Jakob Walser lebt seit 20 Jahren mit dem Aids-Virus

Offener Brief / November 1998, "Der Beobachter"

Symbolbild zum Thema Aids

"Wenn ich daran denke, wieviele meiner Freunde und Kolleginnen in den letzten Jahren an Aids gestorben sind, wundert es mich oft, dass ausgerechnet ich immer noch da bin. Manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen. Frauen, die kleine Kinder haben, sterben. Junge Leute, die erst vor wenigen Jahren infiziert wurden, müssen gehen. Aber ich, der "Gruftie" unter den Aidskranken, der bereits seit fast zwanzig Jahren mit dem Virus lebt, bin nicht totzukriegen.

Warum das so ist, weiss kein Mensch. Vielleicht, weil ich den Virus nicht so ernst nehme und ihm nie erlaubt habe, Macht über mich zu gewinnen. Ich habe nie Depressionen bekommen, weil ich HIV-positiv bin. Ich werde eher depressiv, wenn eine Taube - wie kürzlich geschehen - in meinem Schlafzimmer ein Ei legt, das nicht ausgebrütet werden kann. Dank der Krankheit habe ich auch gelernt, zu mir, meinen Fehlern und Marotten zu stehen. Ich habe kapiert, was Menschsein bedeutet. Leider musste ich auch erfahren, dass viele Menschen nicht die sind, die sie vorgeben zu sein.

Als ich mich vor fünf Jahren dazu durchgerungen hatte, im "Beobachter" erstmals öffentlich über meine HIV-Infektion zu sprechen, und mich sogar fotografieren liess, hatte ich regelrechte Panikanfälle. Ich wurde hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, mich nicht länger verstecken zu müssen, und der Angst vor den Reaktionen meiner Familie und Freunde. Heute weiss ich, dass sich mein Mut bewährt hat. Ich war ungeheuer erleichtert, als ich mein Coming Out hinter mir hatte und trotzdem niemand vor mir davongelaufen war. Seither ist vieles passiert. Mein Körper hat mich ganz schön auf Trab gehalten. Um die inneren Blutungen und das ewige Nasen- und Zahnfleischbluten zu stoppen, das mich jahrelang schwer belastete, wurde ich bestrahlt und intensiv mit Cortison, Interferon und Hormonen behandelt. Fünf Jahre lang bekam ich rund alle vier Wochen drei Beutel Blut, schliesslich wurde mir auch noch die Milz herausoperiert. Geändert hat sich gar nichts. Erst als ich aus Wut und Widerspenstigkeit alle Medikamente und Transfusionen selbst absetzte, hörte die Bluterei plötzlich auf. Niemand wusste warum.

Dann begann die Geschichte mit den Medikamentencocktails. Alle redeten nur noch von den "Wundermitteln". Ich habe mich mehr als zwei Jahre dagegen gewehrt, weil es mir gestunken hat, mehrmals täglich Unmengen von Pulvern und Kapseln in mich hineinzuschütten, die noch dazu Monat für Monat 2500 Franken kosten. Vor kurzem sind dann allerdings meine T4-Werte dermassen in den Keller gesaust, dass ich Angst bekommen habe. Das will etwas heissen, denn normalerweise habe ich keine Angst. Der Tod beeindruckt mich schon lange nicht mehr. Höchstens der Gedanke an ein qualvolles Sterben durch Ersticken löst in mir noch einen Adrenalinstoss aus.

Nun habe ich also zähneknirschend zur Einnahme der Medikamente "ja" gesagt. Das sind echte "Chemiebomben". Ich habe wahnsinnigen Durchfall bekommen, leide unter šbelkeit und kann seit mehreren Wochen überhaupt nichts mehr essen. Jetzt versuche ich mich mit Milch, Joghurt, hin und wieder einem Glas Bier, das nicht mehr schmeckt, und Vitaminpräparaten über die Runden zu bringen. Ich merke allerdings auch, dass sich irgendetwas Neues in meinem Körper abspielt, das sich gut anfühlt. So sind beispielsweise die Muskelkrämpfe und Schmerzen im ganzen Körper, die Spannungen im Kopf und die Schwindelgefühle, die mich oft regelrecht in Panik versetzt haben, verschwunden.

