Doktor Workaholic

Frank Urbaniok / 21. Februar 2002, "Facts"

Symbolbild zum Thema Gewalt

Als Peter Sutter* vor sechs Jahren erstmals im Psychiatrisch-Psychologischen Dienst PPD des Zürcher Amtes für Justizvollzug erschien, hatten alle den knapp Fünfzigjährigen abgeschrieben, der während mehr als 30 Jahren seine pädosexuelle Veranlagung ausgelebt hatte. Konnte er sich überhaupt noch bessern? Oder sollte er nicht erst einmal weggeschlossen werden?

Doch Frank Urbaniok, damals noch Oberarzt und inzwischen Chefpsychiater des PPD, gab Sutter eine Chance. Er plädierte dafür, ihn sowohl in einer Einzel- wie auch in einer Gruppentherapie zu be-handeln. Sutter begab sich auf den langen Weg. Phasen schwerer Depressionen, begleitet von Suizidgedanken, wechselten mit Zeiten, in denen er nach und nach Mechanismen entwickelte, die ihn vor einem Rückfall bewahrten.

Heute, sechs Jahre später, steht Sutter vor dem Ende seiner Therapie. Psychiater Urbaniok und sein Klient sitzen sich in einem Büroraum des PPD an der Zürcher Feldstrasse gegenüber zum Abschlussgespräch. Sutter, ein kräftiger Mann mit der Ausstrahlung eines grossen Kindes, beteuert, dass er im Verlauf der vergangenen zwölf Monate keinerlei Kontakt zu Knaben oder Mädchen gehabt habe. Geradezu naiv gesteht er, dass er einmal einen Acht-, Neunjährigen in einem Einkaufszentrum dabei beobachtet habe, wie dieser bei der Lektüre des «Bravo» onanierte: «Aber mehr war da nicht; ich bin meiner Wege gegangen.» Er ergänzt: «Sie wissen ja, Herr Urbaniok, ich sehe das heute mit ganz anderen Augen.» Urbaniok hört ihm aufmerksam zu. Wohlwollend. Gleichwohl konfrontiert er Sutter unerbittlich mit Fragen: «Gab es dank Internet mehr sexuelle Fantasien? Verspürten Sie je das Bedürfnis, Ihre Fantasien in die Tat umzusetzen?» Sutter verneint, räumt nur ein, dass er hin und wieder «schöne Bilder von Mädchen mit Zöpfen» heruntergeladen habe, «nichts Sexuelles, sicher nicht».

10'000 Konsultationen pro Jahr

Es gibt Fachleute, die sich die Haare raufen bei der Vorstellung, einen wie Sutter überhaupt zu behandeln. Urbaniok hält nüchtern dagegen: «Herr Sutter hatte während viereinhalb Jahren keinen Rückfall. Ich halte seine Aussagen für glaubhaft und stelle ihm eine günstige Prognose.» Therapeutische Arbeit mit Sexual- und Gewaltstraftätern gehört zum beruflichen Alltag von Frank Urbaniok. Darüber hinaus ist er als Chef des PPD verantwortlich für die psychiatrische Versorgung aller Gefängnisse des Kantons Zürich, darunter auch die Strafanstalt Pöschwies in Regensdorf, wo die ganz «schweren Jungs» einsitzen. Er erstellt Gerichtsgutachten, ist aber auch zuständig für Forschungsprojekte.

Jahr für Jahr betreut sein Dienst rund 1300 Klienten in über 10 000 Konsultationen und verzeichnet damit seit 1997 eine Zuwachsrate von 250 Prozent. Die Gründe für diese europaweit einmalige Nachfrage ortet Urbaniok sowohl in der Monopolstellung des PPD wie auch im steigenden Bekanntheitsgrad. Dazu ist er ausserordentlich erfolgreich bei der Senkung von Rückfallquoten: In den letzten drei Jahren wurde nur ein einziger Fall unter den Sexual- und Gewaltdelinquenten bekannt.

