Brigitte Woggon, die "Pharma-Hexe" vom Burghölzli

Depressionen / April 1999, "Das Magazin"

Symbolbild zum Thema Psychologie und Medizin

Frau Professor Brigitte Woggon bietet ihren Patienten zur Einstimmung gern einen Bonbon an: "Äpfelchen? Mandarine? Himbeer? Na, was darf's denn sein?" In der Folge greift die Psychiaterin mit dem unverkennbaren Berliner Akzent zu härteren "Waffen", wie sie selber ihre Behandlungsmethoden nennt: zu Psychopharmaka nämlich wie Antidepressiva, Tranquilizer, Lithium, Neuroleptika, Schlaftabletten - mithin zu fast allem, was der Markt an chemischen Mitteln zur Linderung des Leidens psychisch kranker Menschen zu bieten hat.

Die Leiterin der ambulanten Spezialsprechstunde für affektive Störungen am Zürcher Burghölzli schwört auf Medikamente. Während ihrer knapp dreissigjährigen Berufstätigkeit habe sie erfahren, dass es insbesondere Schwerkranken nach "Füsschenkitzeln und endlosem Reden" allein nicht besser gehe: "Die Psychoanalyse in Ehren, aber wer unter starken Depressionen leidet, braucht etwas, das ihm wirklich hilft." Die Erfolgsquote der von ihr praktizierten Psychopharmakotherapie beziffert sie denn auch auf "gut und gern 75 Prozent", - und das bei einem "ausgesprochen negativen Patientengut", das andernorts als "therapieresistent", will sagen hoffnungslos, abgeschrieben worden sei. Menschen, erläutert Woggon, die wahre Therapie-Odysseen hinter sich hätten, würden dank ihrer Behandlung zumindest in den Zustand der Symptomfreiheit versetzt, der es ihnen erlaube, wieder zu arbeiten, soziale Kontakte zu pflegen und ihr Leben zu geniessen.

Toxische Medikamente

Der Psychopharmaka-Kritiker, Arzt und Publizist Marc Rufer schüttelt den Kopf: "Angesichts all der unangenehmen Nebenwirkungen der Antidepressiva kann von Lebensgenuss keine Rede sein." Unruhig, zittrig, hektisch, ohne Lust und Potenz, gepeinigt von Magen-Darm-Problemen würden diese Menschen bestenfalls funktionieren. Ein Befund, der noch viel mehr für jene Patienten gelte, die Neuroleptika konsumierten.

Für Rufer haben Depressionen, Manien und Schizophrenien psychosoziale Ursachen: "Alles andere, was uns die Psychiater weismachen wollen, sind unbewiesene Hypothesen - mehr nicht." Doch genau auf Grund dieser Hypothesen würden Menschen wie "schlecht funktionierende Maschinen" behandelt; man mache sie abhängig von den Psychiatern und den von ihnen verschriebenen Medikamenten. Darüber hinaus seien die Standard-Antidepressiva äusserst toxisch, und Neuroleptika bewirkten bei Dauerkonsum oft bleibende Langzeitschäden.

Andere Kritiker, die notabene nicht mit Namen genannt sein wollen, bringen ihre Vorwürfe noch gezielter auf den Punkt. Woggon, heisst es da voller Widerwillen, sei eine "hartgesottene psychopharmakologische Dompteuse", eine "Medikamenten-Hexe", die im Burghölzli "'Gift' mischt". Angriffe dieser Art, beteuert die 55Jährige, liessen sie kalt: "Wer mich als Hexe bezeichnet, macht mir ein Kompliment." Schliesslich hätten Hexen immer ein bisschen mehr als der Rest der Bevölkerung gewusst: "Das ist doch prima." Dass die weisen Frauen in ihrer Umgebung auch Angst ausgelöst hätten, mache überhaupt nichts: "Hauptsache, meine Patienten haben keine Angst vor mir."

Brigitte Woggon ist ein provozierendes Ärgernis. Da ist sie nun schon eine der drei raren Psychiatrieprofessorinnen in der Schweiz. Doch statt sich vorrangig durch weibliche Tugenden wie Einfühlungsvermögen und Geduld auszuzeichnen, besetzt sie die männlichste Domäne der Seelenheilkunde und "schwingt", wie sich einer ihrer Kollegen ausdrückt, "die chemische Keule".

