Radikaler Eingriff gegen Übergewicht

Magen-Banding / 25. August 1996, "Sonntags_Zeitung"

Symbolbild zum Thema Psychologie und Medizin

In der Schweiz leiden 17'500 Menschen unter krankhaftem Übergewicht. Tendenz zunehmend. Diäten nützen oftmals nichts. Abhilfe verspricht nun das Magen-Banding, ein operativer Eingriff, der immer häufiger angewandt wird.

Wenn Ingrid P. zwei Familienpackungen Pommes chips, fünf Bananen, eine Tafel Schokolade und einen Liter Milch hinuntergeschlungen hat, fühlt sie sich wie "in Watte gepackt, entspannt und zugedröhnt wie ein Junkie nach einem Schuss Heroin." Die 30jährige ist sich bewusst, dass ihre "Fressanfälle" dazu dienen, ihre Depressionen "zuzudecken" und sich kurze Stunden von "Ruhe und Zufriedenheit" zu bereiten.

Sie hat auch realisiert, dass ihre Esssucht immer dann eskaliert, wenn sie in einer Lebenskrise steckt. Das war so, als ihr Freund sie verliess; das wiederholte sich Anfang dieses Jahres, als sie ihren Arbeitsplatz als Psychiatrieschwester verlor. "Die Fressattacken", sagt Ingrid P., "empfinde ich als Gewalt gegen mich selber, der ich wehrlos ausgesetzt bin."

Gewichtsprobleme begleiten die junge Frau seit ihrer Kindheit. Schon als Zwölfjährige wurde sie erstmals von ihrer Mutter auf eine Diät gesetzt. Der Erfolg war von kurzer Dauer wie bei den zahllosen nachfolgenden Hungerkuren, die sie seither unternommen hat. Statt dessen musste sie sich daran gewöhnen, als "dicke Sau" angepöbelt und immer wieder wegen ihres Übergewichts ausgelacht zu werden. Ein Turnlehrer sah hämisch grinsend zu, wie sie - unbeweglich, wie sie nun einmal war - von den Ringen fiel und sich beide Arme brach. Ihre Schulkameraden hänselten sie ständig und garantierten der "Dicken", dass sie nie einen Mann finden werde.

Hass auf den eigenen Leib

Ingrid P. schluckte Kränkung um Kränkung und zog sich immer mehr zurück. Sie zwang sich wieder einmal zu zwei Wochen Nulldiät, nahm ein paar Kilogramm ab und musste verzweifelt mit ansehen, wie sie kurze Zeit später sogar ihr Ausgangsgewicht um fünf Kilogramm übertroffen hatte. Sie begann nach jedem Essen zu erbrechen und konnte so während etlicher Jahre wenigstens ihr Gewicht stabil halten. "Doch das Kotzen", sagt sie, "war noch viel schlimmer als alles andere."

Seither hat sie kontinuierlich zugenommen und wiegt heute 122 Kilogramm bei einer Körpergrösse von 1,76 Metern. Sie hasst ihren massigen Leib, die "Wülste" rund um ihren Bauch, ihr "Vollmondgesicht", wie sie es abschätzig nennt, und guckt schon lange nicht mehr in den Spiegel. Sie leidet unter beginnender Arthrose in ihren Knien und kämpft bei jedem Schritt mit Atemnot.

Dank einer Spezialuntersuchung weiss sie, dass sich ihr Körper zu mehr als fünfzig Prozent aus Fett zusammensetzt und dass ihre Knochen nur bescheidene 2,9 Kilogramm auf die Waage bringen. Alarmiert von diesem Befund, hat sie beschlossen, endgültig etwas zu unternehmen: "Jetzt muss etwas passieren, sonst fresse ich mich zu Tode."

Vor kurzem hörte Ingrid P. erstmals von einer Operationsmethode, dank der Übergewichtige schnell, wirksam und langandauernd von ihrem Leiden befreit werden sollen. "Magen-Banding" heisst das Zauberwort, in das sie nun all ihre Hoffnungen setzt. Fritz Horber, Internist, Stoffwechselspezialist und Chefarzt der Klinik Schloss Mammern am Bodensee, ist ein überzeugter Verfechter des Magen-Bandings, jenes chirurgischen Eingriffs, mit dem es, so der Experte, gelinge, die "nimmersatten Mägen" der krankhaft Esssüchtigen "zu bändigen". Horber kennt das Leiden seiner Patienten aus eigener Erfahrung, da er selber mit gravierenden Gewichtsproblemen zu kämpfen hat. Er weiss um ihre gesellschaftliche Ausgrenzung, ihre Scham- und Schuldgefühle, aber auch um ihre körperlichen Folgeschäden. Er sagt: "Starkes Übergewicht ist eine Krankheit, die zu mindestens 75 Prozent genetisch bedingt ist und gegen die man mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln angehen muss."

