"Ich kann nicht mehr leben wie ihr Negativen"

Buchkapitel / 1999, Verlag "Der Alltag"

Symbolbild zum Thema Aids

Die Kirche St. Peter in der Altstadt von Zürich ist bis auf den letzten Platz besetzt. Mehr als tausend Männer und Frauen sind an diesem Freitagabend, kurz vor Weihnachten, gekommen, um gemeinsam mit Kranken und Betreuern einen Aids-Gottesdienst zu feiern. Bereits zum drittenmal hat Aids-Pfarrer Heiko Sobel zusammen mit jungen, an Aids erkrankten Menschen Texte erarbeitet und zusammengestellt, in denen sie ihre Lebenssituation schildern, ihre Ängste und Nöte ausbreiten, aber auch von ihren Hoffnungen und Freuden berichten. Er hat mit ihnen geprobt, und er ist ihnen - im wahrsten Sinne des Wortes - beigestanden, als sie aufgeregt, mit übersetztem Puls und trockenem Mund ihren großen Auftritt hatten: Charly, der nur noch an Krücken gehen kann; Enzo und Dina, das Liebespaar, das sich in einer Aids-Wohngemeinschaft kennengelernt hat; Sacha, der ehemalige Drögeler, dünn, ja ausgezehrt und bleich, von der Krankheit gezeichnet, und viele andere.

Als Sobel das erste Mal eine Kirche im Stadtzentrum für diesen Anlaß suchte, biß er auf Granit: "Damals waren noch erhebliche Widerstände zu überwinden; man wimmelte mich ab mit der Begründung, es gäbe keine freien Kapazitäten." Inzwischen hat sich die Situation entkrampft. Man gewährt Heiko Sobel, dem reformierten Zürcher Aids-Pfarrer, Gastrecht in einer der großen Kirchen. Fragt man ihn, ob die Kollegen und Kolleginnen in reformierten Kreisen ihn unterstützten, sagt er: "Meine Arbeit wird nicht behindert." Punkt. Bei anderer Gelegenheit ist er versöhnlicher gestimmt und bescheinigt seiner Kollegenschaft Wohlwollen gegenüber seinen Bemühungen. Hin und wieder stoße er auf Skepsis. Es gibt auch Kollegen, die offen bezweifeln, ob es denn einen speziellen Aids-Pfarrer brauche. Sobel antwortet: "Meine Stelle braucht keine Rechtfertigung. So, wie ich von meinen Klienten in Anspruch genommen werde - das ist Rechtfertigung genug."

Die Kirche und Aids. Eine schwierige Allianz. Nicht nur für Katholiken, denen der Papst das Kondom selbst dann verbietet, wenn ein Partner HlV-infiziert ist. Auch für den reformierten Heiko Sobel, der sagt: "Wenn sich gewisse kirchliche Kreise mit Aids beschäftigen, hinken sie immer ein Stück weit der Realität hinterher. Sie tun immer noch so, als sei die eine oder andere Form von Sexualität falsch oder richtig, und vergessen, daß ein Virus Aids verursacht und nichts anderes."

Sobel ist Teil dieser Kirche, und irgendwo muß auch er sich positionieren. Wenn er von Aids als einer "Strafe" oder "Geißel Gottes" hört, wird er traurig. Es macht ihn elend, daß die Menschen für ihren ureigenen Zorn oder ihre ganz persönliche Angst Gott vorschieben und zum großen Bestrafer machen. Und dennoch, die Frage bleibt: Wie muß ein Gott beschaffen sein, der Aids zuläßt, dieses grauenvolle Leid, das vor allem junge Menschen, Tausende von Männern und Frauen, hinwegrafft? Sobel antwortet: "Für mich ist Aids eine Krankheit wie jede andere schwere Krankheit auch, und ich bringe sie nicht in Verbindung mit irgendwelchen Sinngehalten. Zudem bin ich überzeugt, daß Gott - wenn, dann in Assoziation zu Liebe, Hoffnung, Zuversicht, Neuanfang und Vergebung vorhanden ist. Ich glaube, über allen Höhen und Tiefen, die wir zu durchleben haben, über allen Wirren, steht letztendlich ein sanftes Lächeln Gottes, der es gut mit uns meint. Das ist meine Zuversicht." Diesen menschenfreundlichen Gott will der Aids-Pfarrer seinen Klienten nahebringen; er will auf die kranken Männer und Frauen zugehen, egal, wer sie sind, woher sie kommen, wohin sie gehen: "Mein Auftrag ist es, Menschen zu begleiten und zu unterstützen. Ich versuche, mit meinen Klienten zu kämpfen, bis es nicht mehr geht, nach Wegen und Möglichkeiten zu suchen, irgend etwas zwischen Resignation und Illusion, was für mich am ehesten Faszination heißen könnte."

Konkret heißt das, daß Heiko Sobel Tag für Tag viele, manchmal bis zu sechzehn Stunden auf den Beinen ist. Gegen neun Uhr taucht er in seinem Büro auf, er ist ein Morgenmuffel, und bespricht mit seinen Mitarbeitern das Tagesprogramm. Seine Mitarbeiter Beat Bänziger und Ueli Morgenthaler kennen wie Sobel keine geregelte Arbeitszeit. Ohne ihren Idealismus wäre die anfallende Arbeit nicht zu bewältigen. Zusammen bilden die drei ein gut aufeinander eingespieltes Team. Mit gespannter Freude erwarten sie ihren römischkatholischen Kollegen Guido Schwitter, der ab Ende 1990 das Team des dann ökumenischen Pfarramtes ergänzt.

