I schänke Dir mis Härz

Organspende / 27. Juni 2007, "Annabelle"

Symbolbild zum Thema Psychologie und Medizin

Leichter gesagt als getan! Denn wenns ans Organspenden geht, sind wir Schweizer ganz schön geizig. Wir wollten wissen, woran das liegt, und sprachen mit Betroffenen und Experten.

Eine Mehrzahl der Schweizerinnen und Schweizer findet es eine gute Sache, Organe zu spenden. Trotzdem: Die Schweiz liegt dabei abgeschlagen auf dem vorletzten Platz in Europa. Gerade mal bei achtzig verstorbenen Personen konnten letztes Jahr Organe entnommen werden. Und Jahr für Jahr wird die Spenderzahl noch kleiner. Die Folge: Mehr als 1300 Patientinnen und Patienten warten auf ein Organ – manchmal vergeblich. 2006 sind vierzig von ihnen gestorben.

Das ist erstaunlich. Denn in einer Studie der Universität Zürich gaben 59 Prozent der Befragten an, dass sie für das Organspenden sind. Einen Organspendeausweis aber haben die wenigsten von ihnen. Weshalb? Weil man so schwer mit seinen Eltern, Kindern oder dem Geliebten darüber reden kann, ob man Herz, Lunge oder Leber spenden würde. Weil man nicht darüber nachdenken möchte, dass man am nächsten Tag vielleicht einen tödlichen Unfall hat oder an einer Hirnblutung stirbt. Weil das Thema Tod doch noch so weit weg ist. Weil man gar nicht genau weiss, wie man zu einem Spenderausweis kommt. Weil man vielleicht doch nicht richtig tot ist, wenn die Organe entnommen werden. Und weil sich zwei Drittel der Bevölkerung nicht genug informiert fühlen über die Transplantationsmedizin und das Organspenden.

Am 1. Juli tritt das neue Transplantationsgesetz in Kraft. In vier Millionen Briefkästen wird in den nächsten Tagen eine Broschüre des Bundesamts für Gesundheit liegen. Darin befindet sich viel Information und: ein Spenderausweis, in dem man sich als Spenderin, aber auch ausdrücklich als Nichtspenderin deklarieren kann. Egal, wie Ihr Entscheid ausfällt – Hauptsache, Sie fällen einen. Und besprechen ihn mit Ihren Angehörigen.


Corinne Studer wartet auf eine Spenderniere

"Als ich zwanzig war, wurde bei mir eine schwere Nierenerkrankung festgestellt. Von da an musste ich dreimal pro Woche für jeweils vier Stunden in die Dialyse. Das bedeutete eine grosse Einschränkung, unter anderem, weil ich all meine Pläne um die Dialyse herum arrangieren musste. Deshalb war ich sofort einverstanden, als ich von der Möglichkeit einer Transplantation hörte. 1999 bekam ich eine neue Niere. Doch mein Körper hat immer wieder versucht, das fremde Organ abzustossen. Ich musste zahllose Medikamente nehmen, auf die ich mit starken Nebenwirkungen wie Schlaflosigkeit, Übelkeit und Krämpfen reagiert habe. Mit der Zeit funktionierte die Niere kaum noch, und ich musste wieder zur Dialyse. Ein Jahr später wäre die Niere beinahe geplatzt, in einer Notoperation wurde sie entfernt. Seither stehe ich wieder auf der Warteliste. Inzwischen hat sich meine Situation verschlechtert. Mein Blut enthält so viele Antikörper, dass es sehr schwierig ist, für mich ein passendes Organ zu finden. Ich habe zwar die Hoffnung noch nicht aufgegeben, aber es ist wichtig, dass ich meine Erwartungen der Realität anpasse. Eine Lebendspende von einer Freundin oder Verwandten anzunehmen, finde ich nicht so einfach. Ich habe solche Angebote bekommen, konnte es aber nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, einem gesunden Menschen ein Organ wegzunehmen und ihn damit einem gesundheitlichen Risiko auszusetzen."

Corinne Studer (34) lebt im Baselland. Die Textilverkäuferin arbeitet mit einem 30-Prozent-Pensum in der Geschäftsleitung der elterlichen Verpackungsfirma. Sie ist ledig und kinderlos."


