«Zum Wohle der Betroffenen»

Sterilisierung geistig Behinderter / 11. September 2003, "Die Weltwoche"

Symbolbild zum Thema Psychologie und Medizin

Anna* hatte während der Geburt einen Sauerstoffmangel erlitten, der zu irreversiblen Hirnschäden führte. Ihren Intelligenzquotienten siedeln Experten zwischen vierzig und fünfzig an; solche Menschen nennt man landläufig debil. Dabei ist die junge Frau kontaktfreudig und höchst interessiert an Männern. Sieht sie einen, der ihr gefällt, ruft sie ihm ungeniert hinterher: «Heiraten!» Darüber hinaus ist sie auch sexuell sehr ansprechbar, onaniert viel und verfügt über ein erstaunliches Repertoire an sexualisierten Begriffen.

Als das Mädchen mit dreizehn Jahren seine erste Menstruation bekam, fragte sich die Mutter, wie sie ihre Tochter vor einer Schwangerschaft schützen könnte. Das Problem wurde mit jedem Jahr dringlicher, schliesslich wollte sie die Tochter nicht Tag und Nacht einsperren und jeden Kontakt zum anderen Geschlecht verhindern. Anderseits war ihr klar, dass Anna, die heute als 22-Jährige noch von sich sagt, sie sei 14, von einer Schwangerschaft heillos überfordert sein würde. Ganz zu schweigen von der Frage der Betreuung des Neugeborenen. Ruth Keller*, die Mutter, hatte immerhin miterlebt, wie Anna ihren Hamster eigenhändig zerquetschte und die Ratte ihres Bruders in den heissen Backofen schob. Sie befürchtete auch, dass letztlich sie diejenige wäre, die mit Mitte fünfzig nochmals ein Kind aufziehen müsste.

Ein Höchstmass an Freiheit

In stillen Momenten hatte sie die Möglichkeit einer Sterilisation ihrer Tochter schon länger erwogen. Auszusprechen wagte Ruth Keller diesen Gedanken allerdings nicht. Doch welche Alternativen gab es? Anna verträgt weder die Pille noch andere Hormonpräparate. Eine Spirale könnte man ihr nur unter Narkose einsetzen und entfernen, was auf Dauer einer unverhältnismässigen körperlichen Belastung gleichkäme. Als ihr jemand riet, ihre Tochter «sexualpädagogisch zu fördern und auf den Einsatz von Kondomen zu pochen», konnte sie nur lachen: «Wie soll ich jemanden aufklären, der nicht einmal bis zehn zählen kann?» Ruth Keller vertraute sich schliesslich dem Kinderarzt an, der Anna von Geburt an betreut hatte und gut kannte. Dieser bestärkte sie darin, ihre Tochter sterilisieren zu lassen und ihr so ein Höchstmass an persönlicher und nicht zuletzt auch sexueller Freiheit zu ermöglichen.

Die Sterilisation von geistig Behinderten ist ein Thema, das sich nicht ohne historischen Bezug diskutieren lässt. Die Zwangsunterbindungen im Dritten Reich, aber auch in der Zürcher Psychiatrie lasten schwer auf jeder Debatte. Selbst wenn Angehörige versichern, sie handelten einzig zum Wohl ihrer Kinder, werden ihnen egoistische und materielle Motive unterstellt, und es wird ihnen vorgeworfen, sie hielten behindertes Leben für unwert und versuchten mit allen Mitteln, dessen Fortpflanzung zu verhindern. Ein Psychiater, der nicht genannt sein will, sagt: «Wer heutzutage nur schon das Wort Sterilisation in den Mund nimmt, wird von den Behindertenorganisationen in eine Reihe mit dem KZ-Arzt Mengele gestellt.» Unter diesen Umständen jedoch werde jede pragmatische Diskussion im Keim erstickt.

1999 stand Anna kurz davor, das Elternhaus zu verlassen und in ein gemischtes Wohnheim zu ziehen. Von nun an, wusste die Mutter, würde ihre Tochter den ganzen Tag über mit Männern zusammen sein und auch Ferien mit ihnen verbringen. Die Mutter lag nächtelang wach und überlegte, wie sie Anna zuverlässig vor einer Schwangerschaft schützen könnte. Es gab keine Alternative zur Sterilisation. Also suchte sie nach einem Weg, wie sie Anna unterbinden lassen könnte. Mit anderen Eltern behinderter Kinder musste sie gar nicht erst reden: Ein Austausch über dieses heikle Thema würde nicht möglich sein. Via Internetrecherche stiess Ruth Keller schliesslich auf Professor X, einen anerkannten Gynäkologen, der Anfang der neunziger Jahre unvermittelt unter Beschuss der Medien geraten war.