Mit der Planung des Tagesablaufes ist das so eine Sache: Fast immer verlaufen die Tage anders als vorgesehen. Klienten schneien unangemeldet herein, eine in einem sozialen Beruf tätige, etablierte Frau ruft zum erstenmal an. Eine ihrer beiden ersten Lieben war positiv; mit ihrem dritten Partner wollte sie jetzt Kinder haben, und nun das: "Herr Pfarrer, ich bin HIV-positiv, wie soll es weitergehen?" Im gegenüberliegenden Universitätsspital ist ein Patient in eine akute Krise geraten und wünscht die Nähe des Seelsorgers. Die Gespräche am Krankenbett, sei es im Spital, sei es bei den Betroffenen daheim, verschlingen einen Großteil von Sobels Zeit: Regelmäßig besucht er auch in den Zürcher Gefängnissen Insassen mit Aids, sieht Fixer und Fixerinnen am Platzspitz, in der Notschlafstelle oder im Drop In, schaut bei einem Klienten vorbei, der im Aids-Haus "Sunneegge" untergebracht ist. Manchmal ist es notwendig, mit einem Mann oder einer Frau länger zusammenzusitzen. Dann opfert er seinen Feierabend und geht zuweilen mit den Betroffenen auswärts essen. Das Mittagessen läßt er in der Regel aus: Keine Zeit.

Wichtiger ist ihm, daß der schwule Mann bei seinem sterbenden Freund im Spital übernachten darf, auch wenn der verantwortliche Arzt zetert: "Wer weiß, was die beiden dann treiben?" Ständig betreut er mehrere Selbsthilfegruppen, in denen betroffene Menschen versuchen, mit ihrer schwierigen Lebenssituation fertig zu werden. Regelmäßig reist er mal mit der einen, mal mit der anderen Gruppe nach Rom, Paris oder in die Berge, veranstaltet Seminare und Workshops oder gestaltet sie mit, in denen Lust und Leid oftmals ganz nah beieinanderliegen, in denen die Frage "Wer kocht heute?" abgelöst wird von Fragen wie "Ist das mein Leben? Soll das alles gewesen sein?"

Sobel sagt:"Was ich an existentiellen Fragestellungen früher während Jahren nicht erlebt habe, erlebe ich heute an einem Tag oder im Verlauf einer "Woche." Das kann zum Beispiel der krisenhafte Krankheitsverlauf eines vierzigjährigen Homosexuellen sein, der angesichts seines körperlichen Verfalls kapituliert, der nicht mehr mag und nur noch einen Wunsch hat: sterben. Was tun, Herr Pfarrer?

"Ich kämpfe um das Leben. Es können aber Situationen auftreten im Leben eines Menschen, während der Krankheit, wo seine Entscheidung, nicht mehr leben zu wollen, auch zum Leben dazugehört. Das habe ich schlichtweg zu akzeptieren. Wie ich andere Dinge auch zu akzeptieren habe." Pause.

"Wenn ein Mensch nach einer langen Phase des Nachdenkens und Abwägens zu dem Entschluß kommt, daß diese Form von Leben, die er krankheitsbedingt jetzt führen muß, nicht mehr zu ihm paßt, hört meine Verläßlichkeit nicht auf."

Und dann die Beerdigung. Heiko Sobel trägt seinen langen braunen Mantel. Der Talar liegt noch zusammengedrückt in seiner Aktentasche. Der Pfarrer ist nervös, er hat kalte, nasse Hände und raucht eine Zigarette nach der anderen. Das Grab wird gesäumt von Kränzen, deren Wert Sobel auf runde fünftausend Franken schätzt: "Wenn ich da an meine 'Schwarze Kasse' denke", seufzt er - seine Hilfskasse, die es ihm mal schlecht, mal recht erlaubt, Aidskranke finanziell zu unterstützen. Die Angehörigen des Toten haben strikte Weisung erlassen: "Kein Sterbenswörtchen von Aids, Homosexualität und Freitod." Das heißt die Person des Verstorbenen eliminieren, seine Liebe, sein Leben und seinen Tod. Schwierig ist es, unter solchen Bedingungen eine Begräbnisrede zu halten, und blaß bleibt das Bild des Menschen, um den getrauert werden soll.

Sobel sagt nachher: "Das war keine schöne Beerdigung." Doch viel Zeit für Ärger und Unmut bleibt ihm nicht: Am Abend warten zwei Selbsthilfegruppen auf ihn. Der Tag ist angefüllt mit Arbeit, ist voll von Aids. Zwei Tage später hat Sobel wieder seinen Talar zu einer Beerdigung angezogen. Diesmal wollen die Angehörigen entsprechend dem Wunsch des Verstorbenen, daß alles ganz offen ausgesprochen wird, seine Krankheit, seine Freundschaften, seine Stärken und Schwächen. Freunde spielen die Musik, die er geliebt hat, Texte von ihm werden verlesen, und Sobel selbst kann seine Tränen kaum zurückhalten. Zuweilen bricht ihm die Stimme. Auch er nimmt Abschied.

Manchmal hat er genug. Selten sind es seine Klienten, die ihn nerven, viel schneller lassen ihn Institutionen und Vereinigungen ungeduldig werden, denen er vorwirft, Vereinsmeierei zu betreiben und damit aus den Augen zu verlieren, daß es um Menschen geht, kranke Menschen. Sobel erzählt eine Geschichte, um dies zu illustrieren: "An einem Strand an einer gefährlichen Küste beschließen die Menschen, einen Rettungsdienst aufzuziehen. Sie besorgen sich Boote, fahren aufs Meer hinaus und retten viele Männer und Frauen. Eines Tages bauen sie ein Klubhaus, wo sie nach getaner Arbeit eine warme Mahlzeit zu sich nehmen können. Dieses Haus wird immer schöner, und bald will keiner mehr ins nasse, kalte Wasser hinaus. Andere Menschen kommen, retten Ertrinkende, errichten ihr Klubhaus. Inzwischen stehen viele schöne Klubhäuser an der immer noch gefährlichen Küste, an der nach wie vor viele Menschen ertrinken."

