Frauen als Sexualdelinquentinnen

Kann das sein? / Juli 1997, "Annabelle"

Symbolbild zum Thema Gewalt

Claudia W.* war ein einsames Kind. Ihre Mutter, die unter der Gewalttätigkeit ihres Mannes und eigenen Alkoholproblemen litt, hatte es geschafft, das kleine Mädchen vollständig zu isolieren und an sich zu binden. Immer wieder warf sie ihrer Tochter an den Kopf, wie dumm und unansehnlich sie sei - eine Zumutung geradezu für andere Menschen. Dermassen gedemütigt und abgewertet wagte es das Kind gar nicht erst, Freundschaften mit Gleichaltrigen zu schliessen. Stattdessen verschanzte sich Claudia daheim und wurde immer abhängiger von ihrer Mutter, die ihr als einzige doch hin und wieder noch etwas Zuneigung entgegenbrachte.

Der Preis, den das Mädchen dafür zahlte, war hoch: Nacht für Nacht musste es gegen seinen Willen im Bett der Mutter schlafen. Dabei nötigte diese der Sechsjährigen immer wieder Zungenküsse auf, berührte sie an den Genitalien und liess sich von ihr oral und mit der Hand befriedigen. "Ich ertrug die ekelerregende Tortur", sagt Claudia W., "jedesmal im Zustand der inneren Versteinerung". Sie sei absolut wehrlos gewesen und hätte nicht die geringste Ahnung gehabt, wie sie sich den Übergriffen hätte entziehen können. Als sie dreizehn Jahre alt wurde, liess ihre Mutter von einem Tag auf den anderen von ihr ab. Heute - im Alter von 28 Jahren - hat Claudia W. schon lange keinen Kontakt mehr zu der inzwischen 62jährigen Frau. Eine langwierige und sehr schmerzhafte Psychotherapie hat ihr dabei geholfen, ihre Gefühle von Hass, Verzweiflung und Ekel besser in den Griff zu bekommen.

"Frauen fehlt die Tatwaffe"

Frauen als Sexualdelinquentinnen? Mütter, die ihre Kinder sexuell ausbeuten? Da streikt gemeinhin unser Vorstellungsvermögen. Viele halten es schlicht für unfassbar, dass das weibliche Geschlecht, das immer noch als Inkarnation von Selbstlosigkeit, Friedfertigkeit und auch Asexualität gilt, sich derart scheusslicher Verbrechen schuldig macht. Frauen, so will es das Vorurteil, sind Opfer, aber mitnichten Täterinnen und schon gar keine sexuellen Ausbeuterinnen.

Wo käme unsere Gesellschaft auch hin, wenn sie die idealisierte Mutter-Kind-Beziehung einer kritischen Prüfung unterziehen müsste und zum Schluss käme, dass die sanftmütigen Hegerinnen und Pflegerinnen mitunter auch von gewalttätigen Impulsen getrieben werden? Was nicht sein kann, darf nicht sein. Und so hält sich auch ein Missverständnis hartnäckig, das ein Buchautor bereits 1972 schriftlich fixierte: "Dass die Mutter ein hilfloses Kind zu sexuellen Spielen verführen sollte, ist undenkbar, und selbst wenn sie es täte - welcher Schaden kann ohne Penis schon angerichtet werden?" Mit anderen Worten: Frauen fehlt die Tatwaffe.

Inzwischen sind 25 Jahre vergangen. Die Debatte über sexuellen Missbrauch hat weite Kreise sensibilisiert. Das Thema ist in aller Munde. Insbesondere den feministischen Kinderschützerinnen ist es zu verdanken, dass dieser dunkle gesellschaftliche Fleck an das Licht der Öffentlichkeit gezerrt und analysiert wurde. Fazit: Jedes vierte Mädchen und jeder siebte Knabe werden sexuell ausgebeutet. Die Täter sind männlich.

