Die Montagsgruppe

Therapie-Pilotprojekt / 15. Januar 2005, "Der Kleine Bund"

Symbolbild zum Thema Psychologie und Medizin

Während der vergangenen fünf Jahre haben sich in Zürich Sexual- und Gewaltdelinquenten mit depressiven Patientinnen zum therapeutischen Prozess getroffen. Vermutlich ist diese vom Psychiater Frank Urbaniok initiierte Gruppentherapie ein weltweites Unikat. Kann diese Zusammensetzung überhaupt funktionieren? Protokoll einer Reise in psychotherapeutisches Neuland.

Der Raum ist gross, viel zu gross, will es scheinen, für die sechs Menschen, die sich in der einen Hälfte in einem Kreis zusammengefunden haben. Lydia Bertram* sitzt auf einem Polsterwürfel, den Rücken gegen die Wand gelehnt, ihre Hände im Schoss und lässt ihre Blicke schweifen: Bernd Seifert* ist da, der Mann, der einer Frau bei einem Notzuchtsversuch schwere Verletzungen zufügte und jahrelang von extremen Vergewaltigungsphantasien heimgesucht wurde. Rolf Riemann*, verurteilt wegen Notzucht und Raub, und Peter Klausen*, jahrelang im Gefängnis wegen Mordes. Eine weitere Frau hat es sich auf mehreren Kissen am Boden bequem gemacht.

Ihr gegenüber sitzt Frank Urbaniok, Chefarzt des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes PPD im Justizvollzug des Kantons Zürich und Leiter dieser Gruppe, die unter Eingeweihten kurz Montagsgruppe heisst. Die Montagsgruppe ist vermutlich ein weltweites Unikat, in deren Rahmen sich während der vergangenen fünf Jahre jeweils montagabends Sexual- und Gewaltdelinquenten, die ihre Strafe abgesessen haben, mit depressiven Patientinnen zum therapeutischen Prozess getroffen haben. Die knapp vierzigjährige Lydia Bertram ist eine von ihnen. Sie ist eine intelligente, hoch qualifizierte PR-Fachfrau, die heute selbstbewusst ihren Alltag bewältigt. «Die Montagsgruppe», sagt sie, «war meine Startbahn ins Leben.» Es habe ihr nichts Besseres passieren können, als gemeinsam mit diesen ehemaligen Straftätern eine Therapie zu machen.

Eine unkonventionelle Idee

Lydia Bertram stammt aus einem gutbürgerlichen Haus, einer so genannt intakten Familie, in der das ungeschriebene Gesetz galt: «Nur wer etwas leistet, wird geliebt.» Sie litt stark unter diesem Druck und wurde knapp zwanzig Jahre lang von Kopfschmerzen geplagt, denen nur mit Unmengen von Tabletten beizukommen war. Gleichzeitig fügte sie sich immer wieder Verletzungen zu, von denen Narben auf Armen und Beinen zeugen. Das Einzelkind lernte nie, Kontakte zu knüpfen; es lebte in seiner eigenen Welt «wie auf einem fremden Planeten», isoliert und unglücklich. Als junge Frau bezeichnete sich Lydia Bertram als depressiv und nahm erstmals therapeutische Hilfe in Anspruch. Vergeblich. Sie wechselte den Therapeuten, einmal, zweimal, immer wieder, doch ihr Leiden hielt an.

Dann sah sie Frank Urbaniok im Fernsehen und wusste: Der ist es. Sie rief ihn an, schilderte ihren Fall und wollte zu ihm in die Therapie. Urbaniok willigte ein. Nach wenigen Monaten aber realisierte er, dass ihm die Zeit für eine Privatpatientin fehlte. Schliesslich ist die Arbeit mit Tätern sein Kerngeschäft. Wie sollte er dieses Dilemma lösen?

Urbaniok entwickelte aus der Not eine unkonventionelle Idee: Wäre es nicht denkbar, fragte er sich, dass eine Gruppe, bestehend aus männlichen Delinquenten und depressiven Frauen, gut zusammenarbeiten könnte? Gerade weil die Teilnehmenden einen so unterschiedlichen Hintergrund hätten, würde die Gruppe als dynamisches Experimentierfeld dienen, auf dem sowohl die Männer wie auch die Frauen neue Verhaltensweisen ausprobieren und damit ihre Beziehungsfähigkeit verbessern könnten. Die einen würden möglicherweise ihre Empathie steigern, die anderen das Neinsagen und das Sichabgrenzen lernen. Ihm war bewusst, dass nur Delinquenten in die Gruppe passten, die sich bereits mit ihrer Tat und deren Vorgeschichte auseinander gesetzt hatten - therapierbare, motivierte Männer also, die er kannte und einschätzen konnte. Unter diesen Voraussetzungen, befand er, konnte er für die Sicherheit aller Teilnehmenden garantieren.