"Opferbringen ist Käse"

Darüber hinaus plädiert sie lauthals für das Ende der Bescheidenheit: "Opferbringen ist Käse". Man müsse alles wollen, alles ausprobieren und als Patient dafür kämpfen, alle verfügbaren Hilfsmittel zu erhalten. In diesem Sinn unterwirft auch sie als Psychiaterin sich nahezu keinen Schranken: "Wenn bei einem Patienten nüscht nützt", berlinert sie keck, "kann ich ja nicht gut ein Grab für ihn mieten, sondern muss zu unkonventionellen Kombinationen und Dosierungen greifen."

Dass sie dann mitunter Medikamente in bis zu zehnfach höheren Dosen verschreibt, als im Arzneimittelkompendium angegeben, bezeichnet sie als "zwar experimentelles, aber dennoch notwendiges Wagnis". Wer Risiken scheue, solle Wurst verkaufen und nicht Arzt werden. Ihr Credo laute: "Alles, was einem kranken Menschen hilft, ist richtig." Schliesslich orientiere sie sich an dem jeweils neuesten internationalen Wissensstand und handle keineswegs verantwortungslos.

In hiesigen Fachkreisen verfolgt man ihr unübliches Tun gleichwohl mit grosser Skepsis und prägte den wenig schmeichelhaften Begriff "Woggonizing", der so viel bedeutet wie "Hochdosieren". Salopp kontert sie, dass "die Überlebensrate" ihrer Patienten bisher "hundert Prozent" betrage: "Da wurde noch keiner im Leichenwagen abtransportiert." Und sollte tatsächlich einmal eine Behandlung ins Auge gehen, sei sie bereit, vor Gericht zu gehen und ihre Entscheide zu begründen.

Überzeugt von ihrem Vorgehen, wie sie ist, steht sie seit jeher offen, ja, offensiv dafür ein. Wie kaum jemand sonst scheut sich Woggon nicht, psychiatrische Unkorrektheiten in den Mund zu nehmen. So plädiert sie in ihren Büchern, aber auch in Leserbriefen und Vorträgen für den Einsatz der Elektroschock-Therapie, die sie als die wirksamste Waffe im Kampf gegen Depressionen anpreist, - und weiss ganz genau, dass sie mit solchen Äusserungen Gefahr läuft, "in eine Reihe mit den Folterknechten der Geschichte" gestellt zu werden. Sie macht auch keinen Hehl daraus, "ja von wegen", dass sie "schöne Erfolge mit Amphetaminen und Ritalin", zwei weitherum geächteten Aufputschmitteln mit hohem Suchtpotential, erzielt habe. Dass sie einen Patienten tatsächlich süchtig gemacht habe, gibt sie zu: "Einen in 29 Jahren", scheppert ihre leicht blecherne Stimme, "Ja, das war so."

Aggressivere Verschreibung

Während sich ihr Vorgesetzter, der Burghölzli-Direktor Daniel Hell, sehr viel vorsichtiger ausdrückt und den Eindruck erweckt, als müsse er sich entschuldigen, wenn er nur schon das Wort "Antidepressivum" ausspricht, konstatiert Kollegin Woggon, unberührt von der möglichen Wirkung ihrer Worte: "Ich verschreibe Psychopharmaka aggressiver als er."

Ist Frau Professor Woggon naiv? "Sagen wir mal undiplomatisch", hält sie dagegen, "und gemäss Aussagen meines 25jährigen Sohnes viel zu ehrlich."

In eben diesem Spannungsfeld bewegt sich auch ihr Verhältnis zu den Pharma-Firmen, die natürlich wissen, was sie an einer wie der Psychopharmakotherapeutin haben. Wer sich nun allerdings der Illusion hingibt, dass sich Woggon reibungslos den konzerneigenen PR- und Werbewünschen unterordnet, liegt fehl. Sie sitzt zwar in den Advisory Boards verschiedener Unternehmen wie zum Beispiel des Schweizer Prozac-Herstellers Eli Lilly S.A., lässt sich auch regelmässig von den Chemie-Multis ihre Reisen an internationale Kongresse und Symposien bezahlen und behauptet gleichwohl, sich ihre fachliche Unabhängigkeit jederzeit bewahren zu können: "Auch wenn mir heute eine Firma den Aufenthalt in einem hochgekotzten Hotel in Monaco bezahlt, mache ich morgen publik, dass ihr Antidepressivum bei mir nur achte Wahl ist."

