Die Sucht der Kinder ist auch das Leid der Eltern

Elternvereinigung DAJ / 7. Juli 1996, "Sonntags-Zeitung"

Symbolbild zum Thema Drogen

Margrit Rohrer verlor ihre Tochter ans Heroin – heute ist sie Geschäftsführerin der Elternvereinigung Drogenabhängiger Jugendlicher (DAJ), die in diesen Tagen 20 Jahre alt wird. Sie blickt auf das Leben mit ihrer Tochter zurück, die nach 15jähriger Drogenabhängigkeit zu Jahresbeginn gestorben ist.

Margrit Rohrer ist Mutter zweier Töchter. Natalie ist 33 Jahre alt, ausgebildete Lehrerin und führt zurzeit einen Reitstall. Miriam wäre im Oktober 31 Jahre alt geworden. Am 5. Januar ist sie an einer Überdosis Heroin gestorben, nachdem fünfzehn Jahre ihres kurzen Lebens im Zeichen von Drogen wie LSD, Heroin, Kokain, Tabletten und Alkohol gestanden hatten. Margrit Rohrer sagt: "Ich fühle mich befreit und erleichtert, dass Miriam ihren Frieden gefunden hat." Der unendliche Kampf um die Tochter habe auch sie an den Rand ihrer Kräfte geführt.

Margrit Rohrer ist eine sehr gepflegte Frau. Sie bewohnt eine geschmackvoll eingerichtete Wohnung in einem Zürcher Vorort. Seit zehn Jahren ist die gelernte Bankfachfrau und Bibliothekarin von ihrem Mann, einem Architekten, geschieden. Doch noch heute verbindet die beiden eine Beziehung, die von Respekt geprägt ist.

Erschütterndes Geständnis

Die Konfrontation mit Sucht und suchtkranken Menschen bezeichnet Margrit Rohrer als "Tragik ihres Lebens". Schon ihre Kindheit sei von der schweren Alkoholabhängigkeit ihres Vaters belastet gewesen. Sie wäre womöglich an diesen familiären Problemen zerbrochen, wenn nicht ihre Mutter gewesen wäre, die konsequent ihren eigenen Weg gegangen sei - bis hin zur Scheidung und der bitteren Notwendigkeit, sechs Kinder allein durchzubringen.

So aber geschah das Gegenteil. Die Kraft und der Lebensmut ihrer Mutter übertrugen sich auf Margrit Rohrer, und diese Eigenschaften brauchte sie denn auch, als ihre eigene Tochter drogensüchtig wurde. Knapp zwanzig Jahre alt war Miriam, als sie der Mutter nach einer Reise in den Fernen Osten gestand, heroinabhängig zu sein. Rohrer war erschüttert. Sie hatte der Tatsache, dass ihre Tochter bereits mit 13 Jahren zu rauchen begonnen hatte, keine besondere Beachtung geschenkt. Erst als die 15jährige mit Haschisch, LSD und Kokain zu experimentieren anfing, machte sie sich Sorgen. Zwar tröstete es sie ein wenig, dass ihre Jüngste trotz aller Schwierigkeiten die Sekundarschule abschloss und eine Ausbildung als Kindergärtnerin begann. Dass sie dann aber heroinabhängig wurde, traf die Mutter innerlich unvorbereitet.

Ähnlich wie die meisten betroffenen Eltern hatte sie einfach nicht wahrhaben wollen, wie tief ihre Tochter bereits in der Sucht steckte. Wer wusste denn aber Anfang der achtziger Jahre schon über Drogen Bescheid? Heroin war Teufelszeug, LSD in den USA daheim. Margrit Rohrer, die das Buch "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" gelesen hatte, fand die Lebensgeschichte der Christiane F. "so idiotisch", dass sie "nicht im Traum" daran gedacht hätte, jemals etwas Ähnlichem in ihrer Familie zu begegnen.

Sicher - Miriam hatte eine "explosionsartige, nicht natürliche Pubertät" erlebt, die ihrer Mutter eines Tages ein aggressives, regelrecht fremdes Kind bescherte. Die Tochter pochte urplötzlich auf Eigenverantwortung - und machte im Alter von 15 Jahren einen Selbstmordversuch. Margrit Rohrer spürte, "dass tief innen in Miriam etwas sehr Problematisches liegt", und sie geriet selber ins Grübeln. Schuldgefühle bemächtigten sich ihrer: Was hatte sie falsch gemacht? Sie liess ihre Tochter psychotherapeutisch behandeln, beanspruchte aber auch selber psychologische Hilfe, um ihre eigenen Ängste und Unsicherheiten anzugehen. Schon damals lernte Rohrer, dass sie Miriam auf ihrem schwierigen Weg zwar begleiten konnte, dass sie sie aber gleichzeitig auch loslassen und in ihr selbstgewähltes Schicksal ziehen lassen musste.

