Wenn das Herz zur Müllgrube wird

Infarkt / 21. März 2002, "Die Weltwoche"

Symbolbild zum Thema Psychologie und Medizin

Das Herz, sagt der Zürcher Psychiater und Psychoanalytiker Heinz Mattle, ist mehr als ein Muskel und eine mechanische Pumpe. Das Herz, erklärt er, «ist der Umschlagplatz von Liebe und Schmerz, Angst und Mut». Eigentlich ist das eine Erkenntnis, die Volksmund und Literatur von alters her vermitteln: Da hüpfen verliebte Herzen vor Freude, erleichterten Menschen fällt ein Stein vom Herzen, Prüflinge leiden unter Herzklopfen, grossherzige Menschen nehmen uns ein, hartherzige stossen uns ab. «Wes das Herz voll ist», lautet ein Sprichwort, «des geht der Mund über», und couragierte Persönlichkeiten machen aus ihrem Herzen selten eine Mördergrube.

Wenn Mattle allerdings bei seinen zahlreichen Vorträgen, die er in Firmen hält, erklärt, dass «Herzinfarkt, sorgfältig aus dem Lateinischen übersetzt 'gebrochenes Herz' bedeutet», reagiert das überwiegend männliche Publikum irritiert und zuweilen gar ungehalten. Gebrochenes Herz? Das klingt nach Gefühl, Seelenschmerz, und Kontrollverlust. Da hält der durchschnittliche Kadermann, der laut Statistik zu den Hauptrisikogruppen der Herzpatienten gehört, doch lieber an seiner Vorstellung fest, wonach ein Herzinfarkt ein Betriebsunfall ist, eine Panne der Mechanik, die es durch die Einnahme von Medikamenten oder geeignete chirurgische Massnahmen zu beheben gilt. Im Anschluss «an den Vorfall» oder «das Faktum», wie Betroffene ihren Herzinfarkt gegenüber den Medien gern umschreiben, macht der Manager in aller Regel weiter wie zuvor.

Das Problem wird verdrängt

So etwa der Expo-Sanierer und Nationalrat Franz Steinegger, der vorletztes Jahr eine Herzattacke erlitt und operiert werden musste. Er konstatierte in der Schweizer Illustrierten: «Ich versuche seither, meine vielfältigen Tätigkeiten noch mehr zu optimieren. Klar ist: Es war nicht der Stress, der meinem Herzen zusetzte, sondern die erbliche Veranlagung, die man nicht ändern, sondern nur managen kann.» Noch härter im Umgang mit sich selber ist Dick Cheney, der US-amerikanische Vizepräsident, der schon mehrere Herzinfarkte überlebt hat. Er liess es sich jeweilen nicht nehmen, bereits im Spitalbett vor laufenden Kameras seine Funktionstüchtigkeit unter Beweis zu stellen.

«Wer sich das antut», sagt Mattle, «läuft immer nur Pflicht, aber nie Kür.» Das Herz mit seinem Bedürfnis nach Geborgenheit, Grosszügigkeit, Gelassenheit auch und Wärme komme so zu kurz. Längst ist er davon überzeugt, dass «die Herzen in unserer Gesellschaft, in der fast jeder zweite an einem Herz-Kreislauf-Versagen stirbt, völlig aus dem Takt geraten sind». Das rühre daher, dass unser Arbeitstempo in den letzten Jahrzehnten spürbar zugenommen hat und Musse zu einem seltenen Gut geworden ist. Hektik, Zeitnot und Stress führen dazu, dass sich das Herz einem von aussen diktierten Rhythmus zu unterwerfen hat. «Die Menschen leben ständig über ihrer Schmerzschwelle» sagt Mattle, «vergleichbar mit einem hochgetunten Motor, der eines Tages überdreht und explodiert.»

Mattle, der selber gern und viel arbeitet, behauptet nicht etwa, Arbeit mache krank. Krank mache das Fehlen eines Gegenpols, der für tiefe, nachhaltige Entspannung sorgt, wie es der Besuch eines Konzerts sein könne oder ein ausgedehntes Gespräch mit einem Freund. Der Kadermann hingegen, der sich abends nur noch mit Hilfe von Alkohol beruhigen könne, sitze einem Trugschluss auf, wenn er dabei an echte Entspannung glaube: «In solchen Situationen lähmt der Alkohol nur und betäubt.»