Als er Lydia Bertram mit dieser Idee konfrontierte, schluckte sie zwar im ersten Moment leer, doch überraschend schnell empfand sie es auch als Herausforderung, sich mit «Männern, die am äussersten Rand unserer Gesellschaft stehen», auseinander zu setzen: «Mit meiner Krankheitsgeschichte habe ich ja selber ein extremes Leben geführt und mich lange Zeit sozial ausgestossen und gebrandmarkt gefühlt.» Was hatte sie schon zu verlieren, sagte sie sich. Es war ein neuer Weg, eine weitere Chance, endlich den Teufelskreis von Schmerz und Trauer zu durchbrechen. Angst vor der Gewalttätigkeit eines Mörders oder Vergewaltigers hatte sie nicht. Dazu vertraute sie Frank Urbaniok und seiner therapeutischen Erfahrung viel zu sehr.

Abwehr und Unglauben

Lydia Bertram erklärte sich also bereit, das Experiment zu wagen. Erzählte sie in ihrem Bekanntenkreis, was sie plante, realisierte sie erst, worauf sie sich da eingelassen hatte: «Abwehr und Unglauben schlugen mir entgegen, und ich hörte auf, Aussenstehende einzuweihen.»

Die Montagsgruppe nahm gleichwohl Gestalt an. Weitere Patientinnen kamen dazu, und Urbaniok wählte jene Delinquenten aus, die er für geeignet hielt. Die Mehrzahl von ihnen hatte Verbrechen an Frauen begangen: Vergewaltigung, Nötigung, Mord oder Totschlag. Dass sie nun künftig in einer gemischten Gruppe über ihre Taten, Motive, Schuld und Strafe reden sollten, war auch für die Männer Neuland und löste bei etlichen Angst aus: «Ich fürchtete, dass mich die Frauen ablehnen und keinerlei Verständnis für meine Geschichte zeigen würden», sagt ein Gruppenmitglied, das seine Partnerin ermordet hatte.

Bernd Seifert, der jahrelang von brutalen Vergewaltigungsphantasien getrieben wurde, brauchte gar eine mehrmonatige Bedenkzeit, bis er sich zum Eintritt in die Montagsgruppe durchringen konnte. Sein Verhältnis zu Frauen, sagt er, sei damals dermassen hasserfüllt gewesen, dass er sie nur als «Sexualobjekte» wahrnehmen konnte, die er «gewaltsam nehmen und benutzen wollte».

Sein Versuch, mit einer Psychotherapeutin individuell zu arbeiten, musste notfallmässig abgebrochen werden, weil ihre Sicherheit in seiner Gegenwart ernsthaft gefährdet war. In der Folge behandelte ihn Frank Urbaniok. Seifert machte Fortschritte, er lernte, seine Phantasien zu kontrollieren, und entdeckte erstmals in seinem Leben Gefühle wie Freude und Zufriedenheit. Eines Tages war Bernd Seifert dann bereit, sich auf die Montagsgruppe einzulassen.

Sperrfeuer bohrender Fragen

Dort geriet er allerdings zunächst in ein Sperrfeuer bohrender Fragen, denn Lydia Bertram und eine weitere Patientin wollten genau wissen, was es mit seinen Phantasien auf sich hatte, wie er heute mit ihnen umging, an welchen Punkten seiner Persönlichkeit er weiterarbeiten wollte. Seifert realisierte zu seiner Überraschung, dass zwar seine Gewalttätigkeit geächtet wurde, dass er als Mensch aber durchaus eine Chance bekam und Wertschätzung und Sympathie erfuhr. Im Verlaufe des therapeutischen Prozesses veränderte sich langsam sein Frauenbild, und er empfand immer mehr Respekt vor den weiblichen Gruppenmitgliedern.

Lydia Bertram ging es inzwischen bereits sehr viel besser. Sie hatte keine Kopfschmerzen mehr, gewann zusehends an Selbstvertrauen und genoss es, in der Gruppe eine aktive Rolle zu spielen: «Ich definierte mich als Person neu», konstatiert sie, «und realisierte, dass auch Klarheit, Härte und Direktheit zu meinem Charakter gehören.» Sie verspürte Lust, sich auf die anwesenden Männer und Frauen einzulassen und mit ihnen Beziehungen zu knüpfen. «Die Gruppe gab mir grosse Geborgenheit und erlaubte mir, so ehrlich und authentisch zu sein, wie ich es mir nie zugetraut hätte.» Nach und nach klangen ihre Depressionen ab. Ähnlich erfolgreich verlief der Heilungsprozess einer zweiten Patientin, die heute ihr Leben ohne fremde Hilfe meistert.