Glaubwürdig? Immerhin ergab gerade kürzlich eine Studie, dass die finanzielle Abhängigkeit eines Forschers von der Pharma-Industrie seine Bewertung der jeweiligen Präparate massgeblich beeinflusst. Woggon winkt ab: "Ich erweise doch der Sache keinen Dienst, wenn ich Medikamente gegen meine Überzeugung verschreibe." Prozac verwende sie zwar, betone aber stets, dass es nicht einfach zu handhaben sei, häufig Wechselwirkungen mit anderen Substanzen habe und überdurchschnittlich viel Zeit beanspruche, bis es im Körper abgebaut sei. Und sowieso, konstatiert sie gelassen, sei ihr das Denken in solchen Kategorien fremd. Schliesslich sei sie auch noch nie mit einem Mann ins Bett gegangen, nur weil er ihr das Nachtessen bezahlt habe.

Schlagfertig und blitzschnell

Da werde mal einer schlau aus dieser Frau. Reden kann sie auf jeden Fall. Wer sich mit ihr auf eine Podiumsdiskussion einlässt, hat einen schweren Stand. Schlagfertig, blitzschnell und mit trockenem Witz pariert sie alle Angriffe gegen ihre "Medikamenten-Fixiertheit". Unbeirrbar vertritt sie ihre Sache: "Es ist doch wurscht, warum jemand unter Depressionen oder Manien leidet; Hauptsache, wir kriegen die scheusslichen Symptome weg." Da zucken ihre Kritiker und Kritikerinnen zusammen und werfen ihr "Unkultiviertheit" und "ein einfaches Gemüt" vor. Jeder psychisch kranke Mensch habe doch das Bedürfnis, die Ursache seines Leidens zu erfahren. Woggon dagegen: "Diese Ursachen gibt es nicht." Alle schweren affektiven Störungen, ist sie überzeugt, seien biologischen Ursprungs.

Psychosoziale Faktoren wie Arbeitslosigkeit oder den Verlust eines Angehörigen lässt sie höchstens als "Anlass", aber nicht als "tieferen Hintergrund" einer psychischen Krankheit gelten. Wer ihr vorwirft, sie mache ihre Patienten von sich und den Teufelspillen abhängig, erntet nur Hohn und Spott: "Dank den Medikamenten finden Schwerkranke überhaupt wieder zu sich und sind erstmals in der Lage, wieder einen autonomen Schritt zu wagen."

Der Streit der Schulen ist hinlänglich bekannt und gut dokumentiert. Woggon selber hat mit mehr als zweihundert wissenschaftlichen Publikationen ihren Beitrag an die sogenannt biologische Psychiatrie geleistet. Aufklärung, betont sie mit Verve, sei ihr Ding. So hat sie kürzlich gemeinsam mit depressiven Patienten den Reader "Ich kann nicht wollen" herausgegeben, der eine eindrückliche Bestandesaufnahme einer häufig unterschätzten Krankheit liefert - und darüber hinaus einen Tabubruch darstellt, denn bis anhin haben Professoren ihre Bücher stets allein geschrieben.

Mit nahezu missionarischem Eifer bringt sie gleichzeitig ganze Berufsstände auf den neuesten Stand des psychopharmakologischen Fachwissens. Dank Dutzender von Fortbildungsveranstaltungen unter Psychiatern, Psychologinnen, Haus- und Kinderärzten, Gynäkologen, aber auch Lehrern und Lehrerinnen habe sie inzwischen "eine ganze Reihe von benignen", mithin gutartigen, "Metastasen vorzuweisen", wie sie auf leicht makabre Art zu spassen beliebt.