Noch 1991, als das deutsche Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" erstmals einen Artikel veröffentlichte, in dem beschrieben wurde, dass auch Mütter ihre Söhne sexuell missbrauchen, setzte in den interessierten Fachkreisen Deutschlands, aber auch der Schweiz ein Sturm der Empörung ein. Christian Wüthrich, der Leiter der Kinderschutzgruppe am Berner Inselspital, erinnert sich noch gut an die aufgebrachten Reaktionen: "Dieser Artikel galt vor allem unter Feministinnen als Skandal." Das Misstrauen der Fachfrauen gegenüber dem neuen Medienthema war nicht zuletzt deshalb so gross, weil sie befürchteten, dass es einzig dazu diene, so eine Expertin, "die der sexuellen Gewalt beschuldigten Männer aus der Schusslinie zu nehmen."

25 Prozent der Täter sind weiblich

Seither allerdings hat die fortgesetzte Beratungs- und Aufklärungsarbeit zu sexuellem Missbrauch Tatsachen zutage gefördert, die sich nicht länger leugnen lassen. So konstatiert Peter Lacher, der Leiter der Zürcher Beratungsstelle "Männliche Opfer sexueller Gewalt": "In rund 25 Prozent aller Fälle, die wir behandeln, haben wir es mit Täterinnen zu tun, mit Frauen also, die von sich aus initiativ werden und sich an Knaben oder männlichen Jugendlichen sexuell vergreifen."

Immer häufiger handle es sich dabei um Frauen, die in Scheidungssituationen stünden und ihre Söhne als Partnerersatz missbräuchten: "Da wird ein Knabe", so Lacher, "zum Beispiel aufgefordert, ins Bett der Mutter zu kommen, mit ihr zu kuscheln, zu schmusen, wieder an ihrer Brust zu saugen und mitunter auch mit ihr den Geschlechtsakt zu vollziehen."

Eine weitere Form sexueller šbergriffe, die sich vor allem Mütter zuschulden kommen liessen, ereigne sich im Rahmen von Pflegehandlungen wie der Genitalhygiene. Da würden Frauen ihren Söhnen weit über das angemessene Alter hinaus den Penis waschen und dessen Form und Grösse prüfenden Blicken und Griffen unterziehen.

Nicht selten seien männliche Jugendliche zudem der sexuellen Gewalt von Klavier-, Tanz- oder Sportlehrerinnen ausgesetzt. Mit dem Verweis auf die erwachende Männlichkeit ihrer Schüler würden sexuelle Handlungen erzwungen: "Ein angehender junger Mann wie du findet Sex doch toll!" Leiste dieser Jüngling trotzdem Widerstand, werde gern seine Männlichkeit in Frage gestellt: "Ach, du bist noch gar kein richtiger Mann." Derart subtil manipuliert und noch dazu verwirrt angesichts seiner "ungewünscht" eintretenden Erektionen, seien diese Jugendlichen den Täterinnen hilflos ausgeliefert und würden unter grossen Scham- und Schuldgefühlen leiden.

Einer der schwerwiegendsten Fälle von sexueller Gewalt, mit dem Lachers Beratungsstelle in jüngster Zeit konfrontiert war und in dem inzwischen auch ein Strafverfahren eingeleitet wurde, betraf den jahrelangen sexuellen Missbrauch eines Enkelsohns durch seine Grossmutter.

Nur 16 Verfahren in einem Jahr

Strafanzeigen werden allerdings höchst selten eingereicht. Gemäss der Schweizer Kriminalstatistik wird Jahr für Jahr nur gegen 2 bis 3,5 Prozent Sexualdelinquentinnen ermittelt. Im Kanton Zürich wurden 1996 sechzehn Verfahren gegen Frauen angestrengt, die eines Sexualdelikts beschuldigt wurden. In der Frauenstrafanstalt Hindelbank sass, gemäss Direktorin Marianne Heimoz, noch keine Sexualtäterin ihre Strafe ab. Nichtsdestotrotz rechnen Fachleute mit einer erheblichen Dunkelziffer. In rund zehn Prozent der Fälle von sexueller Gewalt, schätzen sie, sei von Täterinnen auszugehen.

