Der Schönheitswahn der Anabolika-Kids

Modedroge / Oktober 1998, "Sonntags-Zeitung"

Symbolbild zum Thema Drogen

Pascal Soltermann, 19jähriger Informatik-Lehrling aus Gümligen BE, ist so stolz auf sein Hobby, dass er die ganze Welt per Internet darüber in Kenntnis gesetzt hat. Fünfmal pro Woche trainiert der junge Mann jeweils rund zwei Stunden in einem Kraftraum - mit dem Ergebnis, dass er im Verlauf der letzten drei Jahre acht Kilogramm an Muskelmasse zugelegt hat: Aus einer "Bohnenstange", wie er sich selber nennt, ist ein kräftiger Jüngling geworden, dem allerorten mit Respekt begegnet wird. Der Erfolg - so Soltermann - heilige trotzdem nicht alle Mittel. Während einer gewissen Zeit habe er zwar mit dem rezeptfrei erhältlichen Eiweisspräparat "Kreatin" nachgeholfen; von Anabolika allerdings, beteuert der Berner, lasse er die Finger: "Und das, obwohl der Reiz, die schnell und unbestritten wirksamen Mittel zu nehmen, auch für mich riesengross ist."

Soviel Widerstand zeigen bei weitem nicht alle jungen Kraftsportler und Bodybuilder. Ambros Uchtenhagen, der Leiter des Zürcher Instituts für Suchtforschung, warnt: "Das Problem Anabolika-Missbrauch unter Jugendlichen liegt in der Luft, wenn es nicht schon in beachtlichem Ausmass vorhanden ist." Auch Matthias Kamber, der Dopingexperte der Eidgenössischen Sportschule Magglingen, vermutet auf Grund von ihm bekannten Einzelfällen, dass die Zahl der jugendlichen Anabolika-Konsumenten im Fitness-Bereich zunimmt: "Anabolika", sagt Kamber, "haben für viele die Aura von magischen Pillen."

Anabolika sind problemlos erhältlich

Szenenkenner wie der Bieler Amateurboxer Stefano Vaglietti bestätigen den Trend, dass männliche Teenager, die nach wie vor auf Idole wie Arnold Schwarzenegger und Sylvester Stallone abfahren, "immer mehr und früher bereit" seien, die Droge zu schlucken oder auch zu spritzen, die vor allem eins verspricht - nämlich grosse, glänzende Muskeln. Anabolika, sagt Vaglietti, seien in einschlägig bekannten Fitness-Studios oder Arztpraxen problemlos erhältlich und würden von vielen "immer noch als Medikament und nicht als Dopingmittel" wahrgenommen. Die Folge? "Die Konsumenten fühlen sich sicher."

Während es in der Schweiz an aktuellen Zahlen zum Anabolika-Missbrauch der 11-18jährigen Kids fehlt, liegen aus den USA, Kanada, Grossbritannien und Deutschland etliche Studienergebnisse vor, die den Fachleuten zu Sorge Anlass geben. In den USA hat eine knappe Million Teenager, darunter sogar Zehnjährige, Erfahrungen mit der Dopingsubstanz. In Kanada bekannten sich 83'000 Schulkinder dazu, die Droge im Verlauf des letzten Jahres konsumiert zu haben. Englische Experten schätzen, dass die jugendlichen Anabolika-User bis zum Jahr 2001 einen Drittel aller Junkies stellen werden. Bereits heute erhältliche Videogames, auf denen die Mitspieler durch das Sammeln von Anabolika-Punkten grösser, stärker und mithin erfolgreicher werden, bereiten den gefährlichen Boden vor, auf dem die Prognose dereinst wahr werden könnte.

Anabolika sind sogenannt androgen-anabole Steroidhormone und leiten sich vom männlichen Sexualhormon Testosteron ab. Sie wirken aufbauend und können zu einer Zunahme von Muskelmasse und Muskelkraft führen. In der Schweiz sind sie dem Heilmittelgesetz - und nicht wie in den USA und Grossbritannien dem Betäubungsmittelgesetz - unterstellt. Konsum und Import zum Eigengebrauch sind folglich straffrei. Erst der Schwarzmarkt-Handel im grossen Stil wird geahndet - vorausgesetzt, der Dealer wird gefasst.

Doch die "Anabolika-Szene", weiss der Zürcher Kantonsapotheker Werner Pletscher, "ist ein Riesenschlick." Abgesehen von Zufallsfunden am Zoll, Zollpostamt, bei Strassenkontrollen oder in Fitness-Studios sei es bisher nicht gelungen, den Schwarzmarkt "mit den Riesengewinnmargen" systematisch auszuheben. Dass in der Subkultur der starken Männer tatsächlich Millionen zu machen sind, bewies der Zürcher Bodybuilder-Prozess von vergangenem Jahr, der den Mord an einem 24jährigen, begangen im Umfeld des illegalen Anabolika-Handels, ahndete.

