Mit Unterleib und Seele

Gynäkologinnen / 5. November 2003, "Annabelle"

Symbolbild zum Thema Gynäkologie

Die Welt der Gynäkologie hat sich innerhalb der letzten zehn Jahre markant verändert. Dominierten Anfang der Neunzigerjahre die Gynäkologen die Frauenheilkunde noch zu weit über achtzig Prozent, hat sich das Verhältnis seither rasant verändert: Mittlerweile wird jede vierte, bald jede dritte Praxis von einer Frau geführt; deutlich mehr als die Hälfte aller neuen Facharztdiplome (FMH-Titel) geht an Ärztinnen; rund achtzig Prozent der Assistenzärzte und mehr als fünfzig Prozent der Oberärzte in der Frauenklinik des Zürcher Universitätsspitals sind weiblichen Geschlechts. Und für Nachwuchs ist gesorgt, lag doch der Anteil der Medizinstudentinnen an der Universität Zürich im Sommersemester 2003 bei 54,5 Prozent.

Wie lässt sich dieser Trend erklären? Patientinnen legen mehr denn je Wert darauf, von einer Gynäkologin betreut zu werden, weil sie sich von einer Frau grösseres Verständnis versprechen. So erstaunt es nicht, dass Gynäkologinnen, die eine Praxis eröffnen, von Patientinnen regelrecht überrannt werden und schon kurz nach der Eröffnung einen Aufnahmestopp verfügen müssen. Für junge Ärtzinnen bedeutet dies: Sie bewegen sich innerhalb der Gynäkologie auf ökonomisch sicherem Grund. Darüber hinaus sind Teilzeit- und Jobsharing-Anstellungen an den grossen Kliniken zur Selbstverständlichkeit geworden. Roland Zimmermann, Direktor der Klinik für Geburtshilfe am Unispital Zürich, betrachtet es inzwischen als «besondere Herausforderung, gemeinsam mit den jungen Ärztinnen meines Teams deren Karriere zu planen, und zwar unter starker Berücksichtigung ihrer familiären Situation». Unter solchen Voraussetzungen ist es heute also selbst innerhalb der Medizin möglich, dass Frauen Beruf und Familie miteinander verbinden können.

Der Chefarzt ist männlich

Ganz oben allerdings halten die Männer noch immer die Festung. Sie bekleiden mehr als neunzig Prozent der Chefarztpositionen in Gynäkologie und Geburtshilfe, stellen an der Universität Zürich 65 von 66 ordentlichen und 35 von 41 ausserordentlichen Medizinprofessoren. Und verfassen rund neunzig Prozent der medizinischen Habilitationen, die die Voraussetzung für ein Ordinariat oder die Übernahme einer Klinikleitung sind.

Fachleute sind dennoch überzeugt, dass es nur eine Frage der Zeit und des damit einhergehenden gesellschaftlichen Wandels ist, bis auch die ranghöchsten Positionen in der Gynäkologie (und der übrigen Medizin) vermehrt von Frauen übernommen werden. Dazu bräuchte es, sagt Brida von Castelberg, Chefärztin an der Maternité Inselhof Triemli, unter anderem andere Habilitationsverfahren, die nicht nur auf die Liste der publizierten wissenschaftlichen Arbeiten abstellten, sondern zum Beispiel auch die Qualität der Patientinnenbetreuung einbezögen.

Denn insbesondere auf diesem Feld leisten Ärztinnen tatsächlich einen Beitrag, der über die von Männern praktizierte medizinische Behandlung hinausgeht. Viele von ihnen betreiben eine Medizin des Caring, die nicht nur aus der Diagnose einer Krankheit und deren Therapie besteht, sondern zu welcher auch die Fürsorge für den kranken Menschen und der Einbezug seines persönlichen Umfelds gehören.

Von Castelberg ist überzeugt, dass dieser Praxis die Zukunft gehört. Gemäss einer hiesigen Untersuchung wünschen sich die Menschen tatsächlich eine Medizin, die der Kommunikation, der Pflege (und nicht nur der Heilung) und der Gesundheitsförderung grösseres Gewicht beimisst. Die Caring-Medizin räumt den Patientinnen auch ein klares Mitspracherecht ein, ermöglicht individuell angepasste Therapien statt starrer Therapieschemen - und leistet damit auch wieder einen Beitrag zur Senkung der Kosten, denn: «Eine Patientin, die den Nutzen der Therapie einsieht», konstatiert von Castelberg, «wird eher bereit sein, ihre Medikamente zu schlucken, und damit ihre Heilung begünstigen.»

Ärztinnen begehen weniger Kunstfehler

Auch andere Entwicklungen helfen, Kosten zu senken. So ist abzusehen, dass künftig immer häufiger zwei Frauenärztinnen, die Teilzeit arbeiten, die Praxis eines pensionierten Kollegen übernehmen, der sein Leben lang ein Vollzeitpensum absolviert hat. Damit spart die öffentliche Hand rund eine halbe Million Franken, die sie die Eröffnung einer neuen Praxis kosten würde. Ein weiterer Punkt: Eine US-Studie besagt, dass Ärztinnen viermal weniger Kunstfehler machen als ihre Kollegen, weil sie sich deutlich mehr Zeit für das Gespräch am Krankenbett nehmen und deshalb bessere Diagnosen stellen.