Manche "machen" einen Infarkt

Wer sich einseitig seinem Beruf verschreibt, freudlos täglich sechzehn Stunden im Büro verbringt und seinen Erfolg überwiegend an Gewinnzahlen misst, verwandelt sein Herz, so Mattle pointiert, über kurz oder lang «in eine Müllgrube». Darin lagern dann all die einstigen Visionen und Lebensträume, etwa der längst vergessene Wunsch, Klavier zu spielen oder eine schöne Reise zu machen. Aber auch der unterdrückte Zorn auf den Vorgesetzten oder die schlechten Gefühle gegenüber der Familie, die dauernd mehr Geld fordert, und - fast am schmerzlichsten - der Selbsthass, weil man sich alles gefallen lässt. Kein Wunder, bricht einem solchen Menschen eines Tages das Herz. Dann «macht» er, wie sich die Mediziner vielsagend ausdrücken, einen Infarkt.

Der aus dem Urnerland stammende Psychiater kennt die Innenwelt von Unternehmen dank jahrelanger Beratungs- und Vortragstätigkeit sowie seiner psychotherapeutischen Praxis. Er ist immer wieder erschüttert, wenn er seinen Klienten die unspektakuläre Frage stellt: «Was hat Ihnen letztmals das Herz erwärmt?», und viele mit Ratlosigkeit, ja Unverständnis reagieren. Einzelnen komme dann ihr neues Auto in den Sinn oder der Aufenthalt in einem Luxushotel. Doch schildere selten jemand einen Nachmittag mit den Kindern oder eine beglückende Erfahrung mit der Partnerin; ganz selten komme etwas von innen.

Mattle ist ein überzeugter Vertreter der Psychosomatik, der Lehre, die vom engen Zusammenhang zwischen Körper, Seele und Geist ausgeht. Anders als in der Schulmedizin, die dem Körperlichen Priorität einräumt, nehmen in seinem Weltbild die leichteren und luftigeren Teile des Menschseins einen gleichberechtigten Platz ein, also Worte, Gedanken und Gefühle. Von Haus aus Mediziner, ist Mattle kein Gegner der klinischen Kardiologie und von deren Verständnis vom Herzinfarkt, aber er bemängelt den fehlenden Tiefgang. Der Mensch erschöpfe sich nicht in Laborwerten: «Ich bin doch nicht nur Cholesterin, Blutdruck, Gewicht und Alter, ich bin auch Freude, Schmerz oder Sehnsucht.»

Ein "Boxenstopp" nützt nichts

Mattle lässt auch die gängigen Herzprogramme gelten, deren Prophylaxe auf Rezepten wie Bewegung oder gesunder Ernährung gründet, und wendet höchstens ein, dass auch die beste Gymnastik nichts nützt, wenn die Gefühle nicht fliessen. Mattle ist durchaus einverstanden, dass sich ein Manager, der sonst von Termin zu Termin hetzt, während des vierwöchigen Aufenthalts in einer Rehabilitationsklinik von seinem Infarkt erholen sollte. Wer aber kurz darauf wieder in der gewohnten Frequenz durchs Leben rase, die Auszeit also nur als eine Art Boxenstopp betrachte, dürfe keine nachhaltige Wirkung erwarten.

Dabei fehlt es nicht an Zeichen an der Wand. Wenn er Todesanzeigen in den Tageszeitungen liest, fühlt sich Mattle immer wieder in seinem Denken bestätigt. Viele Texte erfordern zwar einen geübten Blick, um ihre versteckten Botschaften zu entschlüsseln. Oft stösst man aber auch auf Sätze von erschütternder Deutlichkeit wie diesen: «Er hat die Liebe in seinem Herzen vergraben. So tief, dass es schliesslich aufhörte zu schlagen.» Gemäss den Inseraten trifft nahezu jeder Herztod die Angehörigen «unerwartet», «völlig überraschend» oder «unvorbereitet». Als der Chirurgie-Chefarzt eines Innerschweizer Kantonsspitals an Herzversagen starb, liess der Verwalter die Öffentlichkeit wissen: «Sein Tod kam aus heiterem Himmel.» Dabei war der hochrangige Mediziner als «unermüdlicher Chrampfer» mit zahllosen Ämtern und Zusatzverpflichtungen bekannt. «Völlig überraschend», sagt Mattle, komme der Herztod eines Menschen aber praktisch nie. Wer die Augen offen halte, merke, wenn sich ein Arbeitskollege, Ehemann oder Freund zum Workaholic entwickle. Dann sei es für Massnahmen nicht zu spät.