Massiv ablehnende Reaktionen

X hatte nämlich einige geistig behinderte Frauen sterilisiert und weiteren, die auf ihre Menstruation jeweils mit panischer Angst vor dem Verbluten reagierten, die Gebärmutter entfernt. In Absprache mit deren Angehörigen, Betreuern oder Ärzten war man zum Schluss gekommen, dass nur diese Massnahmen den jungen Frauen «ein möglichst uneingeschränktes und freies Leben erlaubten, zu dem auch Partnerschaften und sexuelle Aktivitäten gehören». X war stets überzeugt davon, zum Wohl seiner Patientinnen gehandelt zu haben, und so publizierte er damals in der Schweizerischen Medizinischen Wochenschrift gemeinsam mit einem Jugendpsychiater und einem Strafrechtler einen Artikel mit dem Titel «Zur Sterilisation geistig behinderter Patientinnen». Darin schilderte er verschiedene seiner Fälle und deren Hintergründe. Die Tatsache, dass er aus Deutschland zahlreiche unterstützende Zuschriften erhielt, änderte nichts an seinem Entschluss, nie mehr eine geistig behinderte Frau zu sterilisieren. Zu massiv waren die ablehnenden Reaktionen hierzulande gewesen. Ruth Kellers Bitte, ihre 18-jährige Tochter zu unterbinden, erfüllte er nicht.

X kannte sich im Thema jedoch aus. Er wusste, dass die Schweizerische Akademie für medizinische Wissenschaften (SAMW) just im Jahr 1999 einen Entwurf für neue medizinisch-ethische Richtlinien zur Sterilisation geistig Behinderter in die Vernehmlassung gegeben hatte. Darin wurde die umstrittenste Frage, ob eine nicht urteilsfähige Person wie Anna sterilisiert werden dürfe, erstmals nicht mehr a priori verneint. X erkannte diese Chance und wies Ruth Keller und ihre Tochter, wie von der SAMW vorgeschrieben, an einen Jugendpsychiater, um ein Gutachten erstellen zu lassen. Dieses fiel positiv aus: «Wir schlagen einen einmaligen Eingriff der Tubensterilisation vor und sehen diesen im überwiegenden Interesse und zum Wohle der Betroffenen.» Doch es dauerte nicht lange, und die SAMW geriet wegen des neuen Paragrafen dermassen unter Druck der Behindertenorganisationen, dass sie zurückkrebste und Sterilisationen bei nicht urteilsfähigen Personen erneut gänzlich ausschloss.

Keine Regelung auf Bundesebene

Damit war das Gutachten wertlos, fand sich doch in dieser Situation kein Arzt, der den Eingriff offiziell vorgenommen hätte. Vergeblich kontaktierte Annas Mutter weitere Gynäkologenpraxen, dazu ein grosses Stadtzürcher Spital. Oft enthielt der ablehnende Bescheid vorwurfsvolle Untertöne: Rabenmutter, was willst du deinem Kind antun! Schliesslich war Ruth Keller mit ihrer Kraft am Ende. Sie wurde mit einem Nervenzusammenbruch ins Spital eingeliefert. Als sie wieder nach Hause kam, stand sie erneut am Punkt null.

In der Schweiz fehlt es bis jetzt an einer bundesrechtlichen Regelung zur Sterilisation geistig Behinderter. Als die Nationalrätin Margrit von Felten 1999 - nach der öffentlichen Diskussion über die Zwangssterilisierungen in der Zürcher Psychiatrie - eine parlamentarische Initiative einreichte, die eine Entschädigung der Opfer anstrebte, folgte der Nationalrat ihrem Vorstoss. Die Kommission für Rechtsfragen verknüpfte die Entschädigungsproblematik allerdings mit der Kernfrage, unter welchen Voraussetzungen heute Sterilisationen erlaubt sein sollen. «Diese unglückliche Koppelung», sagt FDP-Nationalrat und Kommissionsmitglied Felix Gutzwiller, «hat die Diskussionen in starkem Masse beeinflusst und eine sehr ängstliche Haltung begünstigt.»