Vor-Magen als Staudamm

Seit zwei Jahren betreut Horber in der Klinik Schloss Mammern Männer und Frauen, die sich einem Magen-Banding unterzogen haben. Durch diesen Eingriff wird die Aufnahmekapazität des Magens erheblich reduziert. Mit Hilfe einer Naht aus Klammern und eines Plastikbandes wird eine Art Vormagen, der die Grösse einer Espresso-Tasse hat, vom restlichen Magen abgetrennt. Dieser Vormagen schliesst direkt an die Speiseröhre an und ist durch einen 1,2 cm schmalen Durchgang mit dem restlichen Magen verbunden. Seine Wirkung lässt sich mit derjenigen eines Staudamms vergleichen.

Konnten die Patienten einst fünf Bratwürste problemlos vertilgen, so gebietet ihnen das Magen-Banding künftig nach einer Cipollata Einhalt. Und selbst diese Miniportion muss äusserst langsam und sorgfältig gekaut werden, bis sie geschluckt werden darf. Schlingen die Patienten zu grosse Stücke hinunter, bleiben diese stecken und führen zum Erbrechen. "Wer sich einem Magen-Banding unterzieht", sagt Horber, "ist gezwungen, sein Essverhalten radikal umzustellen." Er könne zwar in der Regel immer noch jede Art von Nahrung zu sich nehmen, aber höchstens noch ein Drittel der früheren Mengen. Das schwierigste für die Operierten sei zunächst, mit dem drohenden Erbrechen umgehen zu lernen und aus Angst davor nicht in eine regelrechte "Essenskrise" zu geraten. Das Neue und Faszinierende für nahezu alle sei die Erfahrung, "wirklich einmal satt zu sein" - eine Empfindung, die den "Ess-Süchtigen" komplett abgehe - und gleichzeitig "rasant" abzunehmen.

Magen-Banding ist ein chirurgischer Eingriff, der in den meisten Fällen unter Vollnarkose vorgenommen wird. Kostenpunkt: 8000 Franken - Rehabilitation nicht inbegriffen. Kassenpflichtig ist diese Leistung in der Schweiz inzwischen bei all jenen Patienten, die während zweier Jahre ärztlich kontrollierte, aber dennoch erfolglose Diäten absolviert haben. Ihr sogenannter Bodymass-Index muss mehr als 40 kg/m2 beziehungsweise 35 kg/m2 bei gleichzeitig auftretenden Folgeerkrankungen wie zu hoher Blutdruck, Hüft- oder Kniegelenksarthrosen oder Zucker betragen. Den Bodymass-Index errechnet man durch Dividieren des Körpergewichts durch das Quadrat der Körpergrösse in Metern.

Erfolgsquote liegt bei 85%

Im Vergleich zu herkömmlichen Diäten, Fastenkuren, Sporttherapien oder Weight-Watcher-Programmen, die nur in 15 Prozent aller Fälle langfristige Gewichtsreduktionen ermöglichen, beträgt die Erfolgsquote unter den Magenband-Trägern 85 Prozent. Das heisst: 85 Prozent der Operierten konnten, gemäss internationalen Studien, einen Gewichtsverlust von durchschnittlich 30 Kilogramm während mindestens zehn Jahren aufrechterhalten. Einer, der diese Erfahrung gerade macht, ist der 50jährige Gilbert Walz aus Kreuzlingen TG. Vor knapp zwei Jahren wog er noch 140 Kilogramm bei einer Körpergrösse von 1,72 Metern. Dank dem Magen-Banding hat er inzwischen 57 Kilogramm abgenommen. Er esse nur noch kleine Portionen, erzählt er, und sei "regelrecht gschnäderfrässig" geworden: "Ich habe gelernt, nach innen zu horchen und auf meinen Magen zu hören." Das Magen-Banding empfinde er als derzeitige Ideallösung, das er allen Leidensgenossinnen und -genossen nur empfehlen könne.

Ingrid P. hat sich denn auch mit ihm und anderen "Bandträgern" über den Eingriff und dessen Folgen unterhalten. Die Gespräche haben ihr Mut gemacht. Sie freue sich "wahnsinnig", sagt sie, auf die Operation und auf ein Leben in einem vierzig, ja am liebsten fünfzig Kilogramm leichteren Körper. Endlich wieder schöne Kleider tragen. Endlich wieder mehr Selbstbewusstsein und Selbstachtung empfinden. Schluss mit diesen qualvollen "Fressattacken".

Doch sie weiss, dass noch ein weiter Weg vor ihr liegt. Die Operation ist eins. Danach steht die Nachbetreuung auf dem Programm: neu essen lernen, Sport und Bewegung in ihren Alltag integrieren, allenfalls auch der Gang zu einem plastischen Chirurgen, der sogenannte "Korrekturoperationen nach massivem Gewichtsverlust" vornehmen würde.

All dem steht Ingrid P. gelassen gegenüber. Angst davor, dass aus der einstigen Ess-Süchtigen eine Alkohol- oder Medikamentenabhängige werden könnte, hat sie nicht: "Das sind nicht meine Drogen." Mulmig wird es ihr allein bei der Vorstellung, dass sie eines nicht allzu fernen Tages mit ihren Depressionen ohne Pommes chips und Bananen klarkommen muss. Ihre Hoffnung, auch diese Hürde zu nehmen, begründet sie mit dem Vertrauen in ihre Psychotherapie, dank der sie "lernen will, sich diesen belastenden Gefühlen wirklich zu stellen".

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© Barbara Lukesch