"Rohypnol macht d'Bire hohl"

Gefährliche Droge / Juli 1996, "Die Weltwoche"

Symbolbild zum Thema Drogen

Seit der Schliessung des Zürcher Letten wird vermehrt das gefährliche Rohypnol konsumiert.

Seit der Schliessung der offenen Drogenszene am Zürcher Letten sind die Treffpunkte für Junkies dünn gesät. So ist selbst der Aufenthaltsraum der Krankenstation "Sune-Egge", wo man in Ruhe mit Kollegen reden kann und wo es sogar Brot, Früchte und Getränke für jedermann gratis gibt, zur willkommenen Alternative zum hektischen Leben auf der Gasse geworden. Wer zum Beispiel Armin, den langjährigen Szenengänger, sucht, weiss seit einiger Zeit, dass er morgens regelmässig von neun bis elf Uhr an der Konradstrasse zu finden ist.

Der Stoff und die Sucht beherrschen auch dort nahezu alle Gespräche. An diesem Morgen ist wieder mal die Rede von Rohypnol, jenem Benzodiazepin, das Mitte der siebziger Jahre als Schlafmittel eingeführt wurde und seit mehr als zehn Jahren auch seinen Weg in die Drogenszene gefunden hat. Seit etlicher Zeit registrieren Zürcher Szenenkenner eine deutliche Zunahme des Rohypnol-Konsums. Armin ist überzeugt, dass "Roips", so der Gassenslang, bereits zur "Droge Nummer Drei" hinter Cocktails aus Heroin und Kokain und reinem Kokain aufgestiegen seien. Seine Tischnachbarn, vier Männer und eine Frau, nicken wissend mit dem Kopf.

Unheimliche Wirkung

Rohypnol geniesst einen denkbar schlechten Ruf bei den Drogenkonsumenten. Abschätzig lässt einer den Spruch fallen: "Rohypnol macht d'Bire hohl". Die Wirkung, heisst es, reiche von "saumässiger Aggressivität" über "Black outs" bis hin zu Einbrüchen und Klauereien, "an die man sich einen Tag später schlicht nicht mehr erinnern kann". Rohypnol sei eine "unheimliche Droge", die einen zum "hirnlosen Roboter ohne Gefühl" machen könne. Armin erzählt von "Geisterfahrern" auf der Autobahn, von denen er überzeugt sei, dass auch sie unter Rohypnol-Einfluss stünden. Die Anwesenden wissen, wovon sie reden, haben doch nahezu alle ihre Erfahrungen mit dem Schlafmittel von Hoff-Roche gemacht.

Armin sagt, dass er nur einziges Mal zwei Tabletten geschluckt habe, aber schon das habe ihm gelangt: "Die Folgen waren entsetzlich." Zuerst habe er einen Kondukteur, der ihm um sein Bahnbillet gebeten habe, niedergeschlagen, danach einen "Bullen" angegriffen und zuguterletzt sei er noch auf seine Freundin los. Am nächsten Tag habe er von all dem nichts mehr gewusst. Seither habe er den Stoff, der ihn offenbar "sackbösartig" mache, gemieden.

Martin hingegen war jahrelang rohypnolabhängig. Als er 1989 erstmals mit Drogen in Kontakt gekommen sei, habe er Hemmungen gehabt, sich Heroin zu spritzen. Da habe man ihm auf der Gasse geraten, Rohypnol zu schlucken; das fahre genauso gut ein. Anfangs habe er eine halbe Tablette pro Tag geschluckt; mit der Zeit habe er seine Dosis auf fünf gesteigert. Zum Teil habe er sich dann auch Cocktails aus Heroin oder Kokain und Rohypnol gemischt und diese injiziert.

"Rohypnol", sagt er, "macht dich unheimlich süchtig. Um an deinen Stoff zu kommen, gehst du aufs Ganze." Das sei seiner Meinung nach "verreckter" als bei anderen Drogen. Als er sich vor einem Jahr schliesslich zu einem Entzug entschieden habe, sei er durch die Hölle gegangen: "Auch der Entzug ist schlimmer als beispielsweise bei Heroin." Drei Wochen lang habe er kein Auge zugetan. Doch damit sei es nicht getan gewesen. Die psychische Entwöhnung, unterstützt von Ersatzmedikamenten wie Seresta, habe ihn nochmals ein volles Jahr in Anspruch genommen. Heute schluckt Martin Methadon und genehmigt sich, je nach finanzieller Situation, hin und wieder einen Cocktail aus Heroin und Kokain.

Lockere Hand der Ärzte

Andreas wurde vor allem während Gefängnisaufenthalten mit Rohypnol konfrontiert. Da habe er mindestens vier Tabletten täglich vom "Knastarzt" bekommen. Als er seine Strafe abgesessen habe, sei er, ausgerüstet mit einem Jahresrezept, entlassen worden.