Der Zürcher Staatsanwalt Andreas Brunner, der spezialisiert ist auf Sexualdelikte gegen Kinder und Jugendliche, hatte in den letzten Jahren mehrmals mit Strafuntersuchungen gegen Frauen zu tun, die ihre Söhne und Töchter pädosexuellen Männern oder den Produzenten von Kinderpornographie zuführten. In einem aktuellen Verfahren ermittelt er wegen aktiver Mittäterinnenschaft. In dem berüchtigten Schwamendinger Fall, in dem es um die wiederholte brutale Vergewaltigung eines Mädchens durch seinen Vater geht, hat er deren Mutter wegen sogenannter Gehilfenschaft, das heisst, dem passiven Gewährenlassen des männlichen Täters, angeklagt.

Mit Fällen dieser Art ist Brunner am häufigsten konfrontiert. Da wissen Mütter um das schreckliche Geschehen und schauen trotzdem weg; da ahnen Frauen, was ihren Kindern widerfährt, und verdrängen es trotzdem oder lassen sich vom Täter, ihrem Partner, weismachen, dass ihm ein "einmaliger Ausrutscher" passiert sei und dass es nie wieder vorkommen werde. Andere sind selbst Opfer der Gewalt ihres Ehemannes und damit handlungsunfähig. Viele Frauen befürchten zu Recht, dass das Aufdecken des Verbrechens ihre materielle Sicherheit, aber auch ihr soziales Netz zerstören und damit auch ihre Kinder erneut treffen würde.

Schwierige Konfliktsituation

Die 32jährige Katharina P.* wurde während acht Jahren von ihrem Pflegevater sexuell ausgebeutet. Im Alter von elf Jahren nötigte er sie erstmals auch zum Geschlechtsverkehr. Ihre Pflegemutter, eine unsichere und in höchstem Masse von ihrem Gatten abhängige Frau, wusste von Anfang an, was unter ihrem Dach geschah. Wiederholt hatte ihr Ehemann die Unverfrorenheit gehabt am Familientisch zu behaupten, dass sein Tun nicht ungesetzlich sei, da er nicht mit Katharina verwandt sei. Seine Frau schwieg. Im Alltag allerdings schikanisierte sie das hilflose Mädchen, indem sie es ins Zimmer einsperrte und wochenlang nicht mit ihm redete. Ihre Pflegemutter, weiss Katharina P. heute, sei dermassen in ihren eigenen Gefühlen von Wut, Ohnmacht, aber auch Eifersucht auf sie verstrickt gewesen, dass sie unfähig gewesen sei, adäquat zu handeln und sie vor dem Täter zu schützen. Damals habe sie ihr herzloses Verhalten allerdings schier in den Wahnsinn getrieben: "Von einer Frau erwartet ein Kind doch Liebe und Geborgenheit."

Nicht selten schlägt dann diesen Frauen auch ein besonders rauher Wind entgegen, und sie werden als Mitschuldige und Mittäterinnen gebrandmarkt. Doch die Psychotherapeutin und Missbrauchs-Expertin Franziska Greber Bretscher hält dagegen, dass sich diese Mütter selber in einer schwierigen Konfliktsituation befänden: "Egal, was sie tun", sagt Greber Bretscher, "sie machen es falsch." Decke eine Mutter den Missbrauch auf und zeige ihren Partner an, werde sie nur allzu oft als "rachsüchtige Person" verschrien, der es nur darum gehe, das Sorgerecht für ihr Kind zu erstreiten, und es werde ihr der "Missbrauch des Missbrauchs" vorgeworfen. Handle sie nicht, gelte sie über kurz oder lang als Mitschuldige, die es unterlassen habe, Partei für ihr Kind zu ergreifen: "Das ist ein unlösbarer Konflikt."