"Erstaunliche Ungeniertheit"

Da ist sich ein Mensch seiner Sache wirklich sicher. Die Überzeugung, dass der "Biologismus innerhalb der Psychiatrie erneut im Vormarsch" sei, teilt schweren Herzens auch Psychopharmaka-Kritiker Marc Rufer: "Nur so lässt sich die erstaunliche Ungeniertheit und Offenheit einer Brigitte Woggon verstehen."

Doch damit allein ist ihr Erfolg nicht erklärt. Woggon ist ein komplexeres Phänomen. Als Kind wollte sie "Lokomotivführer", später dann "Chirurg", eine zeitlang überraschenderweise auch "Psychotherapeut" werden. Beeindruckt von der Wirkung des Medikaments Lithium, das vor allem bei der Prophylaxe von manisch-depressivem Kranksein, so Woggon, "wahre Wunder vollbringt", entschloss sie sich kurzerhand, den Beruf des "Irrenarztes" zu ergreifen. Dass sie damit jahrzehntelang die einzige Frau in einer reinen Männergesellschaft war, hat sie mit Sicherheit geprägt. Hart und gefühlskalt ist sie trotzdem nicht geworden.

Die Mutter zweier erwachsener Kinder, die ihrem ehemaligen Mann, einem Chemie-Professor, vor dreissig Jahren nach Zürich folgte, hat eine ausgesprochen herzliche Ausstrahlung. Sie ist ein sinnenfroher Mensch, liebt gutes Essen, trinkt Champagner so gern wie Rotwein, ist kulturell interessiert an Oper und Theater und veranstaltet in ihrem Haus im Zürcher Oberland regelmässig Tanz-Aperos, zu denen sie dreissig bis vierzig Freunde und Freundinnen einlädt.

Zahlreiche Blumensträusse in ihrem Büro legen beredtes Zeugnis von der Dankbarkeit vieler ihrer rund 450 Patienten ab, die sie Jahr für Jahr behandelt. Einer von ihnen sagt: "Eine Mutter wie sie hätte ich mir gewünscht." Er schätze ihre Direktheit, Bodenständigkeit und Energie, die ihn auch in Zeiten schwerster Krisen immer wieder hochzuziehen vermocht hätten. Die Zürcher Schauspielerin Ursula Schäppi outete sich jüngst bei "Tele Züri" als glücklich genesene Woggon-Patientin und war in ihrem "Werbespot für die Pharma-Industrie", so Moderator Hugo Bigi, nur schwer zu bremsen.

Technokratisches Interesse

Einzelnen Patienten geht alles zu schnell bei Professor Woggon. Sie sei zwar sympathisch und nett, und trotzdem fühlten sie sich nicht wohl in Gegenwart der Frau, die sie nicht als Person, sondern ausschliesslich als "Medikamenten-Fall" wahrnehme. Die Psychopharmakotherapeutin zeigt mitunter ein ausgesprochen technokratisches Interesse an "ihren" Pillen und Pülverchen. Das kommt etwa dann zum Vorschein, wenn sie die Suche nach dem passenden Medikamenten-Mix für einen besonders therapieresistenten Patienten als "knifflige Sache, die richtig Spass macht" bezeichnet. Da mag sie noch so sehr beteuern, dass sie alles dem Patientenwohl unterordnet. In solchen Momenten gewinnt in ihr die Pharmaforscherin, als die sie während ihrer Ausbildung jahrelang gearbeitet hat, die Oberhand.

Dass ihr Umgang mit Medikamenten tatsächlich auffallend locker ist - sie selber nennt ihn "rational" - zeigt ihr jüngster Selbstversuch. Sechs Monate lang hat sie ein appetitzügelndes Antidepressivum geschluckt, zunächst vier pro Tag, später, als sie wegen zu hoher Dosierung zu zittern begann, nur noch zwei täglich. Als der Gewichtsverlust in der Folge bei neun Kilogramm stagnierte, stoppte sie die Einnahme und wartet jetzt auf ein neues Medikament aus Deutschland, das ihr eine Kollegin versprochen hat. Da wundern sich Aussenstehende und fragen erstaunt, ob eine verantwortungsvolle Ärztin so etwas darf. "Na, hörn Se mal", kommt die prompte Antwort, "besser als wenn ick jeplatzt wär."

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© Barbara Lukesch