Hauptsache, im Mittelpunkt

Leo Pedretti konsumierte während Jahren Anabolika. Der inzwischen 34jährige Bündner wollte gut aussehen, respektiert werden, "einfach das Thema sein." Er sei süchtig gewesen, erzählt er, nach der Aufmerksamkeit, die ihm sein "Body" eingetragen habe. Da habe er schon mal im Winter ein kurzärmeliges T-Shirt angezogen, um seine gewaltigen Bizepse zur Geltung zu bringen. Im Grunde genommen sei es ihm egal gewesen, ob er bewundernde oder geringschätzige Blicke geerntet habe: "Hauptsache, ich stand im Mittelpunkt und wurde zur Kenntnis genommen."

Dafür zahlte er einen hohen Preis. Siebenmal pro Woche trainierte er im Kraftraum, vollgepumpt mit Anabolika, stemmte und drückte Gewichte, die seine Gelenke und Sehnen masslos überbelasteten. Akribisch verfolgte er die Doping-Affären im Spitzensport und wechselte seine eigenen Präparate nach dem Vorbild der "Grossen": Erst Clenbuterol wie die deutsche Sprinterin Kathrin Krabbe, dann Testosteron wie Hundert-Meter-Star Ben Johnson. Seine Psyche geriet zusehends durcheinander. Einmal war er gereizt, aggressiv und sass "sexuell wie auf Nadeln"; das nächste Mal wurde er so depressiv, dass er an Selbstmord dachte.

Dabei sei er zum isolierten, rücksichtslosen Egozentriker geworden, nur noch bedacht auf den eigenen Vorteil, neidisch auf jedes Kilogramm, das der Kollege mehr aufgeladen habe: "Es war eine Katastrophe."

Im Wissen darum beobachtet Pedretti, der zwar nach wie vor im Kraftsport aktiv, aber seit Jahren "clean" ist, mit Besorgnis, dass "immer mehr junge Burschen" zu Anabolika greifen: "Sie stecken voller Komplexe, leiden unter Identitätsproblemen und lassen sich von falschen Idealbildern, aber auch verantwortungslosen Betreuern und Studiobesitzern zur Einnahme von Anabolika verleiten." Risiken und Gefahren seien kein Thema: "Das ist die Ignoranz der Pubertierenden."

Einer von ihnen, der anonym bleiben will, sieht das ganze viel cooler. Der 18jährige KV-Stift, dessen Rückenmuskeln so kompakt sind, dass sie wie Flügel aus den Achselhöhlen hervorzutreten scheinen, sagt naiv: "Ich kaufe den Stoff beim Arzt, kontrolliere meinen Konsum, mache immer wieder Pausen, und schliesslich trainiere ich ja auch wie ein Tier - was soll daran nicht gut sein?" Sein 19jähriger Kollege, auch er Bodybuilder, ist etwas kleinlauter. Als die Schmerzen in seinen Hoden nicht mehr aufgehört hätten, erzählt er, habe er "mit dem Zeug abgeklemmt." Zeugungsunfähig wolle er ja nun doch nicht werden.

Erhebliche Risiken

Die Risiken des Anabolika-Missbrauchs sind vor allem für Jugendliche erheblich. "Besonders bedenklich", heisst es in einem Infoblatt der Schweizerischen Fachstelle für Alkohol- und andere Drogenprobleme, "sind die Folgen für die Geschlechtsorgane. Impotenz kann die Folge sein. Die Brustdrüsen wachsen." Ebenso wird davor gewarnt, dass die Einnahme von Anabolika das "Wachstum der Knochen, manchmal für immer" stoppen könne. Beeinträchtigungen der Leber-, Nieren-, Herz- und Kreislauffunktionen kommen dazu.

Angesichts der Tragweite des Problems, über das der "Spiegel" schon 1996 schrieb: "Anabolika sind längst zum Heroin der neunziger Jahre geworden - überall erhältlich, modern, hochgefährlich", warnen auch hiesige Experten vor falschen Signalen: "Eine Doping-Freigabe", sagt Ernst Strähl, Sportberater von Bundesrat Adolf Ogi, "wäre insbesondere für Jugendliche ein fatales Zeichen." Stattdessen plädiert Strähl für fortgesetzte Aufklärung und Prävention, in die der Bund schon jetzt eine knappe Viertelmillion Franken jährlich investiere.