Natürlich hat auch der Aids-Pfarrer seinen Platz in der Aids-Szene; sitzt in Vorständen und Stiftungsräten von Organisationen wie Stiftung Aids und Kind, Zürcher Aids-Projekte ZAP, Aids-Info Docu Schweiz und natürlich in der von ihm mitbegründeten Stiftung zum Aufbau eines Zürcher Light-Houses. Aber ständig ist Sobel am Überprüfen, welche Mitarbeit wo sinnvoll ist, will er sich doch nicht verzetteln und seinen Klienten die Zeit stehlen. Es gibt andere Phasen, schlechte Phasen, in denen alles schiefläuft. Zum Verzweifeln ist es. Anfang des Jahres war so eine Zeit. "Es tötelet", sagte Sobel damals. Plötzlich starben viele seiner Klienten, einer nach dem anderen. Seine engste Mitarbeiterin wurde für die Dauer von drei Wochen krankgeschrieben; es war ihr alles zuviel geworden. Nachher kündigte sie. Eine Aushilfskraft mußte her. Ein neuer Mitarbeiter, Ueli, der gelernte Krankenpfleger, mußte eingeführt werden. Klienten fühlten sich vernachlässigt, übergangen, reagierten mit Eifersucht und Streiterei. Wann kommt endlich der zweite Aids-Pfarrer auf dem Platz Zürich, den es so dringend braucht? Heiko Sobel wirkte müde und erschöpft.

Noch nie in seinem Leben hat er so viel gearbeitet. Bisweilen droht ihn die Belastung aufzureiben, die ständige Konfrontation mit Resignation, Verzweiflung, Kranksein und Sterben, die von den wenigen freudvollen Momenten nicht gänzlich aufgewogen werden. An grauen, kalten Wintertagen, an denen auch ihm die wärmende Kraft derSonne fehlt, spürt er: Jetzt bin ich hilflos, fix und fertig. Er weiß von Kollegen in San Francisco und New York, daß man Aids-Arbeit nicht ewig machen kann. Zu viele Begegnungen mit dem Tod können seelische Schäden verursachen. Einsamkeit hängt über den Grenzgängern zwischen Leben und Sterben, denen viele Gesunde oftmals nur kurze Zeit zuhören mögen. Sobel behält sich das Recht vor, eines Tages, möglicherweise ganz abrupt und überraschend für alle, zu sagen: "Jetzt darf ich nicht mehr, jetzt muß ich meine Arbeit beenden."

Zukunftsgedanken.

Wie aber hat alles angefangen, wie wurde aus Heiko Sobel Europas erster Aids-Pfarrer?

1983 war es, vielleicht auch 1982. Da saß Sobel in einer Zürcher Badeanstalt und las den "Spiegel". Er blieb an einem Artikel hängen, der von einer Krankheit berichtete, die in den USA aufgetreten sei, von der man noch wenig wisse, die aber vermutlich ausschließlich vereinzelte männliche Homosexuelle treffe. Er legte das Heft zur Seite. Jetzt haben sie wieder mal etwas gefunden, um gegen die Schwulen loszuziehen, war alles, was ihm zu dem Text einfiel.

Eines Tages erreichte Sobel der Anruf eines Freundes aus Bern. Andi, der Künstler, bat ihn um ein Gespräch, in dessen Verlauf er sagte, HIV-positiv zu sein. Aids hatte ein Gesicht bekommen. Als dann Andi sehr krank wurde, hatte Heiko häufig Kontakt mit ihm. Er wußte, daß auch Max, der Freund Andis, das Virus in sich trug. Andi und Max leben nicht mehr. Sensibilisiert durch diese Ereignisse, ging Sobel dem Fall einer Selbsttötung nach, mit der er als Gemeindepfarrer in Berührung gekommen war. Ominös war ihm derTod eines Homosexuellen von Anfang an erschienen. Er fand heraus, daß der Mann auf Druck seines Vorgesetzten einen Aids-Test hatte machen lassen, vor dessen Resultat ihm dermaßen graute, daß er- ohne dieses abzuwarten - in den Tod flüchtete. Sobel: "Das war für mich der Anfang eines inneren Engagements."

Von jetzt an las der Pfarrer alle Artikel, die Aids betrafen. Er lernte Roger Staub kennen, den Mitbegründer der Aids-Hilfe Schweiz, erfuhr von ihm, welche Ausmaße die Krankheit in den USA bereits angenommen hatte und wie dringend nötig auch eine Schweizer Stop Aids-Kampagne sei. Als Pfarrer Müller aus Zwinglikon sprach er in einer Radiosendung zu Aids über die theologischen Momente von Homosexualität. 1986 war Aids vermeintlich noch die Krankheit der Schwulen. Schwulenseuche, wie sie die Schwulenhasser selbstgerecht schubladisierten. Heiko Sobel beerdigte die ersten Aids-Toten. Während der Papst, die Kardinale und Bischöfe mit der neuen Krankheit haderten, da sie Reizthemen wie Homosexualität und Promiskuität aufs Tapet brachte, und sich bedeckt hielten, als die Zahl der meist jugendlichen Aids-Opfer bedrohlich stieg, dachten innerhalb der reformierten Kirche kritische Geister schon früh über die Folgen von Aids nach. Der Zürcher Kirchenrat hatte erkannt, daß etwas geschehen mußte. Zum 1. Juli 1987 wurde aufgrund des persönlichen Engagements der Kirchenrätin Frau Lauffer die Stelle eines Beauftragten für Seelsorge und Information im Bereich Aids geschaffen. Die Medien titelten kurz und prägend: "Erster Aids-Pfarrer Europas in Zürich." Heiko Sobel übernahm die Stelle.