Jeannette Niklaus hat einen Spenderausweis

"Ich bin ein Mensch, der gern konkret etwas für andere tut. Als ich erfuhr, dass ich wegen meines Eisenmangels kein Blut spenden kann, habe ich mir einen Ausweis als Organspenderin ausstellen lassen. Das war 1985. Jahre später erkrankte mein Bruder schwer und brauchte eine neue Niere. Er bekam die Niere eines verunfallten vierjährigen Kindes, die ihm zu einem zweiten Geburtstag verhalf. Durch seine Geschichte ist mir erst richtig bewusst geworden, wie wunderschön es ist, einem anderen Menschen mit einer Organspende zusätzliche Lebensjahre zu schenken. Ausserdem gefällt mir die Vorstellung, dass etwas von mir weiterexistiert, wenn ich nicht mehr da bin."

Jeannette Niklaus (63), Sachbearbeiterin beim Blutspendedienst, lebt und arbeitet in Bern. Sie hat zwei erwachsene Kinder und ist geschieden.


Isabelle Binet ist als Ärztin täglich mit Menschen auf der Warteliste konfrontiert

"Das Risiko, dass man im Verlauf seines Lebens ein Spenderorgan braucht, ist etwa achtmal grösser als jenes, dass man als hirntoter Patient selbst ein Organ spenden kann. Diese Zahl ist nur wenigen Leuten bekannt. Dabei würde sie viel dazu beitragen, dass sich mehr Menschen mit dem Thema Organspenden beschäftigen und vielleicht auch einen Spenderausweis beantragen. Als Spezialistin für Nierentransplantationen betreue ich Patienten, die mit der Dialyse zwar über eine lebensrettende Alternative verfügen, damit aber grosse Einschränkungen ihrer Lebensqualität in Kauf nehmen, eine strenge Diät halten und rund 15 Stunden pro Woche im Spital verbringen müssen. Auch in meinem Fachgebiet bleiben viele Kranke sehr lange auf der Warteliste, im Schnitt etwas mehr als zwei Jahre. Diese Menschen hadern oft mit ihrem Schicksal, sind verzweifelt. Seit ich als Assistenzärztin Anfang der Neunzigerjahre erstmals mit einem Nierentransplantierten zu tun hatte, habe ich einen Spenderausweis."

Isabelle Binet (44) ist Leiterin der Nephrologie im Kantonsspital St. Gallen im Ostschweizer Zentrum für Nierentransplantationen. Sie operiert selbst nicht, sondern betreut die Patienten vor und nach der Transplantation.


Francesca Breda hat bewusst keinen Spenderausweis

"Jedes Mal, wenn es heisst, es gäbe zu wenig Organspender, klingt es für mich wie ein persönlicher Vorwurf an alle, die keinen Spenderausweis besitzen. Dass Organe gespendet werden, darf doch nicht als selbstverständlich gelten. Bei manchen hat das Nichtspenden zum Beispiel religiöse Gründe. Ich persönlich bin der Meinung, dass die Natur uns nicht als Ersatzteillager vorgesehen hat. Nach meinem Tod möchte ich unversehrt bleiben. Die Entnahme der zur Spende geeigneten Organe käme mir wie Leichenfledderei vor. Ich arbeite seit 29 Jahren als Pflegefachfrau in einer Uniklinik und habe dort, was die Lebendnierenspende betrifft, schon tolle Sachen gesehen. Den Empfängern geht es in der Regel sehr schnell besser. Bei den Spendern gibt es aber auch welche, von denen ich glaube, dass sie mit der Situation überfordert sind. Dass Organtransplantationen heute machbar sind, kann mögliche Spender unter schweren moralischen Druck setzen. Sicher würde ich für ein eigenes Kind spenden. Bei anderen Angehörigen käme ich aber in ein schwer wiegendes Dilemma, weil ich grundsätzlich nicht spenden möchte, mich aber verpflichtet fühlte. Mit einer meiner Schwestern habe ich darüber schon diskutiert. Sie versteht meine Ängste. Was ich jederzeit spenden würde, ist Knochenmark, da sich dieses regenerieren kann. Mir ist bewusst, dass ich im Ernstfall nicht erwarten kann, dass jemand für mich ein Organ spendet. Allerdings ist es für mich auch unvorstellbar, mit einem fremden Organ zu leben."

Francesca Breda (52) ist Pflegefachfrau, lebt in Basel und arbeitet in der dortigen Uniklinik. Sie ist geschieden und hat keine Kinder.


