Was ist typisch Frau? Was ganz Mann?

Neues Rollenverständnis / 17. Februar 1996, "Das Magazin"

Symbolbild zum Thema Sport

Männer präsentieren in "Vogue Uomo" und für "Dolce & Gabbana" Frauenkleider, in London sind Drag Kings und Queens angesagt, und in der Techno-Szene ist zwischen Männlein und Weiblein äusserlich oft kaum zu unterscheiden. Fluidity, Bisex und Androgynität heissen die Modewörter. Dem Trend vorausgegangen sind wissenschaftliche Diskussionen, ausgelöst von Frauen wie den Amerikanerinnen Judith Butler ("Körper von Gewicht") und Marjorie Garber ("Verhüllte Interessen"). Die Sportsoziologin Birgit Palzkill, 44, gehörte im deutschen Sprachraum zu den ersten, welche die Zweigeschlechtlichkeit in Frage stellten. Ihr bekanntestes Buch, "Zwischen Turnschuh und Stöckelschuh", geht von ihren eigenen Erfahrungen aus. Als Kugelstösserin, Mehrkämpferin und Basketballerin stand sie einst in den deutschen Nationalkadern.

Birgit Palzkill, warum stellen Sie das Modell der Zweigeschlechtlichkeit, das in unserer Gesellschaft wie eine natürliche Selbstverständlichkeit daherkommt, in Frage?

Meine Zweifel haben mit eigenen Erfahrungen zu tun. Frau werden zu müssen habe ich schon als Kind als beengend und unnatürlich empfunden, ohne dass ich deswegen hätte Mann werden wollen. Als Kind ist es ja noch nicht so wichtig, ob man Mädchen oder Knabe ist; in der Pubertät läuft dann aber ein Prozess ab, den ich heute "gesellschaftliche Zurichtung" nennen würde und in dessen Verlauf Mädchen zu sogenannt richtigen Frauen gemacht werden.

Hatten Sie auch Mühe, Ihren weiblichen Körper als solchen zu akzeptieren?

Nein. Ich habe mich in meinem Körper eigentlich wohl gefühlt. Aber als dann die Verbindung hergestellt wurde: Weil du einen solchen Körper hast, musst du so und so sein, darfst keine grossen Schritte mehr machen, darfst ab einem gewissen Alter nicht mehr auf der Strasse herumrennen, darfst zwar klug sein, aber es nicht zeigen - als diese Verknüpfung immer zwingender wurde, bin ich ins Straucheln geraten.

Hatten Sie denn eine Mutter, die Ihnen die klassische Frauenrolle vorlebte und damit vor Augen führte, was eines Tages an Einschränkungen auf Sie zukommen würde?

Eigentlich nicht. Ich glaube auch nicht, dass meine Zweifel am Modell der Zweigeschlechtlichkeit in meiner Biographie begründet sind. Davon war ich früher überzeugt. Da dachte ich, das sei mein persönliches Problem; alle anderen würden klar trennen: hier Frauen, da Männer. Inzwischen weiss ich, dass viele Leute meine Skepsis gegenüber der Zweigeschlechtlichkeit mindestens nachvollziehen können.

Nun ist es aber unbestritten, dass Mädchen mit einer Vagina und Knaben mit einem Penis zur Welt kommen. Es existieren zudem geschlechtsspezifische Unterschiede bezüglich der Chromosomen und der Geschlechtshormone. Reicht Ihnen all das nicht aus, um Mann und Frau eindeutig unterscheiden zu können?

Diese Unterschiede will ich gar nicht leugnen. Aber auch in der Biologie ist es nicht möglich, zwei klar getrennte Klassen zu bilden, die dem entsprechen, was wir ganz selbstverständlich als Mann und Frau bezeichnen. Es gibt in der Natur viele Fälle, die sich auf diese Art nicht einordnen lassen.

Die Grenzen zwischen den Geschlechtern sind durchlässiger, als wir gemeinhin annehmen?

Auf jeden Fall. Man kann biologische Geschlechtermodelle auf dem Papier skizzieren, aber kaum jemand passt in der Realität genau hinein. Was ist mit der Frau mit dem starken Bartwuchs, wie flach "darf" ein Busen sein, wie rund "dürfen" die Hüften eines Mannes sein? Angesichts der schwammigen Grenzen in der Realität fühlen wir uns daher gezwungen, klare Geschlechterbilder mindestens durch Konventionen herzustellen.