Als er erstmals sein Büro an der Plattenstraße in Zürich betrat, das mit zehneinhalb Quadratmetern Fläche eher einer Zelle als einem Zimmer ähnlich sah und das häßlich und lieblos möbliert war, packte ihn die Verzweiflung. Seiner Bitte um ein Tischchen mit zwei bequemen Sesseln - für den Fall, daß tatsächlich mal jemand vorbeikomme und Rat suche - war man nicht nachgekommen. Statt dessen versperrten zwei hochbeinige Holzstühle den Raum und paßten überhaupt nicht zu dem niedrigen Preßholztisch. Fürchterlich. Worauf hatte er sich da eingelassen? Ein schmuckes Pfarrhaus hatte er zurückgelassen, Menschen, zu denen er im Verlauf seiner fünfjährigen Tätigkeit Vertrauen aufgebaut hatte. Er hörte wieder die Frau, die es einfach nicht fassen konnte, daß der Herr Pfarrer zwar ihre Kinder getauft habe, sie aber nicht konfirmieren werde: "Wie können Sie jetzt weggehen?" Ja, wie konnte er? Was hatte ihn bewogen, eine Stelle anzutreten, für die es kein Vorbild gab, keine Vorgänger, die er um Rat hätte fragen können? Wieso hatte er ein Amt gewählt, in dessen unmittelbarer Nähe der Tod logierte? Heiko Sobel erinnert sich an ein Weihnachtsfest, als er fünf Jahre alt gewesen war und sein Vater den ersten Herzinfarkt erlitten hatte. An diesem Tag war der Tod in sein Leben getreten und zum ständigen Begleiter geworden. Sei dies in jenen Jahren, als der Weltschmerz ihn zu überwältigen drohte und nur der Selbstmord Abhilfe versprach; sei dies zu jener Zeit, als er sich in gefährliche Velounfälle verstrickt sah. Oder später, als er als Student in Stuttgart eine Absteige in einem Sterbehaus fand, seine Studien vernachlässigte und statt dessen Sterbewachen hielt, dann die Toten in Plastiksäcken in den Lift bugsierte, schön aufbahrte und zurechtmachte. Und nun wieder: Heiko Sobel, Aids-Pfarrer. Auf den Tod kranke junge Männer und Frauen würden seine Klienten sein.

"Je ne regrette rien" - Ich bereue nichts. Seinem Motto treu befand er auch diesmal: "Ich habe diese Stelle gewählt. Also vorwärts."

Das Büro wurde neu eingerichtet. Bequeme Sessel, ein passendes Tischchen, ein paar Bilder an die Wände. Allmählich verbreitete sich Atmosphäre. Doch die Hilflosigkeit blieb. Was tun? Wie sollte seine tägliche Arbeit aussehen? Gemeinsam mit Ruedi Weber, dem Aids-Beauftragten der reformierten Kirche von Basel, der sich in einer ähnlich mißlichen Lage befand, reiste Sobel nach San Francisco. Die beiden Pfarrer sahen sich Spitäler und Sterbehäuser an, sprachen mit Aids-Pfarrern, die in den USA ihre Arbeit bereits zwei, drei Jahre früher aufgenommen hatten, und kehrten reich befrachtet mit Eindrücken in die Schweiz zurück.

Die ersten Anrufe von Ratsuchenden kamen. Kontakte zum Universitätsspital mußten geknüpft werden. Es war nicht unproblematisch, als Neuling und Laie in die festgefügten hierarchischen Strukturen des Spitalbetriebs einzudringen.Skepsis begegnete dem Aids-Pfarrer, von dem niemand wußte, ob er wohl Arbeit bringe, wegnehme oder erleichtere. Die Begegnung mit Prof. Ruedi Lüthy, dem führenden Aids-Spezialisten brachte die Wende. Auch wenn sich das Verhältnis der beiden Männer zunächst zaghaft anließ, war ihnen schnell klar, daß sie zusammenarbeiten wollten. Auch die Medien verlangten ihren Teil vom neuen Pfarrer. Doch dieser blockte ab, denn noch hatte er nichts anzubieten. Gefragt war der Spezialist, vorhanden lediglich der Anfänger, der - wenn er einmal eine Ausnahme machte - bewaffnet mit Papieren und Unterlagen zum Interviewtermin erschien, in der Annahme, man erwarte von ihm Buchwissen. Ein ganzseitiger Artikel im Zürcher "Tages Anzeiger", in dem erstmals auch Sobels Hilfskasse, die "Schwarze Kasse" bekannt gemacht wurde, brachte den endgültigen Durchbruch. Das war beabsichtigt. Name, Adresse, Telefonnummer des Aids-Pfarrers sollten öffentlich bekannt werden.

Nicht gerechnet hatte er allerdings mit der nun einsetzenden Flut von Hilferufen - wie auch anonymer Anrufe und Beschimpfungen. Morddrohungen waren ebenso an der Tagesordnung wie Schikanen im Alltag. Briefe wie den folgenden legt Sobel inzwischen ab unter "Kurioses": "Sehr geehrter Herr. Für Aidskranke, die diese Krankheit bekommen haben in Folge eines unseriösen Lebenswandels wie Rauschgift-Einnehmen, homosexuell veranlagte Menschen etc., dafür kann man kein Erbarmen haben. Diese Menschen wissen genau, was sich gehört im Leben. Wenn sie das Risiko eingehen, angesteckt zu werden, dann wollten sie das, und es gehört auch zu ihnen. Das sind alles unnütze Brotesser, Gesindel, für die anständige Leute Steuern bezahlen. Unweigerlich bekommt man das Gefühl, daß Sie auch zu diesen Typen gehören oder mindestens homosexuelle Veranlagungen haben. Ansonsten hat man kein Erbarmen für diese Randgruppen." Heiko Sobel bekam Probleme mit dem Hausbesitzer und mußte seine Wohnung wechseln. Als Aids-Pfarrer mußte er nach neuen Wegen suchen, um all das, was er täglich erlebt, zu verarbeiten. Einer davon ist seine Psychoanalyse und Supervision. Eine andere ist seine Traumwelt, in der er vorwiegend schönen Dingen nachhängt und Kraft tankt. Eine zwölfjährige intakte Liebesbeziehung tut das Ihre dazu, ihm Sicherheit und Halt zu geben. Sakrosankt und unumstößlich ist die Regel, daß das Paar alle zwei bis drei Monate für eine Woche in die Ferien verreist. Ungestört und unerreichbar.