Allerdings bringt die Feminisierung der Gynäkologie nicht nur Vorteile mit sich. Zu den Stimmen, die auch die Nachteile zu bedenken geben, gehört Renate Huch, leitende Ärztin an der Frauenklinik des Zürcher Universitätsspitals. Sie befürchtet, dass die Frauenheilkunde Schaden nimmt, weil die jungen Gynäkologinnen nach dem Abschluss ihrer Facharztausbildung oft schnell in die freie Praxis streben und nur ein kleiner Teil von ihnen bereit ist, eine akademische Karriere einzuschlagen. In der Folge blieben kontinuierliche Forschung, Lehre, Qualitätssicherung, aber auch die Arbeit in Verbänden und Kommissionen auf der Strecke. «Eine Disziplin aber, die ohne Forschung auszukommen glaubt», mahnt Huch, «bleibt ohne Fortschritt.»

Wo liegt das Problem? Frauen schaffen es zwar inzwischen, ihre familiären Pflichten und die klinische Ausbildung beziehungsweise ihre Arbeit in der Praxis zu vereinbaren. Die akademische Karriere aber, die zahllose Nachtdienste, Vorträge und Fachpublikationen, Fakultätssitzungen und andere Abend- und Wochenend-Einsätze erfordert, muten sich Frauen deutlich weniger zu als Männer. Schliesslich sind es auch in aller Regel immer noch sie, die die Hauptbelastung der Familien- und Hausarbeit tragen und deswegen nicht so flexibel sind.

Patientinnen im Zentrum

Elisabeth Hauenstein, Mitglied der deutschen Bundesärztekammer in Köln, bringt das Dilemma auf den Punkt: «Wer auf dem Hundertmeterlauf einen Kinderwagen vor sich herschieben muss, ist einfach benachteiligt.» Unabhängig davon seien viele Gynäkologinnen grundsätzlich stärker an der Betreuung der Patientinnen interessiert, erklärt Renate Huch, während ihnen die Analyse und Weiterentwicklung ihres Fachs weniger am Herzen liege. So hat Mario Litschgi, Generalsekretär der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, denn auch grösste Mühe, eine Frau für das SGGG-Präsidium zu finden. «Die Gynäkologinnen konzentrieren sich auf ihre Praxen», seufzt er, «und sind nicht bereit, zusätzliche Verpflichtungen einzugehen.»

Die Frauen kamen, die Männer traten den Rückzug an. Anfang der Siebzigerjahre liessen diese den von radikalen Feministinnen angestimmten Schlachtruf «Stosst die Gynäkologengockel von ihrem Sockel!» noch ungerührt an sich abperlen. Doch seither hat sich die Lage für sie dramatisch verschlechtert. Brida von Castelberg konstatiert: «Gynäkologen müssen nicht nur mit der kränkenden Abkehr vieler Patientinnen zurechtkommen, sondern sie sind zumindest in der freien Praxis auch mit existenzgefährdenden finanziellen Einbussen konfrontiert.»

Männerquote in der Gynäkologie?

Ein Blick in die USA, wo diese Entwicklung schon Jahre früher stattgefunden hat, wird manchen Gynäkologen endgültig entmutigt haben: Seit dem Einzug der Frauen sinken die Gehälter, das Renommee eines einst hochpotenten Berufsstands leidet, und auch seine politische Schlagkraft hat abgenommen.

Angesichts dieser Entwicklungen machen sich die Spitäler Gedanken, wie sie wieder mehr Männer für die Gynäkologie gewinnen können. Soll eine Männerquote eingeführt werden? Will man künftig bei gleicher Qualifikation dem männlichen Bewerber den Vorzug geben? Noch ist nichts spruchreif. Doch auch Chefärztin von Castelberg ist überzeugt, dass Männer in die Frauenheilkunde gehören. Zum einen brächten sie grosses Wissen mit, das in Klinik und Forschung von Nutzen sei; dazu seien sie oft brillante Techniker. Ausser- dem gebe es nach wie vor Patientinnen, die sich ausdrücklich einen Gynäkologen wünschen: «Wenn der Herr Doktor diesen Frauen sagt, alles wird gut», schmunzelt von Castelberg, «dann wird auch alles gut.»


Die Frauen-Ärztin

Ursula Ackermann, Professorin an der Universität Basel, will eine Professur für Frauengesundheit gründen. Sie möchte damit den Bedürfnissen der Frauen in der Medizin gerecht werden.

Ursula Ackermann, Sie behaupten, trotz deutlich gestiegenem Frauenanteil in der Gynäkologie könne man noch lange nicht von einer Feminisierung des Fachs sprechen. Woher rührt Ihre Skepsis?

