Schutz vor Gewalt im Frauen-Wohnhaus Violetta

Sicherheit auf Zeit / 4. Januar 1996, "Tages-Anzeiger"

Symbolbild zum Thema Gewalt

Carmen S., die von ihrem Mann getötete Peruanerin, appellierte dutzendfach an die Behörden, ihr zu helfen - vergeblich. Das ist kein Einzelfall. Die Gleichgültigkeit von Polizei und Justiz belastet auch den Alltag des ersten Frauenhauses in der Schweiz, das Ausländerinnen für Ausländerinnen betreiben.

Patricia A.* ist nervös. Ihr Mittagessen rührt sie nicht an, statt dessen raucht sie Zigarette um Zigarette. Sie stellt sich vor den Spiegel im Flur und versucht mit fahrigen Bewegungen, sich ein Tuch um die Haare zu schlingen. Als das misslingt, greift sie nach einer Perücke und stülpt sie sich ungeschickt über den Kopf. Die 29jährige Thailänderin hat an diesem Nachmittag einen Arzttermin. Sie befürchtet, dass ihr Mann sie auf der Strasse abfangen und erneut misshandeln könnte. Mit ihrer Maskierung will sie verhindern, dass er sie auf den ersten Blick erkennt.

Die Geschichte von Patricia A. ist von körperlicher und sexueller Gewalt geprägt. Seit sieben Jahren ist sie mit einem Schweizer verheiratet und hat zwei Kinder mit ihm. Weil ihr Mann sie immer wieder schlug, trat und vergewaltigte, beantragte sie die Scheidung. Er reagierte hasserfüllt, mit noch schlimmeren Misshandlungen, und trieb die Frau samt den Kindern in die Flucht. Immer wieder spürte er sie auf, griff sie an, schlug sie brutal zusammen. Ihre Hilferufe bei der Polizei, auf Ämtern und in einem Heim, in dem sie kurzfristig wohnte, verhallten ungehört. Obwohl ihr Mann vor Polizisten lauthals damit drohte, er werde sie umbringen und die Kinder entführen, wurde nichts zu ihrem Schutz unternommen. Im Gegenteil: Sie muss damit rechnen, dass er nach der Scheidung das Besuchsrecht für die Kinder bekommt.

Gegründet von Ausländerinnen

Mittlerweile hat Patricia A. mit ihrem Sohn und ihrer Tochter im Wohnhaus "Violetta" Unterschlupf gefunden. Das "Violetta" ist ein besonderes Haus. Es existiert, nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit, seit gut einem Jahr und beherbergt mehrheitlich Ausländerinnen und deren Kinder, die sich in einer Notlage befinden. Neu und einzigartig an dieser Einrichtung der Stadt Zürich ist, dass sie von ausländischen Frauen gegründet wurde und auch von ihnen geleitet und betrieben wird. Eine einzige Schweizerin gehört zum achtköpfigen Team, das sich aus einer Ex-Jugoslawin, einer Brasilianerin, einer Ghanaerin, einer Thailänderin, eine Kosovo-Albanerin, einer Italienerin und einer Spanierin zusammensetzt. Die gemeinsame Sprache ist Hochdeutsch; anzubieten haben die acht Frauen allerdings Kenntnisse in insgesamt siebzehn Sprachen.

Notwendig wurde die Gründung des "Violetta", weil immer mehr Migrantinnen aus der Dritten Welt von physischer, psychischer und sexueller Gewalt durch ihre Partner betroffen sind. Im Frauenhaus Winterthur beispielsweise nahm die Zahl der schutzsuchenden Ausländerinnen innert vier Jahren von 39 auf 64 Prozent zu. Die Zürcher Sozialamtsvorsteherin Monika Stocker sorgte schliesslich dafür, dass das Projekt "Violetta", befristet zunächst auf ein Jahr, realisiert werden konnte. Im Verlauf der ersten zwölf Monate wurden 57 Frauen und 52 Kinder aufgenommen; angefragt hatten doppelt so viele. Das grosse dreistöckige Haus ist mit einer Alarmanlage und einer Flutlicht-Installation versehen. Es ist ruhig gelegen, zwischen Wiesen und Wäldern, irgendwo in einer Zürcher Gemeinde, deren Name aus Sicherheitsgründen geheimgehalten wird.

Migrantinnen sind Gewalt und Misshandlungen oft noch stärker ausgeliefert als Schweizerinnen. Fernab von ihrer Heimat und Herkunftsfamilie, vielfach in Unkenntnis der deutschen Sprache und sozial isoliert, haben sie grosse Mühe, sich selbständig zurechtzufinden. Auch im "Violetta" treffen immer wieder Frauen ein, die nicht wissen, wie man ein Bahnbillett löst oder ein Bankkonto eröffnet, die keine Ahnung haben, was eine AHV-Karte ist oder in welcher Krankenkasse sie versichert sind.