Doch unsere Gesellschaft spricht eine andere Sprache. Geprägt vom "Machbarkeitswahn" werden täglich Grenzen verschoben, sei es innerhalb der Gentechnologie, sei es im Rahmen der Schönheitschirurgie - oder im Sport. "Warum", fragt ein Zürcher Psychotherapeut, "soll da der Siebzehnjährige nicht zu einem Hilfsmittel greifen und sich seinen Traum vom Super-Body innert Kürze verwirklichen?" Schliesslich sei er in einer Welt gross geworden, die Risiken in Kauf nimmt wie keine vor ihr: "Da denkt der junge Mensch doch nicht an die Leberschäden von übermorgen, wenn er schon morgen aussehen kann wie Arnold Schwarzenegger."

Und sowieso: Wer fit ist, ist der bessere Mensch. Diszipliniert, leistungsbereit, attraktiv. Was sollen da Aufklärungsbroschüren bewirken, die bis anhin - nach Aussagen von Sportberater Strähl - tasächlich "nur in geringem Masse zur Kenntnis genommen worden sind."

Leo Pedretti kennt das Malaise aus eigener Erfahrung: "Wer 'drauf' ist, ist taub für Info-Broschüren und Aufklärungsschriften." Stattdessen zeigt er jungen Kollegen lieber Fotos von seiner Brust, die noch heute, Jahre nach dem Anabolika-Missbrauch, an den Busen eines pubertierenden Mädchens erinnert: "Das ist mein Mahnmal", konstatiert er mit Bedacht, "das ich mir bewusst nicht wegoperieren lasse."


Schönheitsoperationen liegen im Trend

Während sich immer mehr junge Männer dank Krafttraining und Anabolika-Einnahme zu wahren Giganten aufblasen - ein Phänomen, das ein US-Arzt "Biggerexia" nennt -, sind weibliche Teenager auf dem Schlankheitstrip, verfallen nicht selten der Magersucht - auch "Anorexia" genannt - oder dem Run auf das perfekte Body-Forming.

Allein in den USA unterzogen sich 1996 rund 14'000 junge Frauen unter 18 Jahren einem kosmetischen Eingriff wie einer Brustvergrösserung, einer Nasenoperation oder dem Fettabsaugen, der sogenannten "Liposculpture". 1994 waren "erst" 10'000 bereit gewesen, sich unter's Messer zu legen. Der Drang, genauso schön wie die Models Kate Moss oder Naomi Campbell zu werden, nimmt also zu.

In der Schweiz ist die "Morbus Manhattan", jene US-Krankheit, die dem Aussehen im täglichen Konkurrenzkampf eine überdurchschnittliche Bedeutung beimisst, gemäss Aussagen von Ärzten unter Teenies erst wenig verbreitet. Doch auch in den hiesigen Praxen der Schönheitschirurgen oder den Aesthetik-Instituten klopfen Jugendliche an und äussern erstaunliche Wünsche. Da will sich eine 16jährige, die nicht einmal besonders dick ist, "alles absaugen lassen." Eine 18jährige klagt, dass ihr Busen nicht so schön sei wie jener ihrer Freundin: "Herr Doktor, bitte, helfen Sie mir." Die knapp 20jährige will sich endlich ihren Traum von einer neuen Nase verwirklichen und drängt auf einen möglichst baldigen Operationstermin.

In solchen Fällen, sagt der Zürcher Schönheitschirurg Christoph Wolfensberger, sei es die Aufgabe des Arztes, in einem Beratungsgespräch mit den Patientinnen "die Relationen wiederherzustellen" und sie von ihrem Operationswunsch abzubringen. Schliesslich würden sich viele sogenannte "Schönheitsprobleme" durch die körperliche Entwicklung von selbst erledigen. Gleichzeitig sei die Adoleszenz eine "unsichere Phase im Leben" und werde nicht selten von der sogenannten "Dysmorphophobie" überschattet: "Jener Störung, die dazu führt, dass man eine minimale Normabweichung als schweren Makel empfindet."

Selbstverständlich gebe es Fälle von Deformationen, die auch einen Eingriff in jungen Jahren rechtfertigten. Dazu zählt mit Sicherheit das Beispiel jener 14jährigen, deren Brust so gross war, dass ihr kürzlich an jedem Busen zwei Kilogramm Gewebe entfernt wurden. Rings um die Frage der Operation von Abstehohren - der weitaus häufigste kosmetische Eingriff im Kindesalter - scheiden sich die Geister bereits wieder. Ruth Rüegg-Dual, die Präsidentin des Dachverbands der Schweizer Patientenstellen, weiss allerdings aus ihrer täglichen Arbeit, "dass es genug Schönheitschirurgen gibt, die allein des Profits willen alles operieren." Die Folge? "Wir werden regelrecht überhäuft von Klagen von Frauen, die mit ihrem Operationsergebnis nicht zufrieden sind."

Überdurchschnittlich viele stammten von jungen Frauen, die erst anfangs zwanzig sind.

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© Barbara Lukesch