Dicke machen mobil

Schönheitskonkurrenz / Oktober 1998, "Sonntags-Zeitung"

Symbolbild zum Thema Psychologie und Medizin

Die Stimmung ist grandios. Der Saal tobt und klatscht im Rhythmus des Tom Jones-Hits "She's a Lady." Neun junge rundliche Damen in schwarzen Kleidern und mit roten, grünen und weissen Federboas bewegen sich voller Anmut über den Laufsteg: Die Miss Molly-Wahl '98 im Restaurant "Wydenhof" im aargauischen Birr ist eröffnet.

Patricia Schädeli, die 22jährige Pharma-Assistentin aus Gipf Oberfrick, ist eine von ihnen. Zum erstenmal in ihrem Leben steht die grosse brünette Frau auf einer Bühne, strahlt, lacht und flirtet mit dem Publikum, als hätte sie nie etwas anderes gemacht. Ihre Bewegungen sind elegant, ihre Tanzschritte überraschend leichtfüssig. Kein Mensch stört sich daran, dass sie knapp hundert Kilogramm auf die Waage bringt und ein Kleid der Grösse 46 trägt. Im Gegenteil: Stürmischer Applaus und Rufe der Begeisterung schlagen ihr entgegen und lassen sie später jubeln: "Mein Gott, war das toll. So viel Spass. Das müsste es öfters geben." Dass schliesslich nicht sie, sondern Iris Bohl, die mit 81 Kilogramm "Dünnste" der neun Dicken, zur neuen Miss Molly erkoren wird, steckt sie ein bisschen enttäuscht, aber tapfer weg: "Hauptsache die Leute haben gemerkt, dass auch wir Fülligen etwas können."

Die Dicken machen mobil. Über zweihundert hatten sich zur Teilnahme an der alternativen Schönheitskonkurrenz angemeldet und eröffneten damit der ganzen Welt: Ich finde mich hübsch. Ungeniert gestehen die Finalistinnen ihre Vorlieben für Schokolade und Teigwaren ein. Frisch und frech kokettiert eine von ihnen im grellen Rampenlicht mit ihrem Wunsch, "hundert Jahre guten Sex zu erleben."

Neues Selbstbewusstsein

Da wächst offenbar eine neue selbstbewusste Generation dicker Frauen heran, die genug hat von einem Dasein am Rande, von den ewigen Scham- und Schuldgefühlen, von den kasteienden Hungerkuren, die nichts als Unglück und nach vorübergehendem Gewichtsverlust stets galoppierenden Zuwachs bringen, und will endlich auch ihren Platz an der Sonne, Geselligkeit, Unterhaltung, Lebenslust und Akzeptanz.

Die Fahne der Bewegung trägt Nella Martinetti, die 53jährige Ikone der Molligen. Als der "Body Shop" 1997 eine Aktion zum Thema wahre Schönheit lancierte, wählten seine Kundinnen die dralle Sängerin zur "attraktivsten Frau". Das sind Streicheleinheiten, die das Selbstwertgefühl stärken und die Auserwählte heute mit Trotz in der Stimme und einer Spur missionarischem Eifer sagen lassen: "Es gibt keinen Weg zurück. Ich bin und bleibe dick: 93 Kilogramm, Tendenz steigend." Sie habe die quälenden Diäten, den Verzicht und die schlechte Laune satt. Als Südländerin neige sie nun einmal zu rundlichen Formen: "Warum", lacht sie hämisch, "soll ich mich in eine magere Ziege mit spitzem Busen und faltigem Gesicht verwandeln?" Ihr beruflicher Erfolg und ihre Popularität geben 'Nella Bella' recht und machen sie zur glanzvollen Vorzeigefrau, mit der sich die übergewichtige Normalbürgerin noch so gern identifiziert.