Manchen Frauen droht die Ausweisung

Oft stehen die Betroffenen, selbst wenn sie jahrelang erwerbstätig waren, mit leeren Händen da und sehen keine Möglichkeit, sich finanziell über Wasser zu halten. Aufenthalts- und scheidungsrechtliche Bestimmungen verstärken die Abhängigkeit dieser Frauen von ihren Partnern zusätzlich. Denn diejenigen, die dem Asylrecht unterstehen oder nur über sogenannte B- oder Jahresbewilligungen verfügen, verwirken bei Trennung oder Scheidung von ihren Männern sehr oft ihr Recht auf Aufenthalt in der Schweiz. Mit anderen Worten: Verlässt die Türkin ihren Schweizer Ehemann, droht ihr umgehend die Ausweisung.

Auch das "Violetta"-Team bekommt die Auswirkungen dieser gesetzlichen Hürden immer stärker zu spüren. So erinnert sich Lourdes Gallmann Pereira, eine der beiden Leiterinnen, an eine Frau aus Indien, die "massivst von ihrem Mann geschlagen und vergewaltigt worden ist", einen Selbstmordversuch unternommen habe, später mit ihrem Baby auf die Strasse geflohen sei, bei der Heilsarmee untergekommen und nachher bei ihnen gelandet sei. Obwohl diese Frau eine "katastrophale Geschichte" hinter sich gehabt habe, sei sie zur Rückkehr zu ihrem Mann gezwungen gewesen. Bei einer Trennung hätte ihr die Ausweisung aus der Schweiz gedroht; in Indien hätte sie mit der Bestrafung durch ihre Familie rechnen müssen, die es nicht toleriert, wenn eine Ehefrau ihren Mann verlässt. Gallmann Pereira: "Diese Frau hatte keine Wahl."

Rund 40 Prozent der hilfesuchenden Frauen sind mit Schweizern verheiratet; die übrigen leben mit Landsmännern oder anderen Ausländern zusammen. Zehn Prozent der "Violetta"-Bewohnerinnen stammen aus der Schweiz. Ängste, Spannungen und Ungewissheit, die auf allen Bewohnerinnen lasten, drücken auch auf die Stimmung im Haus. Immer wieder, so erzählt Mitarbeiterin Barbara Burri Sharani, komme es zu Konflikten: "An simplen Fragen wie der Haushaltführung entzündet sich ein Streit, dessen wahre Ursachen aber viel tiefer in der Geschichte der Frauen liegen."

Den Alltag strukturieren

Doch nebst allen Konflikten herrscht im "Violetta" ein Klima der Solidarität und Unterstützung vor. Frauen, die teils nicht einmal eine gemeinsame Sprache sprechen, verständigen sich mit Händen und Füssen, hüten einander die Kinder und machen erste gemeinsame Versuche im Deutschlernen. Jeder Bewohnerin wird zudem eine Teamfrau zugeteilt, die mit ihr gezielte Beratungsgespräche führt. Ansonsten wird der Alltag von Terminen bei Ämtern, Ärzten, Anwältinnen oder Psychotherapeutinnen strukturiert. Nach drei Monaten, so sieht es das Konzept des "Violetta" als Stätte der Krisenintervention und Übergangslösung vor, müssen die Frauen das Haus verlassen. Nicht zuletzt wegen seiner Abgeschiedenheit, die grösseren Kindern einen Schulbesuch nahezu unmöglich macht und den Bewegungsspielraum der Bewohnerinnen erheblich einschränkt, wird nur in dringenden Fällen ein längerer Aufenthalt toleriert.

Erstaunlicherweise ist es rund 18 Prozent der bisherigen Bewohnerinnen gelungen, innerhalb dieser kurzen Zeit eine eigene Wohnung zu finden; jede vierte fand in anderen frauenspezifischen Institutionen Unterkunft, und weitere 25 Prozent der Frauen kehrten zu ihren Partnern zurück.

Ein Jahr nach Eröffnung des "Violetta" blicken das Team und seine beiden Leiterinnen zuversichtlich in die Zukunft. Vor kurzem hat die Stadt die provisorische Betriebsbewilligung um weitere sechs Monate verlängert. Wie es dann weitergeht, ist ungewiss. Doch Jelena Gasser-Markovic, die zweite Leiterin, ist überzeugt, "dass man ein solches Haus, dessen Nutzen unbestritten ist, nicht wieder sang- und klanglos sterben lassen kann".

* Name von der Redaktion geändert.

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© Barbara Lukesch