Karin Leone-Rubin hat ihre Tochter verloren, weil nicht rechtzeitig eine Spenderleber gefunden wurde

"Als Jasmin zehn Wochen alt war, stand fest, dass sie unter einer Gallengang-Atresie litt. Ihre Gallenblase war verkümmert, sodass alles Gift aus der Leber direkt in ihr Blut eindrang. Sie hatte eine bereits weit fortgeschrittene Leberzirrhose. Die Ärzte machten uns klar, dass nur eine Lebertransplantation ihr Leben retten konnte. Mein Mann und ich gaben sofort unser Einverständnis. Dann begann das Warten. Jasmin war schwer krank und musste immer wieder wochenlang ins Spital. Einmal hatte sie Wasser auf der Lunge, dann brauchte sie eine Magensonde, das nächste Mal war eine weitere Biopsie fällig. Ständig wurde unsere kleine Jasmin geplagt. Schliesslich verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand massiv. Sie rückte auf einen der vordersten Plätze der Warteliste und genoss höchste Priorität. Doch ihre Zeit war abgelaufen. Am Sonntag, dem 31. Mai 1996, starb sie im Alter von zehn Monaten in meinen Armen an inneren Blutungen. Heute haben wir zwei gesunde Buben, der eine ist neun, der andere sechs. Sollte ihnen jemals ein Unfall passieren, würden wir ihre Organe sofort freigeben. Auch mein Mann und ich tragen einen Spenderausweis auf uns."

Karin Leone-Rubin (36) ist Heizungszeichnerin und lebt mit ihrer Familie in Scherzingen TG.


Gisela Wittwer musste entscheiden, ob sie die Organe ihres Mannes freigibt

"Etwas Schrecklicheres gibt es nicht. Da habe ich mich an jenem 11. November 2006 morgens kurz vor sieben von meinem Mann verabschiedet, der gesund und munter war wie eh und je. Keine zwölf Stunden später stehe ich im Berner Inselspital, und ein Arzt sagt zu mir: «Ihr Mann ist seiner Hirnblutung erlegen. Geben Sie Ihr Einverständnis zur Organentnahme?» Mir blieb eine Stunde Zeit, um mich zu entscheiden. Ich war wie erschlagen. Wie hätte ich mir gewünscht, dass mein Mann einen Spenderausweis auf sich getragen hätte oder dass wir wenigstens einmal über das Thema Organspende gesprochen hätten. Gott sei Dank kamen dann der Bruder meines Mannes und meine 17-jährige Tochter. Gemeinsam rangen wir um eine Lösung, die Christian entsprochen hätte. Den Ausschlag gab letztlich, dass zwei seiner Brüder schwer herzkrank sind und in absehbarer Zeit auf ein Spenderherz angewiesen sein könnten. Da konnten wir uns doch jetzt nicht gegen die Organentnahme wehren. Zehn Tage später bekam ich vom Inselspital einen Brief, in dem es hiess, dank der Spende meines Mannes sei vier Menschen geholfen worden. Das Schreiben tröstete mich zwar, die letzten Zweifel, ob ich im Sinne des Verstorbenen gehandelt hatte, konnte es allerdings nicht ausräumen."

Gisela Wittwer (41) lebt mit ihrer 17-jährigen Tochter in Thun. Sie arbeitet in einer Metzgerei.


Florence Mivelaz hat eine Niere gespendet

"Ich habe dem Sohn meiner Freundin eine Niere gespendet. Timos Nieren versagten, als er 14 war. Zwei Jahre lang lebte er ganz gut mit Medikamenten. Doch im Januar 2006 musste er mit der Dialyse beginnen. Dreimal pro Woche, bis eine Spenderniere gefunden war. Sein Vater kam als Spender nicht in Frage. Und seine Mutter lebt seit 24 Jahren selbst mit einer Spenderniere. Damals hatten ihr die Ärzte gesagt, sie würde die Krankheit nicht vererben. Sie hatten sich geirrt. Weil so wenige Menschen Organspender sind, kann dies Jahre dauern. Ich verstehe das nicht, niemand stirbt früher, bloss weil er einen Spenderausweis hat. Weil sich kein Spender fand und ich mit Timo kompatibel bin, war für mich klar: Ich würde ihm eine Niere spenden. Da ich selbst drei Söhne habe, wollte ich erst mit meinem Ex-Mann sprechen. Er hat mich voll in meinem Entschluss bestärkt. Nach den medizinischen Tests gab es ein Gespräch mit einem Psychologen. Ich sollte genau wissen, worauf ich mich einlasse. Auch, dass Timo meine Niere abstossen könnte. Am 9. Mai 2006 wurden wir im Lausanner Universitätsspital operiert, der Eingriff war problemlos. In meinem Leben hat sich nichts geändert. In Timos schon. Er kann endlich tun, was er will. Auch wenn er täglich Medikamente einnehmen muss, damit sein Körper das neue Organ nicht abstösst."