Das haben auch zwei tüchtige Geschäftsherren erkannt und prompt reagiert. So lassen Markus und Lukas Frehner, die Inhaber mehrerer Boutiquen für Kleider der Grössen 42 bis 60, die prominente Schweizerin für "Mode Grandios" und "Mode Feeling", wie ihre Läden heissen, Werbung machen. Da posiert Nella Martinetti hochprofessionell in Prospekten oder TV-Werbespots und fühlt sich noch dazu geehrt: "Wer hätte je gedacht, dass eine so kleine und mollige Frau wie ich Model werden könnte."

Im Wissen um die Bedürfnisse ihrer Kundinnen haben die Brüder Frehner letztes Jahr den "Club 52" ins Leben gerufen: einen Treffpunkt für dicke Frauen, an dem sie Gleichgesinnten begegnen, Erfahrungen austauschen, gemeinsam wandern, ins Restaurant, Theater oder Schwimmbad gehen und dabei ihr Selbstbewusstsein verbessern können. Die 33jährige Ursula Büschlen aus Iffwil BE ist von Anfang an dabei und geniesst es, "endlich wieder einmal unter die Leute zu kommen und etwas zu unternehmen." In der Gruppe fühle sie sich so, wie sie mit ihren 100 Kilogramm nun einmal sei, akzeptiert und habe mehr Lebensmut gewonnen. Das leidige Thema Diät, sagt sie zerknirscht, verfolge sie allerdings immer noch: "Es wäre halt schon toll, zehn bis zwanzig Kilogramm abzunehmen."

"Dick und rund – na und?"

Dieses Kapitel hat Petra Deeg-Stoll, Sprecherin und Vorstandsmitglied der "Dicke e.V.", dem "Verein für die Akzeptanz von dicken Menschen in Deutschland", längst abgeschlossen. Die 40jährige bekennt sich zu ihrem Gewicht und der Kleidergrösse 60: "Ich stehe heute nackt vor dem Spiegel und sage mir: 'Das ist dein Körper; der ist in Ordnung - 80 Kilogramm Übergewicht hin oder her.'"

Dass sie diesen Bewusstseinswandel habe vollziehen können, verdanke sie dem Verein "Dicke e.V.", der seit 1995 existiert und inzwischen rund 800 Mitglieder, darunter zwanzig Prozent Männer, zählt. Anders als der noch etwas betuliche Schweizer "Club 52" strahlt der deutsche Verein viel Selbstbewusstsein und mitunter gar ketzerisches Rebellentum aus. Slogans wie "Fat Power" oder "Dick und rund - na und?" gehören ebenso zum Programm wie ein Erotikkalender mit Nacktaufnahmen von Mitgliedern oder die offensiv vorgetragene Forderung an alle, die Diskriminierung dicker Menschen lauthals zu ächten. Das Vereinsorgan "Dicke Nachrichten" dient als Plattform zum Gedankenaustausch unter den Regionalgruppen, aber auch als Kontaktbörse für Männer und Frauen, die Lust auf Liebe haben. Dass sich hin und wieder Männer bei "Dicke e.V." einschleichen, denen die gemeinsame Sache nichts, der Aufriss einer schönen Molligen aber alles bedeutet, hat allerdings auch schon Ausschlüsse nötig gemacht.

Diesbezüglich ist die bereits seit dreissig Jahren bestehende US-Organisation "National Association to Advance Fat Acceptance" (Naafa) etwas grosszügiger. Im Wissen um die Bedeutung von Sex und Erotik führt man in der insgesamt 4000 Personen umfassenden Kartei nicht nur "Big Beautiful Women", grosse schöne Frauen, sondern auch 700 ausdrückliche "Fat Admirers", Männer mithin, die auf dralle Formen stehen. Die Anwesenheit ihrer Bewunderer scheint den Frauen gut zu tun, wagen doch überraschend viele Naafa-Mitglieder, ihre mitunter gewaltigen Fettmassen offen zur Schau zu stellen und sich für Medienberichte auch im Bikini fotografieren zu lassen. "Big is beautiful", lautet die Botschaft, die mit Wucht in die Welt hinausgeschrien wird.