Heute sind 28 Prozent der Praktizierenden in der Gynäkologie Frauen; diese arbeiten im Durchschnitt weniger Arbeitsstunden pro Woche und sehen weniger Patientinnen pro Stunde als ihre Kollegen, weil sie sich mehr Zeit für die einzelne Patientin nehmen. Das bedeutet, dass höchstens ein Fünftel aller Frauen die Chance hat, zu einer Gynäkologin zu gehen. Unter Feminisierung würde ich verstehen, dass der überwiegende Teil der Gynäkologie in Frauenhand liegt und dass auch die Inhalte wesentlich von Frauen bestimmt werden. Lehre und Forschung werden aber heute von Männern dominiert, und praktisch alle Lehrbücher sind von Männern geschrieben.

Wie hat sich die Dominanz der Männer auf die Gynäkologie ausgewirkt?

Gemäss der Einschätzung vieler Historikerinnen wird bei uns seit Ende des 19. Jahrhunderts eine Gynäkologie praktiziert, die die normalen Lebensphasen der Frauen medikalisiert, ja, teilweise sogar pathologisiert hat.

Was heisst das konkret?

Die Menopause gilt in diesem Denken als krankhaft. Die Pubertät wird als eine Phase angesehen, die pathologische Züge aufweist. Auch die Verlegung sämtlicher Geburten ins Spital und die damit verbundene Zunahme von Eingriffen können die Verschiebung vom Normalen zum Pathologischen illustrieren.

Das sind radikale Ansichten ...

... für die es Gründe gibt. Als ich Ende der Sechzigerjahre studierte, wurden Hodenkrebspatienten nach der Operation selbstverständlich Implantate eingesetzt, um ihre Lebensqualität zu erhalten. Brustkrebspatientinnen hingegen mutete man erschütternde Operationen zu, und kein Mensch dachte an einen Wiederaufbau ihrer Brüste. Erst dreissig Jahre später wurde die Rekonstruktion der Brust überhaupt kassenpflichtig. Oder nehmen Sie Viagra, das innert Kürze durch alle Instanzen ging und dessen Kassenpflichtigkeit nur knapp abgelehnt wurde, währenddem sich bis heute kaum jemand ernsthaft für die Kassenpflichtigkeit der Pille eingesetzt hat.

An einem Medizinerkongress kritisierten Sie die männerzentrierte Gynäkologie ziemlich heftig und warfen ihr Einseitigkeit vor.

Da war ich etwas aufgebracht, aber ich ärgere mich manchmal schon über die einseitige Betrachtungsweise. Nehmen Sie die aktuelle Diskussion rund um die Hormontherapie in der Menopause. Da wird die grösste je durchgeführte Studie vorzeitig abgebrochen, weil klar geworden ist, dass die Frauen, die mit Hormonen behandelt werden, häufiger Brustkrebs beziehungsweise Throm-bosen bekommen. Wie reagiert nun aber die Schweizerische Menopause-Gesellschaft? Sie greift die amerikanische Studie an, indem sie kritisiert, dass die Wirkung der Hormone an zu alten und gesunden Frauen untersucht wurde. Dabei ist diese Studie ja gerade deshalb durchgeführt worden, um endlich Klarheit über die Auswirkungen des präventiven Hormoneinsatzes bei logischerweise gesunden Frauen zu bekommen.

Sie engagieren sich dafür, an der Universität Basel eine Professur für Frauengesundheit und Geschlechterforschung in der Medizin zu gründen. Welche konkreten Ziele verfolgen Sie mit diesem Lehrstuhl?

Mir geht es darum, den Bedürfnissen der Frauen innerhalb der Medizin gerecht zu werden. Das fängt bei den Medikamentenstudien an, die grösstenteils nur an Männern durchgeführt werden, obwohl ihre Resultate an Frauen Anwendung finden. Wie viel allerdings der Stoffwechsel eines Mannes mit dem einer Frau gemeinsam hat, ist mindestens eine Frage wert. Oder nehmen Sie die Beipackzettel der Medikamente, die keinerlei Differenzierung zwischen männlichen und weiblichen Patienten vornehmen. Nun wiegt aber die durchschnittliche Frau 64 Kilo, der durchschnittliche Mann aber 77 - warum, frage ich Sie, sollen beide die gleiche Dosis verschrieben bekommen?

Wer wird diesen Lehrstuhl finanzieren?

Es ist klar, dass die Universität dies zurzeit mangels Geld nicht tun kann. Daher wollen wir eine Stiftungsprofessur einrichten, die sich aus Spendengeldern finanziert. Wir bräuchten fünf Millionen Franken, und es wäre schön, wenn diese Professur, wie das Basler Theater, durch Spenden reicher Baslerinnen geschaffen werden könnte.

Ursula Ackermann-Liebrich (60) ist Professorin an der Universität Basel und Vorsteherin des Instituts für Sozial- und Präventivmedizin. Sie studierte in Basel Medizin und lebte und arbeitete danach während acht Jahren in Afrika, Südamerika und Grossbritannien, wo sie auch den Master of Science in Social Medicine erwarb. Anfang der Achtzigerjahre publizierte sie das Buch «Schweizer Ärztinnen», in dem sie die Situation ihrer Berufskolleginnen analysierte. 1993 wurde sie zur ersten Ordinaria der Medizinischen Fakultät der Universität Basel gewählt.

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© Barbara Lukesch