Intensiver ist sein Leben geworden. Er weint viel mehr, und er lacht viel mehr. Manchmal hat er Angst, wenn er an seine Zukunft denkt und sich fragt, ob er je wieder eine adäquate Tätigkeit finden wird, die ihn dermaßen fasziniert, gefangennimmt und existentiell berührt.

Seine Wohnung hat er entrümpelt. Weg mit dem alten Ballast. Nur noch die notwendigsten Stücke stehen im Raum; alles andere hat er verschenkt oder fortgeworfen, obwohl er früher ein passionierter Sammler war (Relikt aus dieserZeit: seine Müllauto-Kollektion). Doch zu viele Situationen hat er erlebt, in denen Menschen nach dem Tod eines Angehörigen um Schrankwände stritten oder Wohnungen voller Gegenstände übrigblieben, mit denen niemand etwas anfangen konnte. Sobel hat viele Männer und Frauen in den Tod begleitet und seine persönlichen Rituale des Abschiednehmens entwickelt. Wenn immer möglich schaut er sich den Toten noch einmal an, denn er sagt: "Der optische Eindruck des Todes ist für mich sehr, sehr wichtig." Trotzdem betont er stets, daß nicht Sterben an Aids, sondern Leben mit Aids im Zentrum seines Tuns stehe. "Der Tod hat sein eigenes Geschäft. Viel schwieriger ist es, das Leben mit Aids auszuhalten." Er bezeichnet seine Klienten manchmal als Helden, als große oder kleine Helden, deren Kampfgeist und Überlebenswille ihn zutiefst beeindrucken. Wie bewegend, tatsächlich, einen teilweise gelähmten, an Krücken gehenden Mann sagen zu hören: "lch bin der glücklichste Aidskranke der Welt" oder mitzuerleben, wie ein anderer von Schwäche und Blutarmut gezeichneter Aidskranker daran festhält, sterbende Freunde im Spital zu besuchen.

Die Begegnungen mit den im Durchschnitt fundzwanzig bis fünfunddreißig Jahre jungen Menschen haben Sobels Weltbild erschüttert. Er weiß, selber sechsunddreißig Jahre alt, daß in diesem Lebensabschnitt entscheidende Weichen gestellt werden und daß es hart ist, verdammt hart, jetzt zu gehen, jetzt loszulassen und zu akzeptieren:"Das war mein Leben." Trotzdem fragt er sich, ob wir nicht einem verhängnisvollen Irrglauben anhängen, wenn wir meinen, alt zu werden sei erstens selbstverständlich und zweitens die einzige Möglichkeit eines glücklichen und erfüllten Lebens. Viel mehr postuliert er das "Carpe diem", das ständig neue, lebendige "Pflücke den Tag".

Aidskranke sind gezwungen, nach diesem Grundsatz zu leben, denn unberechenbar verfährt ein Schicksal mit ihnen, das heute Fieberfreiheit beschert und morgen mit einem Zusammenbruch aufwartet, der sie ins Spitalbett zwingt. Unsicherheit und Ungewißheit sind die täglichen Begleiter, und auch in den Gesichtern der Ärzte und des Pflegepersonals lesen sie die Zeichen, die besagen: "Wir können nicht heilen." Sie müssen sich manchmal vorkommen wie Versuchskaninchen im Dschungel der zahllosen Medikamente, doch was bleibt ihnen anderes übrig? Alternativmedizin, Fernheiler, Magneto-pathen?

In einer solchen Situation ist der Pfarrer gefragt, der Repräsentant eines altehrwürdigen und traditionsreichen Berufsstandes, der angesichts des nahenden Todes weiß, was zu tun ist. Und nun gibt es einen Aids-Pfarrer, einen Menschen also, der eine Brücke schlägt zwischen dem Angst und Abwehr auslösenden Bereich Aids und der Zuverlässigkeit verheißenden Tätigkeit eines Pfarrers. Rund achtzig Prozent der Klienten Heiko Sobels haben keinen Bezug zur Institution Kirche und kommen trotzdem zu ihm. Was sie suchten und suchen, ist eine Person, die sie nicht verurteilt, die über eine professionelle Kompetenz verfügt und bei der sie sich aussprechen können, in Ruhe, ungestört, beschützt von einem strengen Seelsorge-Geheimnis.

Schwüle Sommerhitze über Zürich. Aids-Pfarrer Heiko Sobel hat sich für die Hausbesuche wie immer, wenn die Zeit knapp ist, ein Taxi genommen. Ein Mehrfamilienhaus außerhalb der Zürcher City, Andreas wohnt im ersten Stock. Vor drei Tagen ist er aus dem Spital entlassen worden, er ist blaß, mager und wackelig auf den Beinen. Zwei Lungenentzündungen hat er knapp überlebt. Er weiß, wie nahe er dem Tod gewesen ist.

Die beiden Männer begrüßen sich, küssen sich gegenseitig auf die Wangen, halten sich an den Händen. Andreas entschuldigt sich dafür, daß die Wohnung nicht hundertprozentig aufgeräumt ist: "Du weißt ja, Heiko, ich war fünf Wochen lang weg." Er selber allerdings sieht aus wie aus dem Ei gepellt: Dunkelblaues T-Shirt, gestreifte Sommerhose mit perfekter Bügelfalte, ein Armband, eine geschmackvolle Uhr, tipptopp frisiert. Er betont, er habe sich extra feingemacht für den Besuch, seinen letzten Schmuck zusammengesucht, geduscht. Heiko Sobel lächelt: "Du siehst gut aus."