"Umringt von Fettbergen

Die Mediziner sind da weit weniger euphorisch und warnen vor beträchtlichen gesundheitlichen Folgeschäden. Aber auch Ingrid P., eine Betroffene, schüttelt den Kopf: "Eine solche Gruppe wäre für mich keine Befreiung gewesen." Im Gegenteil. Sie wäre verzweifelt, hält die 32jährige vehement fest, wenn sie -"umringt von Fettbergen" - ständig dem "eigenen Elend" begegnet wäre. Und sowieso, ist sie überzeugt, könne kein dicker Mensch auf Dauer glücklich sein. Die einst 120 Kilogramm schwere Frau hat ihren eigenen radikalen Weg gewählt und sich vor zwei Jahren ein Magenband einsetzen lassen. Heute wiegt sie noch 78 Kilogramm und fühlt sich prächtig.

Jedem das Seine. Der 39jährige Winterthurer Gemeinderat Adrian Ramsauer bringt 130 Kilogramm auf die Waage und leidet - gewichtsbedingt - unter Bluthochdruck, Diabetes und nächtlichen Atemstörungen. Der Schwulenaktivist ist zudem überzeugt davon, dass seine Partnerlosigkeit auf sein Aussehen zurückzuführen sei, denn "Dicksein", so Ramsauer, "gilt innerhalb der Schwulenszene als Todsünde." Was tun? Widerwillig hat sich der Grüne bereit erklärt, die Anti-Fett-Pille Xenical zu schlucken. Einen operativen Eingriff lehnt er ab, und an die heilende Wirkung von Dickenvereinen glaubt er schon gar nicht. Er plädiere zwar für das Recht jedes einzelnen, gegen den "totalitären Schlankheitsterror" unserer Gesellschaft aufzubegehren und "so dick zu sein, wie er will." Trotzdem reize es ihn nicht, so Ramsauer, in einem Verein dabeizusein, dessen Angehörige sich nur auf Grund eines gemeinsamen äusserlichen Merkmals, nämlich ihres Übergewichts, zusammenfinden.

Wahl des "Mister XL"

Das sehen die 130 Mitglieder von "XLarge", dem "Schweizer Club für kräftige Männer, dicke Bären, Fätzen, Schwinger, Sumoringer, aber auch für ihre schlanken Gegenstücke, die auf solche Brocken stehen" (Eigenwerbung) naturgemäss anders. "XLarge", heisst es, sei ein Treffpunkt, an dem dicke Schwule gute Freunde finden können, mit denen sie vielleicht erstmals in ihrem Leben über ihr Dicksein und dessen Folgen zu reden wagten. Sie alle wissen nämlich, wie es sich anfühlt, wenn die gnadenlos auf Jugend, Schlankheit und Fitness abfahrende Gay Community ihre molligen Brüder ausschliesst. Dagegen begehren sie auf, indem sie ihre eigenen Rituale, Vorlieben und Schönheitsvorstellungen kultivieren und einmal im Jahr den "Mister XL" wählen. Das Ghetto im Ghetto sozusagen? "Ein Stück weit schon", sagt einer von ihnen.

Doch statt Trübsal zu blasen, sind die Männer von "XLarge" unternehmungslustig. Gemeinsam gehen sie in Bars oder Saunas, veranstalten eigene Feste wie das "Sau-am-Spiess-Gelage", vergnügen sich bei River Rafting oder besuchen zusammen das Brünig-Schwingfest oder ein Boxmeeting. In ihrem Kluborgan, der "Dicken Post", wird auf gut schwule Art "Hodäständigi Choscht", ein Sex-Comic, oder "Prime Beef", eine Fotogalerie mit Nacktaufnahmen, kredenzt. Im "Schatzchäschtli" sucht ein "Schmusebär" einen "Schnauzli für gelegentliches Kuscheln und Liebsein." Erlaubt ist, was gefällt. Nur ein Thema ist tabu, weil es allen stinkt: Und das sind Abmagerungskuren.

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© Barbara Lukesch