermannes der Zürcher Kantonalbank zeigt, der in seiner Verzweiflung zwei seiner Vorgesetzten und dann sich selber erschoss.

Um Gefahren wie diese zu bannen, plädiert Ex-Banker Rasi für aktive Schritte: «Jeder Spitzenmann hat es in der eigenen Hand, wie viel er in Beziehungen und Kontakte investieren will.» Rasi liess als Chef der Bank Leu Monat für Monat sechs Mitarbeitende auslosen, mit denen er essen ging. Am liebsten hätte er einen «Hofnarren» gehabt, der ihn mit «bad news» konfrontierte. Der Druck auf die Chefs entsteht auch dadurch, dass es in vielen Firmen an einer Fehlerkultur mangelt. Der deutsche Automobilkonzern BMW versucht das Problem zu lösen, indem er den «Fehler des Monats» kürt. Eine Kultur, die in der Schweizer Unternehmenswelt noch nicht weit verbreitet ist. Hier gehen die Manager lieber diskret ins «Circle Meeting», um über ihre Fehler zu sinnieren.

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© Barbara Lukesch