Sobel setzt sich auf den Boden, seinem Klienten zu Füßen. "Schau, Andreas, wir haben jetzt alles erledigt für Deine Todesanzeige und Deine Beerdigung." Andreas steht hastig auf, nimmt den Zettel in die Hand: "Wir haben jemanden vergessen", sagt er und erweitert die Liste der Trauernden um eine Person. Er selber hat seine Todesanzeige verfaßt, in der er offen von seinem Leiden und Sterben an Aids schreibt: "Nur das Datum fehlt noch, Heiko. Aber darum kümmerst Du Dich ja, nicht wahr?"

Andreas ist seit 1983 aidskrank; wahrscheinlich ist er der Mensch, der die Immunschwächekrankheit weltweit am längsten überlebt hat. Viereinhalb Jahre mit Interferon, ein medizinisches Wunder, dann einige Jahre mit AZT. Jetzt mag er nicht mehr: "Ich nehme keine Medikamente mehr. Acht Jahre lang habe ich gekämpft, nicht wahr, Heiko, jetzt habe ich das Recht, zu sterben."

Sobel fragt: "Wann fährst Du ins Engadin?" - "Nächsten Dienstag. Fünf Wochen werde ich mich in dem Kurhaus erholen, nachher werde ich wieder anders aussehen, stärker, erholt, da bin ich ganz sicher." Kurt, ein Freund, fährt ihn in seinem neuen Cabriolet hin: "Ein richtiges Luxusauto, vollklimatisiert." Sobel warnt ihn vor Zugluft. "Ich weiß, aber schau, eine halbe Minute möchte ich in meinem Leben einmal in einem offenen Cabriolet gefahren sein. Auf dieses Gefühl freue ich mich schon jetzt."

Andreas trinkt ein Glas Yoghurt, das einzige, was sein Magen noch verträgt. Er rebelliert, genau wie seine Leber, seine Nieren, seine Haut, die mit dunklen Kaposiflecken gezeichnet ist. Er sagt: "Manchmal denke ich, ich lebe nur noch für die Wissenschaft. Gott sei Dank konnte ich viel weinen im Spital. Und Gott sei Dank habe ich wieder gelernt zu beten. Ich bete, daß Gott mir die Kraft gibt, noch ein, zwei Jahre zu überleben. Du siehst, Heiko, jetzt fordere ich, jetzt habe ich nichts mehr zu geben." Sobel beruhigt ihn: "Erinnere Dich, wie vielen Menschen Du geholfen hast, wen Du alles betreut hast." Andreas nickt heftig: "Mein Gott, die Toten. In der letzten Zeit denke ich viel an die Toten." Seine Katze streicht ihm um die Beine: "Salü Samantha, mein Schatz. Du weißt, daß Papi krank ist, nicht wahr. Ja, und Du willst mir helfen, aber auch Du kannst es nicht."

"Weißt Du, Heiko, ich hoffe nur, die Kaposiflecken kommen nicht in mein Gesicht. Ja, und wenn...?" Der Pfarrer sagt: "Viele Dinge kannst Du eben nicht wählen." - "Sag einmal, Heiko, kann man bei der Beerdigung den Sargdeckel hochheben?" - "Machst Du Kremation oder Erdbestattung?" - "Kremation." - "Auf Wunsch kann man das schon machen lassen." - "Nein, nein.

Ich will das ja gar nicht, wenn ich dann so entstellt bin. Es war nur eine Frage." Die beiden Männer unterhalten sich über das neue Wohn-und Pflegeheim, an dem Pfarrer Sobel und seine Mitarbeiter im Rahmen einer Stiftung arbeiten und das Mitte nächsten Jahres in Zürich eröffnet werden soll. Andreas will dort sterben; er hat ein Zimmer auf sicher, mit einem Balkon für seine Pflanzen: "Ist versprochen, nicht wahr, Heiko?" - "Ist versprochen", sagt der Pfarrer. Die Betroffenen kämpfen einen harten Kampf. Sie leiden an einer Krankheit, die gemäß heutigen Erkenntnissen ein bis drei Jahre nach Ausbruch zum Tod führt, sie werden von Schmerzen, Durchfall, Schwäche, Infektionen aller Art, Fieber, Ausschlägen,Tumoren gepeinigt. Sie mögen sich mit der Zeit an diese Symptome gewöhnen, sie halten sie aus; was unerträglich ist, sind die Diskriminierungen, die Schuldzuweisungen und der offen oder versteckt geäußerte Vorwurf, an einer Schande zu sterben: "Das Schlimmste an dieser Krankheit ist, daß du dir vorkommst wie ein Monster", wie eine seiner Klientinnen sagte. Krebskranke finden Mitleid und Zuwendung, Aidskranke werden häufig mit Verachtung und Isolation gestraft.

Gegen dieses Denken, gegen diese Haltung der Härte und Unmenschlichkeit tritt Heiko Sobel an. Er sagt:"Aidskranke sind keine Monster und keine lebendigen Leichen, sondern kranke Menschen, die leben, die Wünsche und Bedürfnisse haben wie wir alle."

Immer auf der Suche nach Möglichkeiten, die Situation von Menschen im HIV-Bereich positiv beeinflussen zu können, kam ihm auch die Stadt Zürich großzügig entgegen, um die Idee eines Begegnungszentrums verwirklichen zu können. Im ehemaligen Ladenlokal kommen Selbsthilfegruppen zusammen, finden kleinere Workshops statt und gibt es vor allem auch einen Raum für Meditation und Entspannungsmassagen.