Ruth Keller verfolgte die Debatte und wurde zusehends skeptischer: Wussten «die in Bern» tatsächlich, worüber sie redeten? In dieser Zeit lernte sie Susanne Strub kennen, ebenfalls Mutter einer geistig schwer behinderten Tochter, die diese nur dank einer Sterilisation vor einer Schwangerschaft hatte schützen können. Strub setzt sich seither für die Legalisierung des Eingriffs ein, «wenn», betont sie ausdrücklich, «die Abklärung des Einzelfalls ergibt, dass eine unzumutbare Schwangerschaft nicht anders abgewendet werden kann». Die beiden Frauen beschlossen, die Sicht mehrerer betroffener Angehöriger in die laufende Vernehmlassung zum Sterilisationsgesetz einzubringen.

Umstrittener Artikel 7

Zur Knacknuss der neuen Regelung wurde einmal mehr das Problem, ob und unter welchen Bedingungen nicht urteilsfähige Personen sterilisiert werden dürfen. Die Gesetzgeber liessen keinen Zweifel daran, dass sie einen äusserst restriktiven Kurs fahren wollten, hiess es doch im Kommentar: «Der Eingriff ist grundsätzlich verboten, weil diese Personen die entsprechende Entscheidung gar nicht selber treffen können. Ausnahmsweise ist die Sterilisation indes zulässig, wenn gewisse Rechtsbedingungen erfüllt sind.» Diese «Rechtsbedingungen» sind im erläuternden Bericht zum umstrittenen Artikel 7 detailliert umschrieben. Zum einen müssen alle gleichermassen, also kumulativ erfüllt sein, damit eine Bewilligung zur Sterilisation erteilt wird. Zum anderen sind sie, so Keller und Strub, «teilweise realitätsfremd und stellen eine Zumutung für die behinderte Frau sowie ihre Eltern und Betreuer dar».

So darf der Eingriff nur erfolgen, wenn die Zeugung eines Kindes nicht durch andere zumutbare Verhütungsmittel verhindert werden kann. In erster Linie sollen also die Pille, die Spirale oder andere reversible Methoden angewendet werden. Dann aber wird auch angemahnt, dass in all jenen Beziehungen, in denen sich urteilsfähige und nicht urteilsfähige Partner gefunden haben, erstere für den Empfängnisschutz besorgt sein sollen und sich - mit ihrer Einwilligung - sterilisieren lassen könnten. Doch diese «Alternative» zielt an der Realität vorbei, denn, so Strub, «in der Regel gibt es solche Partnerschaften zwischen urteilsfähigen und nicht urteilsfähigen geistig schwer Behinderten nicht».

Problematisch sei zudem die Forderung, dass eine Sterilisation erst dann bewilligt werde, wenn die behinderte Person «schwangerschaftsrelevantes sexuelles Verhalten» praktiziere. Kurz: Sie muss also erst einen oder mehrere Sexualpartner haben, mit denen sie regel mässig ins Bett geht und damit riskiert, schwanger zu werden, bevor sie unterbunden werden darf. Um diese höchst intimen Umstände zu ermitteln, sieht der Gesetzgeber «stets eine Einzelfallprüfung» vor. Dagegen wehren sich Strub und Keller vehement: «Diese Bestimmung verlangt, dass unsere Töchter zuerst ungeschützten Geschlechtsverkehr haben müssen, bevor wir etwas zu ihrem Schutz unternehmen dürfen. Für Gesunde hingegen gilt die Devise, dass sie sich rechtzeitig, also beim ersten intimen Verkehr, schützen sollen. Schliesslich kann es bereits beim ersten Mal passieren.»

Betroffene Eltern nicht ernst genommen

Mit ihrer Skepsis stehen die beiden Frauen nicht allein. Verschiedene Kantone, die Schweizerische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, die Ärztegesellschaft FMH, das Institut für Polizeiwissenschaft und Kriminologie der Universität Lausanne, einzelne Parteien wie die SVP und EVP, aber auch der Schweizerische Evangelische Kirchenbund und die Christkatholische Kirche der Schweiz haben im Zuge der Vernehmlassung ähnliche Vorbehalte formuliert. Erstaunlich ist nun aber, dass all diese Institutionen mit ihrer schriftlich formulierten Kritik Eingang in die «Übersicht über die Resultate des Vernehmlassungsverfahrens» gefunden haben, Strub und Keller hingegen nicht.