Auch wenn Urbaniok immer von «wir» spricht und damit sein 26-köpfiges Team meint, wird der PPD in der Öffentlichkeit nahezu ausschliesslich mit seiner Person identifiziert. Der 39-jährige Deutsche hat fast den Status eines Prominenten erlangt. Doch wer ist dieser Mann mit dem eigenwilligen Gesicht, der auf Fotos manchmal fast böse und wieder sanft wie ein Jüngling in die Welt blickt? Wer verbirgt sich hinter diesem rhetorisch brillanten Interviewgast, der heute im «10 vor 10»-Studio eine Einschätzung der Parkhausmörderin Caroline H. abgibt, morgen im «Zischtigs-Club» eine bestechende Typologisierung des Serienmörders Friedrich Leibacher liefert und anderntags auf einem Podium mit den Verantwortlichen der Initiative zur lebenslangen Verwahrung von unbehandelbaren Sexualstraftätern debattiert?

Urbaniok ist ein überdurchschnittlich begabter Kommunikator, der auch vor grossem Publikum frei und druckreif spricht. Er ist ausgesucht höflich und respektvoll im Umgang, kann gut zuhören, weiss aber gleichzeitig haargenau, was er will. Diese Mischung aus Zurückhaltung und Durchsetzungskraft wirkt auf viele anziehend. Dazu geniesst er in weiten Teilen der Fachwelt hohe Wertschätzung.

Einmalige Chance genutzt

Diese hat sich der Sohn einer Düsseldorfer Arbeiterfamilie erstmals als Begründer des so genannten Langenfelder Modells erworben. Als er noch keine 30 Jahre alt war, bekam der Mediziner das Angebot, eine Station mit neun persönlichkeitsgestörten Sexualstraftätern in Langenfeld in der Nähe von Köln zu leiten. Er wusste, dass die Klienten seinem Vorgänger und dessen Personal «aus dem Ruder gelaufen waren». Doch gleichzeitig witterte er die Chance, etwas in grosser Freiheit neu aufzubauen. Urbaniok nutzte sie und entwickelte ein Behandlungsprogramm für Sexualdelinquenten.

Nach Zürich wechselte Urbaniok vor allem, weil er von der europaweit einzigartigen Konstruktion des PPD fasziniert war. Dass die Gerichtspsychiatrie innerhalb der Justizdirektion angesiedelt war und damit direkten Zugang zum Strafvollzug hatte, hielt er für «genial». Er war überzeugt, dass es dank dieser Rahmenbedingungen gelingen würde, die Arbeit der Psychiater und Therapeutinnen in den Gefängnissen, Straf- und Arbeitserziehungsanstalten wirkungsvoller zu gestalten. Sein Enthusiasmus steckte seine Umgebung an.

1997 übernahm er die Leitung des PPD und zündete ein Feuerwerk an Ideen und Projekten: forcierte Gruppentherapien. Rief innerhalb der Strafanstalt Pöschwies das ambulante Intensivprogramm AIP für verwahrte Sexual- und Gewaltstraftäter ins Leben. Initiierte mit dem Zürcher Universitätsspital eine Evaluationsstudie, die auf der international einmaligen Datenbasis von 700 Sexual- und Gewaltdelinquenten Aufschlüsse zu deren Rückfälligkeit geben soll. Entwickelte den Therapie-Evaluationstest, kurz Tret, ein differenziertes Arbeitsinstrument für Gutachter, mit dessen Hilfe die Qualität von Prognosen verbessert werden soll. Als er den Tret jüngst an der Universität Irchel den Fachleuten präsentierte, reiste das Publikum aus dem gesamten deutschsprachigen Raum an.

Wer sich dermassen exponiert, löst nicht nur Bewunderung aus. Fasst man die Vorwürfe zusammen, die gegen Urbaniok erhoben werden, muss er macht- und mediengierig und selbstgerecht sein. Er lebe mit diesen Aussagen, konstatiert er achselzuckend, erfahre nie, von wem sie stammten, und könne auch nicht Stellung nehmen: «Wozu soll ich mich aufregen?» Dass er unter Bundesbeamten in Bern den Übernamen «Dr. Mabuse» trägt, weil er letztlich unkontrollierbar sei, hört er zum ersten Mal. Das amüsiert ihn, lässt ihn aber auch etwas irritiert zurück.