Jedes Jahr führt Sobel Dutzende von Weiterbildungs-und Informationsveranstaltungen durch, spricht vor Mitgliedern des Rotary-Clubs genauso wie an einer FDP-Frauen-Matinee, diskutiert mit Krankenschwestern und Ärzten wie mit Angehörigen von Jugendgruppen.

Er erzählt seinen Zuhörern die Geschichte von Aids, die eigentlich die Geschichte einer ganz normalen Krankheit sein müßte. Doch Aids ist viel mehr, Aids ist Angst, Tabu, Moral. Denn Anfang der achtziger Jahre, als man in einem Spital in San Francisco zwölf Patienten behandelte, deren Krankheit rätselhaft und unheilbar war, stellte man ein allen gemeinsames Merkmal fest: Die Männer waren schwul. Fortan hieß die Krankheit "gay related immune deficiency" (Immunschwäche, die Schwule betrifft), kurz "Grid". Eine rein epidemiologische Definition mit dem Beigeschmack von moralischen Ausgrenzungswünschen hatte diesen Begriff entstehen lassen und zeitigte verhängnisvolle, ja katastrophale Auswirkungen. Im Nu waren Begriffe wie "Schwulenseuche", "Schwulenpest" und "Strafe Gottes" kreiert. Von Anfang an eingebunden in einen solchen Komplex von Schuld, Sünde und Strafe sollte es selbst dann schwierig werden, die Krankheit zu entmystifizieren, als sie neutral und wissenschaftlich korrekt Aids (erworbene Immunschwäche) genannt wurde.

Aids deckt auf, wie wir mit Sexualität umgehen. Sobel erzählt seinen Zuhörern stets den Fall eines Familienvaters, der mit einer Autostopperin im Grünen ungeschützten Geschlechtsverkehr hatte. Nachher hatte er Panik, rief den Aids-Pfarreran und wollte wissen, wo er einen Aids-Test machen könne. Als er erfuhr, daß der Test erst drei Monate nach dem Risiko-Moment ein zuverlässiges Ergebnis anzeige und er bis dahin nur geschützten Verkehr haben sollte, bekam der Mann einen Wutanfall: "Wie stellen Sie sich das denn vor? Was soll ich meiner Frau sagen? Du, Liebling, ab heute schlafen wir nur noch mit Präservativ zusammen? Lächerlich."

Aids zwingt dazu, der eigenen Geschichte ins Gesicht zu sehen. Wie einfach ist es doch, mit Fingern auf Drogensüchtige zu zeigen. Wie schwer hingegen fällt es, sich die eigene Arbeitssucht einzugestehen, oder die Konsumsucht, Tablettensucht, Alkoholsucht, Freßsucht? Und wie steht es mit den eigenen sexuellen Erlebnissen, den ungeschützten Abenteuern, damals, auf jener Ferienreise?" Die Liebe soll ja bleiben", schmunzelt Sobel, "aber ist der Gummi auch dabei?"

Aids berührt das Tabuthema Tod. Heiko Sobel: "Es gibt keine hundertprozentige Sicherheit im Leben. Es gibt höchstens die, daß wir alle einmal sterben müssen. Aber das wollen wir nicht wahrhaben." Die wenigsten Menschen in unserer Gesellschaft haben je einen Toten gesehen oder einer Beerdigung beigewohnt. Der Tod kommt, wenn man achtzig ist. Man stirbt heute nicht mehr, man kommt um bei einem Autounfall oder wenn die Medizin versagt. Sobel erzählt von seiner Großmutter, die mit dreiundneunzig Jahren an Nierenversagen gestorben ist:"Auch in einem solchen Fall erstellt man eine Diagnose, so mit dem Hintergedanken: Ja, wenn der Arzt dieses oder jenes getan hätte, dann hätte die Oma vielleicht überlebt. Heutzutage wird nicht einfach gestorben, wir sterben stets an 'etwas'."

Der Pfarrer benennt ein Tabu nach dem anderen, und die Zuhörer schlucken leer. Ob sie damit gerechnet hatten? Von den armen Aidskranken, den Schwulen, Drogensüchtigen und promiskuitiv lebenden Menschen wollte man doch etwas hören. Nichts da. Sobel verweigert sich dem Schablonendenken: "Es gibt keine Risikogruppen, es gibt nur Risikoverhalten." Mit den Jugendlichen spricht er in ihrer Sprache, sagt bumsen, Schwanz und geil. Das müsse so sein, andernfalls blieben seine Sätze leer, und er erreiche die Gefühle seiner Zuhörer nicht.

Mit Krankenschwestern diskutiert er vor allem Fragen des Umgangs mit an Aids erkrankten Menschen in der Pflege und der Bewältigung von Ängsten im Berufsalltag. Wie groß ist die Ansteckungsgefahr? Eine Frage, die immer wieder auftaucht. Er erzählt gern persönlich, berichtet von Unfällen, da er plötzlich, ohne sich die schützenden Gummihandschuhe überstreifen zu können, von einem Schwall Blut überrascht wurde, und nennt so etwas Berufsrisiko. Er trinkt aus demselben Glas wie ein Kranker, teilt das Eis am Stiel mit ihm und küßt Kranke ohne Bedenken. Er beruhigt die Zuhörerinnen, indem er betont, daß Aids eine schwer übertragbare Krankheit sei. Und wieder ein Sobelsches Bild: "Die Wahrscheinlichkeit, daß Sie sich in Ausübung Ihres Berufes mit Aids infizieren, ist unendlich viel kleiner als diejenige, daß Sie von einem Blitz erschlagen werden." Gleichzeitig gibt er zu, daß auch er nicht gefeit ist gegen Ansteckungsängste: "Ich war mit einigen, zum Teil schwer von der Krankheit gezeichneten Menschen in einem Workshop. An einem Morgen betrete ich die Dusche, kurz nachdem ein schwerkranker Mann sie verlassen hat. Als ich so dastehe, nackt, wie man normalerweise in der Dusche ist, und den Wasserhahn aufdrehe, trifft mich der Schlag und ich denke: Jesses Gott, jetzt hat doch der gerade vor mir geduscht. Eine völlig irrationale Reaktion, aber eben, manchmal spielt einem das Unbewußte so einen Streich." Vor Psychiatern in einem Weiterbildungsseminar spricht er von Sterbebegleitung und Sterbesymbolen. Er erzählt von einem jungen Mann, der nicht loslassen, nicht sterben konnte. Ihn habe er auf einer imaginären Bergwanderung begleitet, habe den sehr Körperbewußten sich Stück um Stück entkleiden lassen und ihn den letzten Weg zum Gipfel schließlich allein und nackt antreten lassen. In dem Moment, wo er die Spitze des Berges erreicht und einen Blick in welches Jenseits auch immer getan habe, sei er friedlich gestorben.