Selbst die Präsidentin der Rechtskommission, SP-Nationalrätin Anita Thanei, ist überrascht von der Tatsache, dass der Beitrag der Angehörigen in den offiziellen Unterlagen unterschlagen wird. Sie empfindet das als störend, hat aber keine Erklärung dafür. Beim Bundesamt für Justiz ist man sich bewusst, dass in Zusammenhang mit der immerhin elfseitigen differenzierten Stellungnahme einiges «merkwürdig» gelaufen sei, wirft den Verfassern aber vor, ihren Beitrag «zu spät und an die falsche Adresse» geschickt zu haben. Strub sagt: «Das trifft nicht zu. Unsere Stellungnahme wurde innerhalb der Vernehmlassungsfrist an Frau Bundesrätin Metzler geschickt.»

Dass ausgerechnet die Stimme der Angehörigen mit dem Hinweis auf einen Verfahrensfehler ausgeschaltet wird, erstaunt. Kommt dazu, dass den Eltern auch eine Anhörung in der vorberatenden Subkommission verweigert wurde. Strub machte ihrem Ärger in einem Brief an Bundesrätin Ruth Metzler Luft: «Was wir Eltern brauchen, ist ein Dialogpartner, der gewillt ist, sich auch ernsthaft mit dem Problem, wie es sich in der Praxis stellt, auseinander zu setzen und nicht nur mit ethischen Höhenflügen. Dazu müsste man allerdings uns Eltern und unsere Erfahrung als direkt Betroffene ernst nehmen.»

Widersprüchliches Gesetz

Inzwischen liegt der Gesetzesentwurf vor, «kein Traumwurf», wie die SP-Frau Thanei einräumt, aber dazu sei die Materie auch viel zu komplex: «Hier Vergangenheitsbewältigung, da die Menschenwürde der Behinderten und die Interessen ihrer Angehörigen - bringe mal jemand all diese Anliegen unter einen Hut.» Den Vorwurf, Artikel 7 verunmögliche de facto eine legale Sterilisation bei einer geistig schwer behinderten Frau, weist sie zurück: «Es besteht ein faktisches Verbot mit einem Ausnahmenkatalog.» Diese Meinung teilt auch der Sozialethiker Alberto Bondolfi. Für ihn ist der Gesetzesentwurf in der vorliegenden Form «die strengste Art zu sagen, eine Sterilisation bei geistig Behinderten ist möglich». Das Sterilisationsgesetz sei nun einmal ein politisches Gesetz, das angesichts der tragischen historischen Hintergründe «keine freieren Formulierungen» ertragen hätte.

Das Gesetz enthält Widersprüche. Wie können die Vertreter der Behindertenorganisationen debilen Frauen jahrzehntelang die Einnahme der Pille zumuten und gleichzeitig eine Sterilisation als Akt der Menschenverachtung verurteilen? Bei beiden Interventionen ist das Ziel dasselbe: die Verhinderung einer Schwangerschaft. Und wie kommt es, dass die Gesellschaft gegen die Sterilisation einer geistig schwer Behinderten ist, aber dann, wenn die Frau ein behindertes Kind erwartet, grünes Licht für eine Abtreibung gibt? Sollte sich dank pränataler Diagnostik nämlich eine solche Diagnose ergeben, wären die Angehörigen beziehungsweise der Vormund berechtigt, anstelle der nicht Urteilsfähigen dem Abort zuzustimmen.

Im September befasst sich der Nationalrat als erste Kammer mit dem Entwurf zum Sterilisationsgesetz. Am restriktiven Artikel 7 hat die Rechtskommission festgehalten. Anna ist inzwischen sterilisiert. Nach sechsjähriger Odyssee hat die Mutter auf «Umwegen» eine «Lösung» gefunden. Dank dem Tipp einer Bekannten stiess sie auf eine Privatklinik im Ausland, wo sie Hilfe bekam. Dass sie dafür knapp 3000 Franken bezahlen musste, hat Ruth Keller hingenommen. Dass der Schritt sie zur «Kriminellen stempelt, die sich schämen und verstecken sollte», macht ihr nach wie vor zu schaffen.

* Namen von der Redaktion geändert

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© Barbara Lukesch