Was repräsentiert denn für Sie das Geschlecht?

Ich bin überzeugt, dass das, was uns als Geschlecht und damit als natürliche Selbstverständlichkeit präsentiert wird, eine soziale Konstruktion ist. Mich interessiert vor allem auch die Frage, wie wir zu Frauen beziehungsweise zu Männern gemacht werden.

Welche Bedeutung hat das Geschlecht für jeden einzelnen von uns?

Das Geschlecht ist die Grundkategorie schlechthin. Wer keine richtige Frau oder kein richtiger Mann ist, steht ausserhalb der Gesellschaft, gehört nicht dazu, ist im Grunde genommen ein Nichts.

Können Sie das etwas konkretisieren?

Wenn Erwachsene einer Person begegnen, die sie nicht klar als Mann oder Frau identifizieren können, sind sie häufig nicht in der Lage, mit diesem "Wesen" in Kontakt zu treten. Sie empfinden die Situation als peinlich; die Peinlichkeit beruht darin, dass sie das Geschlecht, eine zentrale Kategorie dieser Gesellschaft, nicht zuordnen können. Es ist ja auch so, dass man Kinder ab dem siebten, achten Lebensjahr zurechtweist, wenn sie einen Mann oder eine Frau falsch identifizieren. Kleineren Kindern wird noch zugestanden, dass sie ihrer Unsicherheit Ausdruck geben und halt ungeniert fragen.

Sie werden ja auch hin und wieder von Kindern gefragt, ob Sie Mann oder Frau sind. Könnte es an Ihrer Körpergrösse von 1,83 Metern liegen?

Nein, das glaube ich nicht. Ich habe ja Basketball gespielt und hatte Kolleginnen, die zwei Meter gross sind und nie gefragt wurden, ob sie Männer sind. Nein, ich denke, das hat mehr mit meiner Art, wie ich auf Leute zugehe und mit ihnen in Kontakt trete, zu tun. Schliesslich identifiziere ich mich ja auch nicht eindeutig als Frau.

Haben Sie nie darunter gelitten, nicht klar als Frau wahrgenommen zu werden?

Doch, es gab Phasen in meinem Leben, da hatte ich tatsächlich Mühe, wenn ich in einer Kneipe auf die Toilette musste und es rief mir wieder jemand hinterher: He, das ist die falsche Tür. Da habe ich mir das Pinkeln manchmal von vornherein verklemmt.

Als Spitzensportlerin mussten Sie sich sogar einem Geschlechtstest unterziehen. Wie haben Sie seinerzeit darauf reagiert?

Ich spürte eine gewisse Unsicherheit, was da wohl herauskommt. Ob womöglich herausgefunden würde, dass ich eben doch keine richtige Frau bin. Dabei habe ich rein körperlich überhaupt keinen Grund, an meinem Frausein zu zweifeln. Ich war auf jeden Fall total erleichtert, als mir mein Frausein bestätigt und der entsprechende Ausweis mit Foto ausgehändigt wurde.

Wie haben denn Ihre Kolleginnen auf diesen Test reagiert?

Das Interessante ist, dass nahezu alle diese Unsicherheit und Spannung empfanden. Daran sieht man ganz deutlich, dass Geschlecht eben wirklich eine soziale Kategorie ist. Denn wäre es so eindeutig, wie man uns weismachen will - hier Frauen, da Männer -, müsste doch keine Frau Angst haben, einen Test nicht zu bestehen.

Unabhängig vom rein Körperlichen hat wohl jede Frau die Angst, keine richtige Frau zu sein, schon einmal gespürt.

Es ist ja auch eine Gratwanderung, in dieser Gesellschaft als Frau zu genügen. Die Grenzen, was Frauen dürfen, sind erheblich hinausgeschoben worden. Frauen dürfen heute Kugelstossen und Hammerwerfen, sie dürfen Bodybuilding machen und Muskeln kriegen, sie dürfen auch beruflich Karriere machen. Aber - alles in Massen. Muskeln ja, aber, bitte, nicht zu viel. Karriere okay, aber nicht erfolgreicher als der Ehemann. Frauen, die diese schmale Grenze nicht einhalten, droht der Verlust ihrer Geschlechtsidentität: Das sind keine richtigen Frauen mehr.