Warum hat das Modell Montagsgruppe funktioniert? Sehr wichtig für das Gelingen dieser Gruppentherapie, sagt Psychiater Urbaniok, sei der Umstand, dass Straftäter und Depressive trotz allen Unterschieden über eine markante Gemeinsamkeit verfügt: «Beide haben ein Problem mit ihrer Aggressivität. Die einen richten Gewalt nach aussen, die anderen gegen innen, aber eine Verhaltensänderung müssen beide vollziehen, und auf diesem Weg können sie voneinander profitieren.» Lydia Bertram nickt. Sie habe von den Männern gelernt, sich ihren «eigenen Abgründen» zu stellen und sich einzugestehen, dass auch zu ihrer Person Gefühle wie Wut und Hass gehören. Erstmals sei ihr bewusst geworden, dass es blanker Hass war, der sie als Dreizehnjährige auf ihre Mutter einschlagen liess, bis diese bewusstlos war.

"Ich bin grosszügiger geworden"

Heute kann sie sich als Menschen annehmen, der sich aus verschiedenen Facetten zusammensetzt, schönen, aber auch hässlichen, und benötigt nicht länger den Schutzschild einer blitzblanken Fassade, an der alle Empfindungen abprallen: «Ich bin grosszügiger im Umgang mit mir selber geworden», erzählt sie, «nachdem ich Menschen kennen und schätzen gelernt habe, die für viele nichts als ,Abschaum‘ sind.»

Der Kontakt zur Welt des Knasts und der «schweren Jungs» war für Lydia Bertram eine Art «Kick», der sie aus ihrer beinahe autistischen Isolation befreite. Die Männer und ihre Schicksale interessierten sie; sie wollte wissen, wie Menschen zu Mördern oder Vergewaltigern werden und mit dieser Schuld weiterleben können. Gleichzeitig war sie auch fasziniert von deren Schlitzohrigkeit und Schlagfertigkeit, den sie sich zunächst hilflos ausgeliefert fühlte.

Nach und nach aber lernte sie, Paroli zu bieten und sich klar und vernehmlich abzugrenzen. Sie spürte, wie wohltuend die Unsentimentalität der Männer wirkte, auch ihre Gelassenheit, wenn sie von heftigen Gefühlen überschwemmt wurde. Es tat ihr, einer eher kopflastigen, durchtherapierten Frau gut, sich mit einem Bauarbeiter, Maschinisten und Gärtner auszutauschen, die sie häufig sehr direkt an den emotionalen Kern einer Erfahrung führten, statt lange um den heissen Brei herumzureden. Hätte sie ausschliesslich mit depressiven Frauen eine Gruppentherapie gemacht, dachte Lydia Bertram im Nachhinein oft, wäre die Gefahr, im gegenseitigen Verständnis zu ertrinken und damit den Heilungsprozess zu blockieren, gross gewesen.

Die Männer ihrerseits lernten von ihr, aber auch den anderen Frauen, ihre Empfindungen präzise zu benennen und auf grobschlächtige, sexistische Ausdrücke zu verzichten. Bernd Seifert zum Beispiel schätzte ihre Aufmerksamkeit und Sorgfalt, mit denen sie seinen Schilderungen folgten: "Ich war überrascht", sagt er, "dass sie sich auch Stunden später noch an Details erinnern konnten." Nach und nach begann er den Wert einer freundschaftlichen Beziehung zu einer Frau zu schätzen. Als er einmal gemeinsam mit Lydia Bertram eine Töffahrt unternahm, war er sich sicher, dass es zu keinem einzigen Übergriff kommen würde: "Nur wenige Jahre zuvor", erinnert er sich, "löste noch jede Frau in mir einen Schweissausbruch aus und ich musste sie, wie unter Zwang, betatschen."

Frauen haben die Therapie abgeschlossen

Vor wenigen Wochen traf sich die Montagsgruppe aus einem ganz besonderen Anlass: Sie war auf den Tag genau fünf Jahre alt, und Frank Urbaniok, ihr Gründer und Leiter, gab seinen Abschied und führte seinen Nachfolger ein. Momentan besteht die Gruppe ausschliesslich aus Delinquenten; alle Frauen haben ihre Therapie abgeschlossen. Nichtsdestotrotz kommen auch Lydia Bertram und eine zweite Frau weiterhin zum gemütlichen Höck in der Stammkneipe, der jeweils nach Sitzungsende ansteht. Dort tauschen sie mit den Männern Neuigkeiten aus, teilen ihre alltägliche Sorgen oder erzählen Witze und treffen Verabredungen fürs Kino - all das halt, was Menschen miteinander verbindet.