Solchen persönlichen Bildern mißt Sobel große Bedeutung bei. In einer Begegnung dieser Art spürt er die tiefe Spiritualität vieler Menschen, auch wenn sie mit Begriffen wie Gnade und ewigem Leben nichts anfangen können. Er proklamiert explizit das Ende einer religiösen Sprache im traditionellen Sinn. Er akzeptiert auch den Stein aus Griechenland, den ein Klient als Symbol einer glücklichen Zeit jedem Kreuz vorzieht. Die Fragen nach dem Sinn des Daseins, dem Leben nach dem Tod, nach Gerechtigkeit des Schicksals stellen alle Sterbenden, ob sie sich als gläubig bezeichnen oder nicht, jeder auf seine Weise.

Sobel appelliert an die Solidarität seiner Zuhörer. Das Leben mit Aids bedeutet Reduktion auf allen Ebenen. Die Menschen verlieren so vieles, Gesundheit, Zukunft, Lebensfreude und Energie. Die zunehmende körperliche Schwäche schränkt den Bewegungsradius ein. Makellose junge Körper verfallen, die Schönheit schwindet.

Konzentrationsschwierigkeiten treten auf, der Arbeitsplatz ist gefährdet. Freunde und Verwandte ziehen sich zurück. Wo bleiben Zärtlichkeit und sexuelle Bedürfnisse, wenn die Angst vor Ansteckung in Berührungsangst mündet? Sobel liest das Gedicht eines Klienten vor:

Sonntagnacht
Ich bin für dich da, egal wie es dir geht.
Ich bin für dich da, auch wenn die Welt kopfsteht.
Ich bin für dich da, wenn du mich brauchst.
Ich bin für dich da, egal wie es dir geht.
Ich bin für dich da, egal wie es um dich steht.
Ich bin für dich da, und ich heiße Aids.

Er zitiert Sätze aus Gesprächen mit seinen Klienten, die ihm in Erinnerung geblieben sind: "Mir genügt es sschon zu leben." - "Wo ist denn hier der Notausgang." - "Ich habe wie viele andere an einer Villa mit Swimmingpool gebaut. Dann kam Aids, und alles flog in die Luft. Jetzt baue ich an einem kleinen Holzhäuschen in einem verwilderten Garten. Aber dafür existieren keine Baupläne."

Sobel, der großgewachsene Mensch, ist sensibel und strahlt Ruhe aus, erweckt Vertrauen. Was er sagt, wirkt wohlüberlegt. Phrasen drischt er keine.

Sitzt man mit ihm zusammen, spürt man nichts von Hetze und Zeitdruck. Er nimmt sich Zeit und ist da.

Er schlüsselt das Wort Aids auf: Angst in der Seele. Angst ist das Schlimmste. Er berührt seine Zuhörer. Wenn er erzählt, daß derTeddybär, den er stets wie ein Maskottchen mit sich führt, ein Geschenk der Stadt San Francisco an alle seine Aidskranken sei, gedacht als Symbol für Wärme und Integration, spüren alle Anwesenden die heilende Kraft der Solidarität. Seine Augen leuchten auch dann jedesmal auf, wenn er von den zugegeben noch wenigen Beispielen erzählen kann, wo Menschen sich in der Krankheitszeit wiederfinden, Angehörige und Freunde zusammenrücken und nachbarschaftliche Hilfe vorbehaltslos möglich ist oder in Zusammenarbeit mit der Aidshilfe und den Spitex-Organisationen eine individuelle Pflege und Betreuung gefunden werden konnte. Besonders freut er sich über die vielen menschlichen Momente, die -zusammen mit Ärzten und Schwestern -heute im Universitätsspital möglich sind.

Das war gestern. Heute muß Heiko Sobel wieder eine Klientin besuchen, deren Familie und Freunde sich immer mehr zurückziehen, je länger die Krankheit dauert: "Das erlebe ich häufig. Wenn es nur noch darum geht, das Sterben eines Menschen auszuhalten, einfach bei ihm zu sein und vielleicht seine Hand zu halten, läßt man die Betroffenen allein." Mit Aids geht so vieles verloren. Und da gilt es, immer wieder Hoffnung aufzuzeigen, wie man auch in veränderten Situationen sinnerfüllt leben kann. Sobel arbeitet in seiner Suche nach der Faszination des Lebens utikonventionell . Mal sitzt er auf dem Boden, liegt bei einem Patienten im Bett, hält ein seelsorgerisches Gespräch in der Badeanstalt, beim Waldspaziergang, im Lagerraum. Den Pfarrer sieht man ihm nicht an, und doch ist er einer mit Leib und Seele. Der alte Don Camillo ist ihm seit seiner Jugend Leitbild.

"Ich kann nicht mehr leben wie Ihr Negativen", Hrsg. Koni Nordmann & Heiko Sobel, Verlag Der Alltag

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

© Barbara Lukesch