Florence Mivelaz (40) lebt in Prilly VD. Sie ist Mutter von drei Buben, die sechs, acht und zehn Jahre alt sind. Timo Buch-Hansen (17) ist der Sohn ihrer Freundin Lorraine.


Petra Roth lebt mit einer neuen Lunge

"Ich habe einen Tick: Ich mag keine ungeraden Zahlen. Als ich erfuhr, dass ich am 26. September, im neunten Monat des Jahres 2004, eine neue Lunge bekommen sollte, befiel mich ein mulmiges Gefühl. Dabei hatte ich mein Leben lang an zystischer Fibrose gelitten und fast eineinhalb Jahre auf ein Spenderorgan gewartet, brauchte monatlich intravenöse Antibiotika-Therapien, die meinem Körper massiv zusetzten. In den letzten acht Monaten meiner Wartezeit war ich 24 Stunden auf Sauerstoff angewiesen und konnte schon lange kein normales Leben mehr führen. An Arbeiten war nicht zu denken, ich schlief stundenlang und machte Atemtherapien. Ich liess mich also schweren Herzens ins Universitätsspital Zürich fahren und hatte, so paradox es klingt, Glück: Die für mich vorgesehene Lunge war nicht brauchbar. Noch grösseres Glück hatte ich am 20. 10. 2004. Man beachte: ausschliesslich gerade Zahlen. Eine neue Lunge war gefunden worden, die Operation und die Rehaphase verliefen gut, und seither ist mein Leben so schön, wie es noch nie war. Ich kann Velo fahren, wandern, unseren Haushalt allein in Stand halten, für meinen Mann und mich kochen. Traumhaft. In stillen Stunden führe ich oft ein stummes Zwiegespräch mit dem Spender, den ich ja nicht kenne, und danke ihm. Meine neue Lunge ist wie mein Baby, dem ich Sorge trage. Eigene Kinder werde ich nie haben. Dazu hat die zystische Fibrose meinen Körper zu sehr geschädigt. Damit muss ich genauso leben wie mit der Ungewissheit, wie lange meine neue Lunge ihren Dienst tut. Sind es zehn Jahre, kann ich zufrieden sein."

Petra Roth (29) lebt in Oberwil bei Büren im Kanton Bern. Sie ist gelernte Papeteristin.


Das Transplantationsgesetz tritt am 1. Juli 2007 in Kraft. Es ist das erste nationale Gesetz. Die wichtigsten Punkte:
1. Das Bundesamt für Gesundheit ist beauftragt, die Information der Bevöl-kerung zu verbessern. Diesen Juli verschickt es vier Millionen Broschüren, die auch einen Spenderausweis beinhalten, in die Schweizer Haushalte.
2. Das Gesetz sieht die so genannte erweiterte Zustimmung bei der Organspende vor. Das heisst: Wenn kein Spenderausweis mit dem deklarierten Willen des Verstorbenen vorliegt, haben die Angehörigen das Recht, über die Organentnahme zu entscheiden. Die erweiterte Zustimmung galt bisher nur in einzelnen Kantonen, jetzt ist sie schweizweit verbindlich.
3. In jedem Spital mit einer Intensivstation wird ein Transplantations-koordinator eingesetzt, der für die Spendererkennung und die Angehörigenbetreuung zuständig ist. Gleichzeitig sorgt er für die Vernetzung mit anderen Spitälern.
4. Die Organverteilung wird zentral und nach folgenden Kriterien gehandhabt: Medizinische Dringlichkeit, Medizinischer Nutzen, Dauer der Wartezeit.