Im Teufelskreis der Sucht

Diese Erkenntnis sollte in den langen Jahren von Miriams Drogensucht zum Wegweiser für Margrit Rohrer werden. "Mein Gott", sagt sie, "wie oft habe ich meine Tochter gesucht, sie aufgespürt, eingekleidet, ihr Essen und Getränke gebracht, sie zu einer Ferienreise überredet." Das Leiden und die Not habe sie Miriam dennoch nicht abnehmen können.

Und diese Not war zu Zeiten riesig. Nach ihrer Rückkehr aus Asien geriet Miriam in den Teufelskreis von Sucht und Beschaffungskriminalität, klaute, sass in Untersuchungshaft, verwahrloste und rannte nur noch dem Stoff hinterher. Ohnmächtig musste Margrit Rohrer mit ansehen, wie sich ihr Kind zugrunde richtete. Tag und Nacht kreisten ihre Gedanken um Miriam. Oft sah sie sich im Traum am Grab ihres Kindes stehen. Wenn das Telefon läutete, war sie stets auf eine neue Schreckensmeldung gefasst. Monate vergingen, in denen sie jeden Kontakt zu ihr verlor und darauf vertrauen musste, dass die Tochter aus eigener Kraft zurückfinden würde.

Dann überstürzten sich die Ereignisse plötzlich. Miriam wurde schwanger, bekam einen Sohn und erfuhr einen Tag nach der Geburt, dass sie HIV-positiv war. Was Margrit Rohrer allerdings mit noch grösserer Sorge erfüllte, war die Ungewissheit über das Schicksal ihres Enkelkindes. "In jener Zeit", erinnert Margrit Rohrer sich, "hatte ich zu akzeptieren gelernt, dass sie ihren eigenen Weg geht." Gegenüber ihrem Enkel aber habe sie eine andere Art von Verantwortung empfunden, der sie sich nicht entziehen konnte. Nach dem Aufatmen der Schock wegen der zweiten Schwangerschaft Das Baby - ein robuster, gesunder Knabe - brachte vorerst die Wende zum Guten. Miriam trat mit ihrem Kind in eine Therapiestation ein und lebte während knapp dreier Jahre drogenfrei. Margrit Rohrer atmete auf. Sie genoss es, dass ihre Tochter trotz dem Wissen um ihre HIV-Infektion aufblühte und wieder Tritt zu fassen schien.

Voller Dankbarkeit und Freude über die glückliche Entwicklung trat Margrit Rohrer der Elternvereinigung Drogenabhängiger Jugendlicher in Zürich bei. Sie selber brauchte in jenem Moment keine Hilfe, wollte aber ihr Wissen, die Erfahrung und neugewonnene Energie solidarisch zur Verfügung stellen. Daneben war ihr sehr wohl bewusst, dass sie eines Tages auch auf die Hilfe der DAJ-Beratungsstelle und die Begleitung der anderen Eltern angewiesen sein könnte.

Geburt – und erneuter Absturz

Miriam bekam ein zweites Kind. Margrit Rohrer war schockiert, als sie von der Schwangerschaft erfuhr. War es zu verantworten, fragte sie sich, dass ihre HIV-positive Tochter ein weiteres, möglicherweise infiziertes Kind auf die Welt brachte? Miriam liess sich nicht beirren. Sie genoss ihre Schwangerschaft, bekam eine gesunde Tochter - und stürzte wieder ab.

Heillos überfordert von der Betreuung zweier kleiner Kinder, wurde sie von den Drogen eingeholt. Zugleich verwüstete ein Brand den Bauernhof im Zürcher Oberland, auf dem sie sich mit ihrem langjährigen Freund und den beiden Kindern eingerichtet hatte. Dieser Verlust traf sie im Kern. In den folgenden zwei Jahren sah Margrit Rohrer, starr vor Entsetzen, wie ihre Tochter sich und ihre Kinder an den Abgrund trieb. Miriam konsumierte derart exzessiv Drogen, dass sie ständig "verladen" war. Ihre Arme, Hände und Beine waren übersät von eitrigen Abszessen, sie magerte ab und vernachlässigte ihre Kinder. An deren Körperpflege, an gesunde Ernährung und eine geregelte Tagesstruktur war nicht mehr zu denken.

Miriam schlief tagsüber stundenlang und gab, vermutet ihre Mutter, ihren Kindern Tabletten, um sie ruhig zu stellen. "Diese Zeit", sagt Margrit Rohrer, "war eine der schmerzvollsten in meinem ganzen Leben. Der Dreck, das Elend und die Verwahrlosung, in der meine Tochter und ihre Familie dahinvegetiert sind, haben mich fast zur Verzweiflung getrieben."

In jenen Monaten sei ihr die Elternvereinigung DAJ eine grosse Hilfe gewesen. Dank ihrer Unterstützung habe sie schliesslich auch den Mut gehabt, sich gegen den Wunsch ihrer Tochter um eine Fremdplazierung ihrer Enkelkinder zu bemühen. "Damals habe ich wirklich das Gefühl gehabt", erinnert sie sich, "dass ich nichts mehr mit Miriam zu tun haben will."