Auch auf Männern lastet ein gewaltiger Druck, richtige Männer zu sein. Trotzdem gibt es einen David Bowie, einen Prince und einen Mick Jagger, die mit Elementen von Weiblichkeit kokettieren und gesellschaftlich anerkannt sind. Wieso können sie sich das erlauben?

Der Mann gilt als Mensch schlechthin, die Frau ist primär Geschlecht. So gesehen, ist es die Freiheit des Herrn Bowie, sich als Frau zu inszenieren, wohingegen es als Anmassung empfunden wird, wenn eine Frau es wagt, als Mann herumzulaufen. Sogenannte Mannweiber stehen nicht hoch im Kurs.

Männer in Stöckelschuhen, Minirock und mit Ballonbusen sind ja der Lachschlager an sich. Wieso ist Travestie so beliebt?

Indem man das sogenannt Perverse darstellt und es auslacht, liefert man sich den Beweis dafür, wie normal man selber ist. Gerade in Zeiten gesellschaftlichen Umbruchs ist das Geschlecht als Ordnungsprinzip sehr wirksam und kann Sicherheit vermitteln.

Die Tunte allerdings findet keine Gnade mehr. Da ist gesellschaftliche Ächtung, ja bisweilen gar Verfolgung angesagt.

Eine Tunte ist eben ein Mann, der die Gesetze der Männergesellschaft verletzt. Sie bringt die weiblichen Anteile, welche die anderen Männer zwar auch haben, aber stets verstecken müssen, zum Ausdruck. Damit bedroht sie die männliche Identität, die stark bestimmt ist durch das Nicht-Frausein.

Transsexuelle - also Menschen, deren physisches und psychisches Geschlecht nicht übereinstimmen - sind wahrscheinlich die Menschen, die am stärksten unter dem Druck leiden, einem Geschlecht eindeutig zugehören zu müssen.

Es ist wirklich ein Drama, welche chirurgischen Eingriffe und sonstigen medizinischen Mittel Transsexuelle über sich ergehen lassen, um sich einer der beiden "Geschlechterkisten" regelrecht einzuverleiben. Indem sie diese Operationen auf Biegen oder Brechen durchführen lassen, bestätigen sie den "normalen Zeitgenossen" in seiner Ansicht, dass das Modell der Zweigeschlechtlichkeit natürlich ist; alles andere gilt als Abweichung von der Norm und muss weg.

Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit eine Geschlechtsumwandlung auch gesetzlich als vollzogen gilt?

Männer müssen sich ihren Penis entfernen lassen; eine Frau mit Penis ist unvereinbar mit den herrschenden Vorstellungen. Frauen hingegen müssen nur sicherstellen, dass sie keine Kinder mehr bekommen, müssen also ihre Unfruchtbarkeit nachweisen.

Die Vagina wird also als Quantité négligeable betrachtet?

So ist es.

Warum wollen Transsexuelle nicht als Frau mit männlichem Körper oder umgekehrt leben?

Weil es unsere Kultur schlicht nicht erlaubt, eine weibliche Identität mit einem männlichen Körper zu verbinden. Würden die Geschlechtergrenzen aufgeweicht, dächten viele Transsexuelle nicht länger an eine Operation. Es gibt bereits heute einzelne, die das schaffen.

Transsexuelle stellen ja auch eine Gruppe dar, die nahezu zwischen alle Stühle fällt und fast nirgends auf Verständnis stösst.

In ihrem Bedürfnis, eine richtige Frau zu sein, übertreiben sie oft. Nach allen Regeln der Kunst und Mode versuchen sie, das perfekte Bild einer Frau abzugeben. Was uns dann entgegentritt, ist in der Tat bisweilen erschreckend, ja, ist mehr die Persiflage einer Frau als eine richtige Frau.

Deshalb lehnen Feministinnen Transsexuelle ja oftmals ab.

Transsexuelle führen uns Frauen eben krass und deutlich vor Augen, welche Zwänge in dieser Gesellschaft auf allen Frauen lasten, auch wenn wir gelernt haben, unser Frausein etwas dezenter auszudrücken.

Kann sich überhaupt jemand den Luxus leisten, zwischen den Geschlechtern zu leben?

Nein, ich denke nicht. Es sei denn im Bereich der Kunst. Georgette Dee ist ein solch seltenes Beispiel. Der Sänger/die Sängerin steht als Frau auf der Bühne, lebt aber im Alltag als schwuler Mann.