Die Mittäterin von René Osterwalder

Komplizinnen, die diesen Namen wirklich verdienen, sind in letzter Zeit vermehrt ins Rampenlicht der Öffentlichkeit getreten und haben die Diskussion um die Rolle von Frauen bei Sexualverbrechen angeheizt. Da gibt es Augusta S., die "schöne Zahnarzttochter aus gutem Haus und Jus-Studentin" (SonntagsZeitung, 28. März 1993), die sich trotz besserem Wissen auf den Kinderschänder Rene Osterwalder einliess. Sie ist gemäss psychiatrischem Gutachten eine Person mit "wenig Eigeninitiative" und "schwacher Identität". Kurz nachdem sie den Computerfachmann kennenlernte, brach sie ihr Studium ab, arbeitete in seiner Firma und kapselte sich von ihrer Familie ab - mit anderen Worten, sie lieferte sich ihrem Freund vollständig aus. Gleichzeitig soll Osterwalder auch sie vergewaltigt haben. Kürzlich wurde Augusta S. von der Zürcher Staatsanwaltschaft eines Mordversuchs, der mehrfachen Körperverletzung und zahlreicher Delikte gegen die sexuelle Integrität, darunter der sexuelle Missbrauch eines zwölfjährigen Knaben, angeklagt. All das sind Taten, die sie gemeinsam mit Osterwalder begangen haben soll.

In einer ähnlichen Hörigkeit befand sich auch Michele, die Partnerin des belgischen Sexualmörders Marc Dutroux, die zumindest teilweise von seinen Verbrechen Kenntnis hatte, aber trotzdem schwieg und bei ihm blieb. Sie war auch mitschuldig am Tod der beiden in einem Kellerverlies eingesperrten Mädchen Julie und Melissa, da sie es unterliess, sie mit Essen und Trinken zu versorgen. In beiden Fällen haben die Frauen mit strafrechtlichen Konsequenzen zu rechnen.

Häufiger allerdings spielt sich die sexuelle Ausbeutung durch Frauen in einer verschwommenen Grauzone ab, in der die Opfer nur schon Mühe haben, den šbergriff als solchen zu erkennen und zu benennen. Natürlich gibt es die Mutter, die sich gemeinsam mit ihrer fünjährigen Tochter einen Pornovideo anguckt und dabei beiden einen Massagestab einführt. Eine solche Tat ist eindeutig als Übergriff zu identifizieren, doch sie stellt die Ausnahme und den Einzelfall dar.

Emotionale Verführung

Frauen, so erklären Fachleute übereinstimmend, würden subtiler vorgehen und ganz selten körperliche Gewalt anwenden, um zum Ziel zu kommen. Wesentlich stärker bedienten sie sich "der emotionalen Verführung" und würden ihre Opfer "mittels psychischer Gewalt manipulieren und in Schuldgefühle verstricken."

Dieses Vorgehen hat für die Betroffenen fatale Folgen. Verwirrt bleiben sie zurück und zweifeln schliesslich an sich selber und ihrer Wahrnehmung: "Ich spinne wohl." Was soll auch der 30jährige leicht behinderte Mann bemängeln, der noch immer täglich von seiner Mutter im Genitalbereich gewaschen wird? Klagt er, seine Mutter missbrauche ihn, wird sie diesen Vorwurf empört zurückweisen und ihr Tun mit Hygiene und Körperpflege rechtfertigen. Der Berner Kinderpsychiater Christian Wüthrich taxiert ihr Verhalten dennoch "eindeutig als šbergriff."

Der deutsche Soziologie-Professor Gerhard Amendt ermittelte in seiner Studie "Wie Mütter ihre Söhne sehen" (1993), dass 70 Prozent der befragten Frauen dafür plädieren, dass "jede Mutter eigentlich regelmässig darauf achten sollte, ob sich der Penis ihres Sohnes richtig entwickelt." Mehr als die Hälfte der Antwortenden erklärte zudem, dass sie "vorbeugend gegen eine Vorhautverengung" bei ihrem Sohn tätig werde, indem sie "seine Vorhaut öfters zurückstreife", "mit warmem Wasser wasche" oder "seinen Penis regelmässig untersuche".

Ein erstaunliches Ergebnis - in der Tat. Doch machen sich all diese Mütter nun auch sexueller Übergriffe schuldig? "In dem Moment", sagt Psychotherapeutin Greber Bretscher unmissverständlich, "in dem eine Frau diese Handlungen vornimmt, um ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, sie aber als Pflegeleistungen zugunsten ihres Sohnes ausgibt, beginnt die sexuelle Ausbeutung."

* Namen geändert

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© Barbara Lukesch