Es ist erstaunlich, wie anpassungsfähig der Mensch sein kann, welche Entbehrungen und Beeinträchtigungen seiner Lebensqualität er erträgt, wenn er sich und seine Krankheit akzeptiert. Ich habe Freunde und Freundinnen - alles in allem über 140 Menschen - verloren, deren Tod mich schier zum Wahnsinn getrieben hat. Den Verzicht auf sexuelle Kontakte habe ich zur Überraschung vieler locker weggesteckt. Das ist halb so schlimm. Schliesslich bin ich schon 43 Jahre alt und habe viel Schönes, Verrücktes und auch weniger Schönes erlebt. Und Erotik und Gefühl gibt es ja immer noch.

Was mich aber momentan wirklich fertig macht, ist die Erschöpfung und Kraftlosigkeit, die mich daran hindert, irgendetwas Sinnvolles zu tun. Kaum stehe ich eine Stunde auf den Beinen, bin ich so kaputt, dass ich mich wieder hinlegen muss. Ich lese morgens die Zeitung, nehme die Medikamente, gucke ein bisschen Fernsehen, treffe hin und wieder Kollegen und Freunde. Gott sei Dank, kann ich nachts gut schlafen. Aber das Gefühl, nutzlos zu sein und nur noch Steuer- und Versicherungsgelder zu verbrauchen, macht mir enorm zu schaffen.

Ich habe meinen gelernten Beruf eines Hotelkaufmanns ja schon lange nicht mehr ausüben können. Aber die Arbeit als Präsident bei Act-HIV und als Vorstandsmitglied der Zürcher Aidshilfe hat mir so gut getan: diese wunderbar-unheimlichen Begegnungen mit schwerkranken Menschen, die nächtelangen Gespräche über Leben und Tod, das gemeinsame Lachen und Weinen, Beratungen am Telefon oder Sterbebegleitung in einem Hospiz oder zu Hause. Da konnte ich helfen und wurde gebraucht, - habe mich dabei aber auch selber verbraucht.

Heute muss ich schon froh sein, wenn ich es einmal schaffe, in die Stadt zu gehen und einen Kaffee zu trinken. Als ich eine zeitlang an der Kasse eines grossen Warenhauses gearbeitet habe, war ich von dem Lärm und den vielen Leuten dermassen überfordert, dass ich den Job wieder aufgeben musste. Mein liebstes Hobby, Gäste bewirten, schaffe ich auch nicht mehr. Den Einkauf würde ich zwar noch knapp bewältigen, aber wenn ich dann zu Hause vor all den Esswaren stehe, kriege ich ein solches Durcheinander im Kopf, dass ich keinen einzigen Handgriff mehr machen kann. Das ist eine traurige Erfahrung.

Reisen würde ich auch gern. Noch vor zwei Jahren war ich sechs Wochen in Brasilien, ein Aufenthalt, der mich wirklich beflügelt hat. Hätte ich mehr Energie, würde ich mein Spanisch aufpolieren. Daran könnten mich auch all diejenigen nicht hindern, die finden, dass es doch sinnlos sei, wenn ein Mensch in meiner Situation noch irgendetwas Neues lerne. Das war nie meine Haltung. Wenn mich die Lust packen würde, würde ich morgen mit dem Studium des Chinesischen beginnen und übermorgen sterben, wenn es denn sein sollte.

Ich habe auch nie mit meinem Schicksal gehadert und mich gefragt, warum ausgerechnet ich diesen Virus aufgelesen habe. Ich weiss, dass ich mich bei einem inzwischen verstorbenen Freund infiziert habe. Das sollte offenbar so sein. Unerträglich wäre für mich gewesen, wenn ich meine spätere Freundin angesteckt hätte. Aber das ist, Gott sei Dank, nicht passiert. Mein Leben ist gut so, wie es ist. Ich möchte dieses und kein anderes. Aber ich möchte auch kein zweites, denn dann finge das ganze Theater ja wieder von vorne an.

Dass mich ein inzwischen selten gewordener Energieschub dazu gedrängt hat, den "Beobachter" nochmals anzurufen und ihm ein Lebenszeichen zu senden, hat vor allem mit meiner Wut über die zunehmende gesellschaftliche Gleichgültigkeit gegenüber Aids zu tun. Viele meinen heute, dass die Krankheit dank der Medikamente heilbar sei. Keiner guckt mehr richtig hin, das Mitgefühl ist weg und die Spenden zugunsten von Aidskranken nehmen ab - das macht mich traurig und wütend. Pessimistisch bin ich trotzdem nicht. Ich lebe heute und freue mich auf morgen."

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© Barbara Lukesch