Die Enkelkinder schützen

In ihren letzten beiden Lebensjahren siedelte Miriam nach Uganda über und wohnte bei ihrem Vater, der bereits vor Jahrzehnten nach Afrika ausgewandert war. Nach einem Entzug lebte sie zunächst drogenfrei und schätzte es, fernab der Heimat und der alten Sorgen wieder einmal als fröhlicher, lebensbejahender Mensch angenommen zu werden. Doch auch in Afrika wurde sie von ihrer Suchtproblematik eingeholt. Sie trank Unmengen von Alkohol und betäubte sich zusätzlich mit Valium. Sie war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, ihre Kinder wieder zu sich zu nehmen, und dem Wissen, dieser Belastung nicht gewachsen zu sein.

Margrit Rohrer wusste nur eines: Niemals würde sie es zulassen, dass ihre Enkelkinder nach Uganda ziehen würden, selbst wenn sie damit den endgültigen Bruch mit ihrer Tochter provozieren sollte. Miriams Entwicklung befremdete sie. Die einst schlanke und sportliche Frau wurde zusehends dicker und war mehr denn je von den Auswirkungen ihres exzessiven Drogenkonsums gezeichnet.

Heute weiss Margrit Rohrer, dass Miriam seinerzeit bereits schwer krank war. Ihre letzte Reise in die Schweiz führte die junge Frau nochmals mit ihren Kindern zusammen, die demnächst bei einer Verwandten ein endgültiges Zuhause finden werden. Sie genoss das Zusammentreffen sehr. Auch die letzte Begegnung mit ihrer Mutter endete versöhnlich und in Frieden. Margrit Rohrer ahnte dennoch, dass "uns etwas Bedrohliches bevorstand". Als sie wenig später erfuhr, dass Miriam an einer Überdosis Heroin gestorben war, erfüllte sie, wie sie sagt, ein Gefühl von "tiefer Trauer, aber auch Erleichterung".


DAJ hat 40 Zweigstellen

Im Kanton Zürich sind in den ersten sechs Monaten dieses Jahres 43 Personen an den Folgen des Konsums harter Drogen gestorben. Rund zehn Angehörige sind der Elternvereinigung Drogenabhängiger Jugendlicher DAJ Zürich angeschlossen. "Glücklicherweise sind jene Mitglieder in der Minderzahl, die einen Angehörigen durch Drogenkonsum verlieren", sagt Margrit Rohrer. "Wenn Angehörige lernen, sich gegenüber einem drogenkonsumierenden Menschen abzugrenzen, ist auch für diesen ein wichtiger Schritt vollzogen. Die meisten gehen dann in eine Therapie oder treten einem Methadon- oder Heroin-Programm bei."

Die DAJ Zürich wurde vor zwanzig Jahren gegründet. Sie umfasst gesamtschweizerisch 40 Zweigstellen, denen schätzungsweise 1500 Personen angeschlossen sind. "Die Hemmschwelle für Angehörige ist häufig zu gross, um Hilfe anzufordern. Statt dessen machen sie sich Vorwürfe", sagt Margrit Rohrer.

Die Elternvereinigung DAJ Zürich unterhält eine Beratungsstelle, an die sich Betroffene wenden können. Die anderen Gruppen sind Selbsthilfe-Einrichtungen, in denen sich Eltern, Geschwister und Grosseltern vierzehntäglich treffen, um sich austauschen und neue Perspektiven zu entwickeln. "Dabei stehen", so Jürg Kauer, Ko-Präsident der DAJ Zürich, "Fragen nach der wirksamsten Hilfe, nach finanzieller und juristischer Unterstützung, aber auch nach dem Schutz der Familie vor dem alles beherrschenden Drogenkonsumenten im Vordergrund."

Die DAJ hat viel dazu beigetragen, dass die Diskriminierung sowohl der Drogenkonsumenten als auch ihrer Angehörigen in der Gesellschaft deutlich nachgelassen hat. Die Vereinigung ist vehement gegen die alleinige Schuldzuweisung an die Eltern angetreten und hat die gesellschaftliche Komplexität des Problems aufgezeigt.

Welche Position nehmen die Betroffenen in der Drogendebatte ein? Sie lehnen die Initiative "Jugend ohne Drogen" klar ab und äussern zur Liberalisierungs-Initiative "DroLeg" gewisse Vorbehalte. Man fahre, sagt Ko-Präsident Kauer, im Fahrwasser von Bundesrätin Ruth Dreifuss und setze auf Prävention, Überlebenshilfe und Therapie. Die DAJ befürwortet in diesem Rahmen "so wenig Repression wie möglich, aber so viel, wie nötig".

Kontaktadresse: DAJ Zürich, Langstrasse 210, 8005 Zürich, Tel 01 272 45 85.

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© Barbara Lukesch