Dass gewisse Ärzte eine sehr lockere Hand beim Ausstellen von Rohypnol-, aber auch anderen Benzodiazepine-Rezepten haben, ist der Tischrunde hinlänglich bekannt. Wer "Benzos" brauche, müsse nur die einschlägigen Adressen kennen und dort die richtigen Geschichten von Schlaflosigkeit, Nervosität und Erregungszuständen erzählen. Prompt habe er, was er wolle. Komme ein Junkie zudem dreckig und verwahrlost daher, hätten die Ärzte den Rezeptblock noch schneller auf dem Tisch, um sich des "ästhetischen Ärgernisses" im sauberen Wartezimmer so rasch wie möglich zu entledigen.

Auf der Gasse sei der Rohypnol-Deal fest in Schweizer Hand. Die Bäckeranlage in Zürich, der Treffpunkt der Alkoholiker und Obdachlosen, sei inzwischen auch zum Hauptumschlagsplatz für "Roips" geworden. Es sei aber genauso einfach, an der Langstrasse einen Händler aufzutreiben. Es wird vermutet, dass auch einzelne "Medikamenten-Grossverteiler ihre Ware in Umlauf bringen", um sich ihren Teil vom Schwarzmarkt-Kuchen abzuschneiden.

Maria*, die zierliche Griechin, fehlt an diesem Morgen im "Sune-Egge". Die anderen sind überzeugt, dass sie einmal mehr "abgestürzt" und im Spital gelandet sei. Maria, erzählt Armin, konsumiere Methadon, Heroin, Kokain, trinke Alkohol, rauche Haschisch - und "biiget pro Tag mindischtens füfzä Rohypnol drufufe". Sie könne oft kaum noch stehen, torkle in der Gegend herum und sei bereits fünf- oder sechsmal "komatös" in der Notfallstation eingeliefert worden. "Das kommt von den 'Roips'", glaubt der Szenenkenner. Oder dann Reni*, sagt einer, die einst schöne Frau mit den langen dunklen Haaren, die nie Heroin "ineglaa" habe, aber Unmengen von Alkohol und Rohypnol schlucke. Sie falle ständig auf die Nase, verletze sich dabei und biete einen erbärmlichen Anblick: "Plemm-plemm, uufddunse und dure bi rot".

Billiger als Heroin und Kokain

Die Junkies kennen die Gefahren, wissen, dass insbesondere die Kombination von "Roips" und "Alk" verhängnisvolle Folgen haben kann - und trotzdem konsumieren sehr viele von ihnen das Mittel. Es trifft, so lässt sich vermuten, einen Teil der Bedürfnisse der heutigen Drogenkonsumenten im Kern.

Rohypnol sei schliesslich billig, heisst es unisono am "Sune-Egge"-Tisch. Eine Tablette gebe es momentan für fünf Franken; in "Dürreperioden" müsse man im Höchstfall zehn bezahlen. Das ist angesichts des Ladenpreises von 14.30 Franken für eine Dreissiger-Packung ein stolzer Betrag; im Vergleich zu den Heroin- und Kokainpreisen, die zur Zeit zwischen achtzig und hundert Franken pro Gramm liegen, ist es jedoch eine bescheidene Summe.

Hinzu kommt, dass sich Rohypnol auf nahezu alle Arten konsumieren und mit fast allen Stoffen kombinieren lässt. Man kann es schlucken, auf der Folie rauchen, schnupfen oder zusammen mit Heroin oder Kokain auflösen und spritzen. War es einst vor allem ein Ersatzstoff, der dazu diente, die Zeiten, in denen Mangel an Heroin herrschte, zu überbrücken und die Folgen des Heroin-Entzugs zu lindern, ist es heute schon fast zur "eigenständigen" Droge geworden. Die einen sind längst Rohypnol-abhängig geworden; viele andere, die ihren Opiatbedarf inzwischen mit einer täglichen Dosis Methadon stillen, hätten entdeckt, so Armin, "dass Rohypnol-Kokain-Cocktails sogar die dämpfende Wirkung des Methadons aufheben und damit wieder einen Flash ermöglichen würden."

Frauen sind besonders ansprechbar

Frauen, weiss die Tischrunde, seien besonders ansprechbar auf Rohypnol, weil es klein und handlich sei und gut versteckt werden könne. Die Einstiegsschwelle sei wesentlich tiefer, da es geschluckt werden könne und nicht gespritzt werden müsse. Zudem lasse es einen, erzählt Martin, "jede Hemmung verlieren". Man sei total cool, wenn man klauen gehe, komme bei Einbrüchen "guet fürschi", und Frauen, die den Drogenstrich machen müssten, seien so verladen, dass sie sich am nächsten Tag nicht einmal mehr daran erinnern könnten, was ihnen alles widerfahren sei.

Viele Drogenkonsumenten sind auch Drogenexperten. Sie sind bestens informiert, dass Rohypnol inskünftig der verschärften Rezeptpflicht unterstellt sein wird und nicht länger mittels wiederholbarem Jahresrezept bezogen werden kann. Sie grinsen allerdings bei der Vorstellung, dass mit dieser Massnahme der Drogenmarkt ausgetrocknet werden soll: "Bisher", sagt einer am Tisch, "sind wir noch an jeden Stoff gekommen, der bei unsereins begehrt ist."

* Namen geändert

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© Barbara Lukesch