Wie definieren Sie sich heute?

Mir ist meine Geschlechtszugehörigkeit egal. Wenn mich jemand als Frau anspricht, ist das in Ordnung. Aber wenn man mich als Mann anredet, ist das auch gut. Es gibt ja leider nur diese beiden Kategorien.

Sie leben als Lesbe. Welchen Einfluss auf Ihre Identität hat das?

Als ich mir bewusst wurde, dass ich eine lesbische Identität habe, wollte ich erstmals auch wirklich eine Frau sein. Denn Lesben sind ja auch Frauen, aber als Lesbe bin ich nicht bezogen auf Männer, muss mich nicht in das herrschende System einfügen, in dem Frauen als Anhängsel von Männern gedacht sind. Durch mein Lesbischsein habe ich mir einen Platz in der Gesellschaft verschafft, obwohl ich gegen die herrschenden Vorstellungen von Weiblichkeit verstosse. Ich kann zum Beispiel grosse Schritte machen, obwohl ich stets gewarnt worden bin: "Achtung, mach kleine Schritte, sonst kriegst du keinen Mann!"

Als Spitzensportlerin mussten Sie dann plötzlich grosse Schritte machen.

Der Sport ist tatsächlich ein Feld, wo grosse Schritte einen anderen Stellenwert haben. Im 100-Meter-Lauf musste ich grosse Schritte machen, sonst wäre ich keine vernünftige Zeit gelaufen. Im Sport werden Bewegungsformen, aber auch Verhaltensweisen gefördert, die ausserhalb dieses Felds als unweiblich gelten.

Es muss ein rechter Spagat gewesen sein, diesen widersprüchlichen Anforderungen zu genügen.

Ich habe die Situation letztlich über meine lesbische Identität bewältigt, indem ich mich geweigert habe, den Spagat länger mitzumachen. Viele andere Sportlerinnen kriegen es hin, indem sie Beziehungen zu Sportlern oder Trainern eingehen, die ihre sogenannt unweiblichen Anteile akzeptieren. Im Liebesverhältnis mit einem Trainer sitzt allerdings oft ein grosses Missbrauchspotential. Trainer fördern zwar einerseits die "unweiblichen" Seiten der Sportlerin, weil sie ja ihrem eigenen Erfolg dienen, andererseits vermitteln sie diesen Frauen kraft ihres Mannseins ihre Weiblichkeit. Da können natürlich Abhängigkeiten entstehen.

Was würde eigentlich passieren, wenn wir uns nicht länger als Frauen und Männer klassifizieren würden, sozusagen "jenseits von Mann und Frau" leben würden?

Auch wenn wir alle viele Stunden pro Tag "jenseits von Mann und Frau" leben und unser Geschlecht nicht speziell wahrnehmen, erscheint es uns als bedrohlich und indiskutabel, die Geschlechtergrenzen wirklich aufzuweichen. Ich glaube, der Grund liegt darin, dass wir uns insbesondere im Bereich der Erotik, Sexualität und des Begehrens nicht vorstellen können, was jenseits der Geschlechterkategorien passieren sollte. Wir befürchten, unerotisch, asexuell, nicht länger begehrenswert zu werden. Dabei denke ich, dass das Gegenteil eintreten könnte. Es könnte befreiender, spannender und schöner sein, eine umfassende Erotik zu leben. Nur fehlen uns dazu bisher die Vorbilder.

Im "Spiegel" wurde schon behauptet, dass der Hausmann als Liebhaber durchfalle, dass keine Frau einen solchen "Schlappschwanz" begehre.

Genau das passiert, weil wir Erotik und Begehren so eng an die herrschenden Geschlechtsrollen koppeln. Fallen sie weg, haben wir keine Vorstellung mehr, wie erotische Spannung erzeugt werden könnte. Das sind Polungen, die tief in uns drinnen sind und sich nicht einfach über den Kopf beherrschen lassen. Ich kann nicht sagen, ich mache die Rollenzwänge nicht mehr mit und bin nun frei. Das braucht Zeit und Arbeit.

Warum hält es die Gesellschaft Ihrer Meinung nach für so wichtig, am Modell der Zweigeschlechtlichkeit festzuhalten?

Was uns als Geschlecht präsentiert wird, ist eigentlich ein politisches Konzept, das dazu dient, Frauen zu unterdrücken.

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© Barbara Lukesch