"Ich bin eben ein Preusse"

Er sagt: «Meine Person zieht Kritik an.» Das habe, meint er, mit seiner deutschen Herkunft zu tun und der Art von Selbstbewusstsein, die er verkörpere. Auch das Tempo, das er innerhalb des PPD angeschlagen habe, behage nicht allen. Dazu sei er ein Mensch, «ein Preusse eben», der hohe Ansprüche stelle. Unbeeindruckt hält er fest: «Wir wollen innerhalb des PPD Therapie- und Prognosestandards setzen und nicht nur unverbindliche Statements abgeben.» Dennoch wird insbesondere seine therapeutische Arbeit mit schweren Sexual- und Gewaltstraftätern in der Strafanstalt Pöschwies teilweise harsch kritisiert. Der Chefpsychiater weiss, dass es Leute gibt, «die nur darauf warten, dass wir im Rahmen der ersten demnächst anstehenden Urlaube einen Rückfall haben». Dann würden die Kritiker aus der Deckung kommen. Sachliche Entgegnungen, das ahnt er, werden schwierig sein, wenn sich die Hysterie mit parteipolitischen Interessen paart.

Der Tatsache, dass auch therapierte Sexual- und Gewaltstraftäter rückfällig werden, ist sich Urbaniok «absolut bewusst». So betont er mehr als einmal, dass die Arbeit des PPD seit geraumer Zeit auf einer «Glückswelle» reite und dass die geringe Anzahl von Rückfällen statistisch gesehen zu tief sei. Um die Problematik einer breiten Bevölkerung vor Augen zu führen, nutzt er gezielt die Medien. Er will informieren und seine Arbeit zur Diskussion stellen, deren gesellschaftspolitische und menschliche Brisanz ihm auch im Jahr neun nach dem Mord auf dem Zollikerberg klar vor Augen steht.

Unerbittliche Haltung

Urbanioks Sätze sind in Stein gemeisselt. Nummer eins: «Unsere Arbeit ist dem Opferschutz und der Sicherheit der Bevölkerung verpflichtet.» Nummer zwei: «Wir therapieren immer dann, wenn wir Rückfallquoten senken können, egal ob ein Täter psychisch krank oder gesund ist.» Er ist unerbittlich, wenn er einen Sexualmörder wie Erich Hauert einstuft: «Wenn es nach mir geht, wird einer wie er das Gefängnis nie wieder verlassen.» Was Urbaniok leitet, ist der Pragmatismus des Dienstleisters, dessen oberste Frage lautet: «Was ist sinnvoll und nützlich?» So gesehen passt er auch in keine Schublade. Da kann er heute ungerührt die chemische Kastration «als ein sehr nützliches Instrument eines umfassenden Behandlungsprogramms» bezeichnen und damit die Position eines Hardliners einnehmen und sich morgen fragen, ob alle Pädosexuelle ihre Opfer irreparabel schädigen, womit er einen liberalen Kurs steuert.

Urbaniok räumt ein, dass er selbst die Symptome eines Workaholic zeigt. Das sei der Preis, den er für seine Arbeit zahle: «Das ist ein bisschen wie Schulden in der Aufbauphase eines Geschäfts machen, aber es ist meine feste Absicht, sie eines Tages zu begleichen.» Lippenbekenntnisse, sagen jene, die ihn gut kennen. Während er bedacht ist, seinen Mitarbeitenden Gelegenheit zur Reflexion zu geben, hat Urbaniok die eigene Supervision schon vor drei Jahren mangels Zeit eingestellt. Gleichwohl sei auch er nicht gefeit gegen persönliche Empfindungen: «Ich erlebe mitunter todtraurige Momente, die auch mir zusetzen.»

Dazu gehörte jener, als Urbaniok die erschütternde Kindheitsgeschichte des Sexualdelinquenten Peter Sutter erfuhr. Als Dreijähriger war er Zeuge einer Gewalttat: Sein Grossvater erschlug Peters Vater vor dessen Augen mit einer Axt.

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© Barbara Lukesch