«Es erfordert Mut, eine gewisse Frechheit und harte Arbeit»

Die besondere Karriere des Jahn Graf / 28. August 2021, Alpha/TA

Symbolbild zum Thema Karriere

Der 31-jährige Rollstuhlfahrer Jahn Graf moderiert seit einer Woche die Sendung «Para-Graf 2020» auf SRF zwei, die allabendlich die Paralympics begleitet. Sein erster grosser Auftritt im Fernsehen ist für den Innerschweizer so etwas wie die Erfüllung eines Traums. Eine Integrationsgeschichte.

Vom Sonderschüler zum Fernsehmoderator mit eigener Sendung: ein atemberaubender Weg, Jahn Graf. Wieso mussten Sie überhaupt die Sonderschule besuchen?

Als ich Mitte der neunziger Jahre eingeschult wurde, war man weder von den baulichen Massnahmen noch vom Fachpersonal her bereit, einen spastisch gelähmten Rollstuhlfahrer wie mich aufzunehmen. Der integrative Ansatz war erst eine Idee, stiess aber bei vielen Leuten immer noch auf grosse Skepsis.

Aber von Ihren kognitiven Fähigkeiten her hätten Sie die Voraussetzungen mitgebracht, um die Regelschule zu besuchen?

Ich nehme es an. Wobei ich selbstkritisch sein muss und zugeben, dass mich die Schule nie gross interessiert hat. Ich habe immer nur das gemacht, was absolut nötig war.

Wie ging es nach der Schule weiter bei Ihnen?

Mit einem notenbefreiten Abschluss, wie ihn alle Sonderschüler haben, war es schwierig eine Lehrstelle zu finden. Ich habe eine zweijährige kaufmännische Anlehre gemacht und buchhalterische Basiskenntnisse erworben. In dem Bereich habe ich dann auf dem geschützten Arbeitsmarkt eine Stelle gefunden.

Wie fühlten Sie sich in dieser Situation?

Es war frustrierend. In meinen alten Schulberichten hiess es immer: «Jahn hat ein breites Allgemeinwissen und ein grosses Redetalent.» Das ist allerdings auf der Strecke geblieben, weil der Computer in meinem Büro nicht mit mir geredet hat. Hätte ich meinen Vorgesetzten gesagt, ich würde gern Journalist werden und in den Medien arbeiten, hätten sie bloss den Kopf geschüttelt.

Aber eines Tages haben Sie auf eigene Faust einen Neuanfang gewagt. Was ist passiert?

Ich habe in dieser Zeit eine eigene Wohnung bezogen und selbständig gelebt. Das gab schnell Konflikte: Von 6 Uhr bis 8.30 Uhr konnte ich autonom entscheiden, ob ich einen Kaffee trinken wollte, bevor ich zur Arbeit nach Luzern fuhr. Nachher musste ich wegen jeder Kleinigkeit um Erlaubnis fragen.

Geben Sie uns ein Beispiel.

Ich hatte immer eine blöde Zugverbindung: morgens war ich eine halbe Stunde zu früh am Arbeitsplatz, abends immer eine halbe Stunde zu spät fertig, um den Zug noch zu erreichen. Also schlug ich vor, eine halbe Stunde früher mit der Arbeit zu beginnen und dafür eine halbe Stunde früher zu gehen. Aussichtslos. Die Begründung: ich hätte ja den Schlüssel vom Büro verlieren können, den ich gebraucht hätte für meinen früheren Arbeitsbeginn.

Erfahrungen dieser Art haben gereicht, um Sie aus der geschützten Arbeitswelt hinauszutreiben?

Es kamen weitere Faktoren dazu. Meine Eltern haben mich immer gepusht und mir gesagt: «Du hast eine Behinderung. Das ist nichts Schlechtes und nichts Gutes. Mach einfach das Beste daraus!» Auf dem Weg zur Volljährigkeit haben sie mir auch grosse Freiräume zum Experimentieren gelassen. Stichwort Alkohol. Tauchten Probleme auf, sind sie nicht darauf herumgeritten, sondern haben gefragt: «Was machst du das nächste Mal besser?»

Und dann ist bei Ihnen der Knopf eines Tages aufgegangen?

Es hat noch ein paar Umwege gebraucht. Ich bekam die Chance, im Rahmen eines Förderprojekts in einem Treuhandbüro auf den Ersten Arbeitsmarkt zu wechseln. Das war zwar eine wertvolle Erfahrung, aber auch dieser Computer schwieg mich von morgens bis abends an. Also wieder nichts mit Kommunikation. Nach einem lebensbedrohlichen Nierenversagen und einer Notoperation hat es dann Klick gemacht und ich habe beschlossen, meinen wirklichen Interessen zu folgen und mich selbständig zu machen. Das Ergebnis war «Jahns rollende Welt», ein Youtube-Kanal, auf dem ich spannende Menschen interviewe, zum Beispiel Rollstuhlsportler Marcel Hug oder Nalani Buob, eines der grössten Schweizer Nachwuchstalente im Rollstuhltennis.

Wie haben Sie das Know how dazu erworben?

Learning by doing. Dazu hat mir mein bester Freund, der im grafischen Bereich tätig ist, geholfen. Er ist eher introvertiert und sehr strukturiert. Ich bin mehr der Extrovertierte und ein bisschen chaotisch. Dank ihm habe ich so etwas wie Planung und Arbeitsorganisation hinbekommen.

Wann kam das Fernsehen ins Spiel?

Ich konnte bei Aeschbacher ein Interview geben und habe an der Sendung «Tabu», in der es um das Thema Behinderung und Humor ging, mitarbeiten dürfen. Daraus hat sich später die Anfrage für die Moderation des Paralympics-Magazins ergeben, was wie die Erfüllung eines Traums war.

Dazu trägt die Sendung auch noch Ihren Namen: «Para-Graf 2020» und macht Sie damit zum Aushängeschild. Welche Reaktionen haben Sie darauf erhalten?

Viele positive, unter anderem von den Parathleten und Parathletinnen, was mich sehr gefreut hat. Was mich ein bisschen betrübt, ist die Ungläubigkeit, mit der einzelne Kollegen aus meinem ehemaligen geschützten Arbeitsumfeld reagierten. Sie zeigten sich erstaunt, dass man mir einen solchen Job anvertraut.

Vielleicht wecken Sie ja mit Ihrer Geschichte auch Neid.

Vielleicht. Das bringt aber niemanden weiter. Vielmehr möchte ich Vorbild sein und andere Menschen mit Behinderung zu mehr Eigeninitiative motivieren.

Was würden Sie Interessierten mit auf den Weg geben?

Sie brauchen ganz sicher viel Fleiss, 70 Prozent ist harte Arbeit, eine Portion Mut, eine gewisse Frechheit und auch die Bereitschaft, nach einem Fehler wieder aufzustehen. Man stirbt nicht, wenn einem mal Gegenwind ins Gesicht bläst. Dazu müsste das Personal aus der geschützten Arbeitswelt ihnen mehr zutrauen. Mir sagen zwar heute einzelne, ich sei so smart und so begabt, aber ihr übriges Klientel würde das nie schaffen. Dann sage ich: «Vor zehn Jahren war ich auch noch Teil eures Klientels und ihr habt mir gar nichts zugetraut, nicht einmal die Kontrolle über den Büroschlüssel.»

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

© Barbara Lukesch