Psychiater Urbaniok hält das Modell Montagsgruppe, in deren Rahmen psychisch kranke Frauen mit Ex-Straftätern zusammenarbeiten, für ein zusätzliches Therapieangebot, das sich bewährt habe: "Bei Bedarf", sagt er, "werden wir diese Gruppenform weiterführen."

* Namen geändert / Urbaniok, Frank. Was sind das für Menschen - was können wir tun? Nachdenken über Straftäter. Zytglogge-Verlag


"Eine Paargruppe wäre sinnvoll"

Ingeborg Peng-Keller über die Fortsetzung der Gruppenarbeit.

Frau Peng-Keller, wie hat sich der Abgang von Frank Urbaniok auf die Montagsgruppe ausgewirkt?

Ingeborg Peng-Keller: Weniger schlimm, als alle erwartet hatten. Dazu muss man wissen, dass ich die Gruppe am Schluss fast jedes zweite Mal allein betreut habe. Ausserdem sehen die Klienten ihn nach wie vor auf den Gängen des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes PPD. Sie begrüssen ihn, und er fragt nach, wie es ihnen geht. Das sind wichtige therapeutische Begegnungen, die ihnen zeigen, dass er sie keineswegs fallen gelassen hat.

Wie setzt sich die Montagsgruppe aktuell zusammen?

Zwei Männer haben die Gruppe nach langjähriger Teilnahme verlassen. Ein Mann ist neu dazugekommen. Patientinnen haben wir seit dem Austritt von Lydia Bertram* und ihrer Kollegin keine mehr.

Empfinden Sie das als Mangel?

Ich würde es begrüssen, wenn wieder Frauen dabei wären. Es müssten allerdings mindestens zwei sein, weil eine Frau allein zur Exotin würde und in der speziell zusammengesetzten Gruppe auf verlorenem Posten stünde. Ich bemühe mich darum, Frauen zu finden, aber es ist schwierig. Schliesslich müssen sie auch über eine gewisse Stabilität verfügen, um in diesem Rahmen zu bestehen. Wir hatten ja auch schon einmal zwei Frauen dabei, die nach kurzer Zeit wieder gegangen sind, weil sie der Gruppensituation nicht gewachsen waren.

Wollen denn die Männer, dass wieder Frauen dabei sind?

Der Tenor ist einhellig: Sie würden es sehr schätzen, wenn wieder Klientinnen dazukämen. Lydia Bertram und ihre Kollegin haben sie emotional stark konfrontiert und ihnen mit ihrer beharrlichen, intelligenten Art auf den Zahn gefühlt. Das war im Moment nicht immer einfach, hat auf Dauer aber sehr viel an die Oberfläche gebracht. Es wurden auch spannende Gruppenprozesse in Gang gesetzt. Gleichzeitig entstanden auch kollegiale Beziehungen, die über die Montagsgruppe hinauswirken.

Wie geht es Lydia Bertram und ihrer Kollegin heute?

Es geht ihnen gut. Sie waren gerade kürzlich beim Weihnachtsessen der Gruppe dabei.

Halten Sie die gemischte Montagsgruppe für ein Pilotprojekt, das Schule machen sollte?

Es ist schwierig, Patientinnen zu finden, die in eine solche Gruppe integriert werden können, zumal unser Klientel am PPD fast nur aus Männern besteht. Wir haben dank einer ausserordentlich günstigen Zusammensetzung eine Erfahrung machen können, die für alle Beteiligten ideal war. Solche Konstellationen kann es wieder geben, aber sie werden die Ausnahme bleiben.

Werden heute gemischte Therapiegruppen den nach Geschlechtern getrennten vorgezogen?

Das ist so, und auch ich empfehle gemischte Therapie- oder Selbsthilfegruppen sehr. Im Fall der Montagsgruppe repräsentieren eine Praktikantin und ich als Therapeutin den weiblichen Gegenpart. Dies kann aber die fehlenden Patientinnen nicht ersetzen. Was ich mir schon lange überlege, ist der Einbezug der Partnerinnen unserer Gruppen-Mitglieder. Schliesslich hat der Grossteil unserer ehemaligen Delinquenten ein Beziehungsdelikt begangen. So gesehen würde eine Paargruppe absolut Sinn machen.

Ingeborg Peng-Keller ist klinische Psychologin und Psychotherapeutin. Die Namen im Text wurden geändert.

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© Barbara Lukesch