Adressen:
- SwisstransplantUnterstützung von Organspenden und Transplantationen Laupenstrasse 37, 3008 Bern, www.swisstransplant.org
- Reneo Gemeinnütziger Verein zur Förderung der Nierenspende, Elsässerstrasse 34, 4056 Basel
- Kids Kidney Care für nierenkranke KinderRebweg 11, 8174 Stadel, www.kidskidneycare.org
- Schweizerischer Transplantierten Verein, Postfach 285, 3612 Steffisburg, www.transplantierte.ch
- Novaria Schweizerischer Verein der Lungentransplantierten, Dörflistrasse 3, 3362 Niederönz
Weitere Informationen zum Thema Transplantation gibts ab Juli beim Bundesamt für Gesundheit unter www.bag.admin.ch/transplantation



«Eine Organspende ist ein Geschenk»

Die Medizinethikerin Ruth Baumann-Hölzle über Würde, Freiheit und Verteilgerechtigkeit.

Ruth Baumann-Hölzle, seit wann haben Sie einen Spenderausweis?

Ruth Baumann-Hölzle: Seit vier Jahren. Damals realisierte ich, dass ich im Fall einer schweren Krankheit ein Spenderorgan annehmen würde. Und da wurde mir klar, dass ich umgekehrt auch bereit sein müsste, selbst zu spenden.

Plädieren Sie als Medizinethikerin für eine Pflicht zum Organspenden?

Eine moralische Pflicht zum Spenden lehne ich kategorisch ab. Eine Organspende muss immer absolut freiwillig erfolgen, sie stellt ein Geschenk beziehungsweise ein Selbstopfer dar, das nie erzwungen werden darf. Das heisst, auch von schwer kranken Patienten besteht keinerlei Anspruch auf ein fremdes Organ. Andererseits vertrete ich die Meinung, dass alle die Verpflichtung haben, sich mit dem Thema Organspenden zu befassen und eine Entscheidung zu treffen, ob sie dereinst spenden wollen oder nicht. Sonst sind die Angehörigen überfordert, ja, letztlich urteilsunfähig und wissen im Moment der Krise nicht, ob sie die Organe der Mutter, Schwester oder des Sohnes freigeben dürfen.

Haben Sie Verständnis für Menschen, die sich ausdrücklich gegen das Organspenden entscheiden?

Absolut. Das Spenden der eigenen Organe stellt immerhin einen massiven Eingriff in die körperliche Integrität dar.

Auch wenn man tot ist?

Das ist die Kernfrage: Ist ein Hirntoter wirklich tot? Er befindet sich zwar in einem irreversiblen Zustand, in dem er keine Hirnströme mehr aufweist und der mit hundertprozentiger Sicherheit zum Tod führt. Gleichzeitig ist sein Körper nach wie vor belebt. Sein Blut fliesst, und die chemischen Prozesse sind noch am Laufen. Letztlich geht es um eine Definition. Ist der Hirntote eine Person, der Rückstand einer Person, so wie dies in Österreich definiert wird, oder eine Leiche?

Die Schweiz weist europaweit eine der niedrigsten Spenderquoten auf. Warum gibt es bei uns so wenig Organspenden?

Ich vermute, weil bei uns zum einen dem Thema gegenüber eine grosse Gleichgültigkeit herrscht. Wer nicht auf irgendeine Art selbst betroffen ist, will sich möglichst wenig damit auseinander setzen. Sterben und Tod sind hochtabuisierte Bereiche, denen mit Scheu und Abwehr begegnet wird. Unsere Kultur ist programmiert auf young, happy, nice and smiling, da passen Leidensgeschichten nicht hinein. Darüber hinaus fehlt es den Menschen auch an Vertrauen in die Medizin. Viele befürchten, dass die Ärzte nicht mehr alles zur Rettung ihres Lebens unternehmen würden, wenn sie sie als Träger eines Spenderausweises identifiziert haben. Das Bild vom organsüchtigen Medizintechnokraten, der in erster Linie an der Leber und am Herz interessiert ist, sitzt in vielen Köpfen fest.

Lassen sich auch religiöse Gründe ins Feld führen, um von der Organspende Abstand zu nehmen?

Interessanterweise stehen nahezu alle grossen Religionen dem Organspenden wohlwollend gegenüber. Es gibt viele christliche Theologen, die ausdrücklich von einer Pflicht zur Organspende als einem Akt der Nächstenliebe reden.

Bräuchte es denn mehr finanzielle Mittel, um das Thema Organspenden besser in den Köpfen der Leute zu verankern?