Auffällig bei den Todesanzeigen ist, wie oft die Bedeutung der Arbeit für den Verstorbenen herausgestrichen wird, wobei der Eindruck entsteht, als habe ihn nichts anderes als seine berufliche Leistungsfähigkeit ausgezeichnet. Es heisst, einer habe sich «grosse Verdienste um die Firma erworben» oder sei bis kurz vor seinem Tod noch seiner «geliebten Arbeit» nachgegangen. Andern wird vielsagend attestiert, sie seien «mitten aus ihrer rastlosen Tätigkeit herausgerissen worden». Nie aber, sagt Mattle, lese er Sätze wie: «Der Verstorbene war ein grossartiger Liebhaber, ein leidenschaftlicher Theaterbesucher oder ein begnadeter Tangotänzer.»

Funke im Pulverfass

Mattle ist überzeugt, dass es kein Zufall ist, wenn ein Manager, Abteilungsleiter oder Chefarzt an seinem Arbeitsplatz den Herztod stirbt: Er glaubt, dass sich in diesen Fällen eine «Explosion» ereignet, in der sich angestaute Gefühle wie Hass, Frustration oder gar Verzweiflung entladen. Der Funke, der sie auslöst, besteht nicht selten aus einer unbedachten Bemerkung, einem Tadel des Vorgesetzten im falschen Moment. Für den Präventiv- und Sozialmediziner Felix Gutzwiller sind vor allem jene Kader herzinfarktgefährdet, «die unter einem chronischen Ungleichgewicht zwischen Leistungsanforderungen und eigenen Handlungsspielräumen leiden, mithin die Inhaber klassischer Sandwich-Positionen».

Jeder Manager, rät Mattle, müsste sich mindestens eine Stunde pro Tag in seinem Terminkalender freihalten, die er zum Gang durch seinen Betrieb nutzen würde, zu einem Gespräch mit einem Mitarbeiter oder auch nur zum entspannten Dasitzen mit hochgelagerten Füssen. In einem solchen Moment könnte die entscheidende Frage auftauchen: «Was mache ich hier eigentlich?» Die Antwort sei gelegentlich gleichbedeutend mit dem Ende der Flucht vor sicher selber.

Etliche internationale Studien, in denen der Einfluss psychosozialer Faktoren auf die Genesung von Herzinfarktpatienten nachgewiesen wurde, lassen darauf schliessen, dass Mattles Ansichten zusehends Beachtung finden - auch bei Schulmedizinern, die einer solchen Sichtweise mehrheitlich ablehnend gegenüberstehen. Demzufolge ist derjenige, der Humor hat und viel lacht, besser geschützt, derweil Depressive deutlich stärker gefährdet sind, an einem Herzversagen zu sterben. Und wen es trotzdem erwischt, der hat grössere Chancen auf Heilung, wenn er sich geliebt fühlt und sozial gut eingebettet ist.

Krasser Fall

Es gibt Kliniken, die inzwischen den psychosomatischen Ansatz in ihr Behandlungskonzept der Herzpatienten mit einbeziehen. So gehören auf Schloss Mammern am Bodensee bei der Rehabilitation ein Psychologe und ein Psychiater zum personellen Standard, was bis vor wenigen Jahren die Ausnahme war. «Vor noch nicht allzu langer Zeit wurde man ausgelacht», erinnert sich Mattle, «wenn man einen solchen Vorschlag machte.»

Das grösste Hindernis bilden allerdings die Betroffenen selber, die ihre Krankheit nach wie vor aus rein mechanische Sicht betrachten. Ein drastisches Beispiel dafür lieferte der ehemalige Alusuisse-Präsident Theodor Tschopp, der mitten in den letztlich gescheiterten Fusionsverhandlungen mit der deutschen Firma Viag einen Herzinfarkt erlitt und noch aus dem Spitalbett der Sonntagszeitung diktierte: «Ich kenne kein besseres System. Wir Manager brauchen die Kraft, um dieses durchzustehen.» Zwei Jahre später ereilte Tschopp ein weiterer Herzinfarkt, an dem er starb.

Genauso unerbittlich verfährt Andreas Beusch mit sich selber. Der Forschungsleiter beim Pharmakonzern Aventis outete sich kürzlich als Konsument eines Herzmittels, das er im übrigen mitentwickelt hatte: «Mein Job ist so stressig», gestand er, «dass jeder ohne Vorbeugung früher oder später herzkrank würde.»

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© Barbara Lukesch