Wenn es in einem Medizinalbereich nicht an Geld fehlt, dann in der Transplantationsmedizin. Die Pharmaindustrie hat ein Rieseninteresse an möglichst vielen Transplantationen, schliesslich werden so chronisch Kranke erzeugt, die ein Leben lang Medikamente schlucken müssen. Aber genau dieses Interessengeflecht schreckt wieder viele, darunter auch mich, ab. Sobald in der Medizin der Eindruck entsteht, es gehe primär um Geld, reagieren die Leute mit Abwehr.

Interessanterweise hat es im Tessin seit je einen deutlich höheren Organspenderanteil als im Rest der Schweiz. Was machen die Tessiner anders?

Im Tessin gab es von Anfang an Ärztinnen und Ärzte, die sich auf eine sehr persönliche Art für die Transplantationsmedizin engagiert haben. Sie haben es geschafft, die Spender nicht auf die Rolle der Organquelle zu reduzieren und den Patienten und deren Angehörigen mit hoher Sensibilität für ihr Leiden zu begegnen. Sie haben damit eine Kultur des Vertrauens entwickelt.

Was verstehen Sie konkret darunter?

Das Vertrauen der Patienten hängt eng mit der Kommunikation zusammen, die in einem Spital selbst gepflegt wird. Wie reden die einzelnen Abteilungen miteinander? Was strahlt eine Klinik nach aussen aus? Wie geht das Personal mit den Kranken im Einzelfall um? Nimmt es ihre Patientenautonomie ernst? Wenn Kranke und Angehörige merken, dass über ihre Köpfe hinweg entschieden wird und es den Ärzten bei der Organentnahme nur um Power, Prestige und Profit geht, sinkt die Spendebereitschaft sofort.

Was versprechen Sie sich vom Transplantationsgesetz, das am 1. Juli in Kraft tritt? Ist es die Chance, das Schweizer Organspendewesen von Grund auf zu verbessern?

Ich finde es äusserst wichtig und sehr gut, dass es endlich dieses nationale Gesetz und damit eine einheitliche Regelung gibt. Ich bin überzeugt, dass es das Bewusstsein der Menschen für die Dringlichkeit des Problems schärft, und erhoffe mir auch eine bessere Information. Wobei mir dieser 4-Millionen-Versand von Broschüren und Spenderausweisen an alle Haushalte nicht ganz behagt. Das könnte auch Abwehr erzeugen, denn bei einem so heiklen Thema reagieren die Leute extrem sensibel auf Druck.

Das neue Gesetz sorgt für eine zentrale Erfassung aller Organspenden. Wird deren Verteilung damit fairer gehandhabt werden?

Ein Stück weit sicher. Aber, und das ist für mich ein grosses Aber, auch das Gesetz hat es nicht geschafft, die Kernfrage der Verteilungsgerechtigkeit wirklich zu lösen. Es macht nämlich die Organvergabe von drei Kriterien abhängig: medizinische Dringlichkeit, medizinischer Nutzen des neuen Organs und der Länge der Wartezeit. Diese Kriterien schliessen sich jedoch teilweise aus. Je kränker nämlich ein Mensch, also je dringender er auf ein neues Organ angewiesen ist, umso grösser ist die Gefahr, dass sein Körper es wieder abstösst. Stellt man also die Erfolgswahrscheinlichkeit der Transplantation ins Zentrum, müsste man Patienten bevorzugen, denen es körperlich noch recht gut geht und die dann auch noch nicht so lange auf der Warteliste stehen. Damit verletzt man aber die Pflicht zur Nothilfe.

Welche Lösung würden Sie bevorzugen?

Weil Spenderorgane ein rares, kostbares Gut sind, sollte man deren Verteilung zunächst an der Organakzeptanz ausrichten. Das heisst, man würde für ein Organ erst einmal einen Patienten suchen, bei dem die Wahrscheinlichkeit am grössten ist, dass sein Körper zum Beispiel die neue Lunge akzeptiert. Gibt es mehrere solche Patienten, sollte man denjenigen begünstigen, der einen Spenderausweis hat und sich selbst als spendebereit deklariert hat. Eine Ausnahmelösung sollte für diejenigen Menschen gelten, die selbst nie hätten spenden können, weil sie krank oder behindert geboren worden sind.

* Ruth Baumann-Hölzle (50) ist Theologin und Medizinethikerin und leitet das Institut Dialog Ethik in Zürich. Sie ist Expertin für ethische Entscheidungsfindungsprozesse im Gesundheitswesen.

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© Barbara Lukesch