Mutti rennt, Papi pennt

Heisser Sommer / 4. August 1996, "Sonntags-Zeitung"

Symbolbild zum Thema Familie

Beobachtungen zur Rollenverteilung in Schweizer Schwimmbädern.

Während prominente Väter über die Möglichkeit verfügen, in der "Schweizer Illustrierten" zu erzählen, was sie für ihre Kinder tun, schlägt für Otto Normalverbraucher jedes sonnige Sommer-Wochenende in der Badi die Stunde der Wahrheit: Da können dann auch Herr Müller und Herr Meier einmal öffentlich zeigen, wieviel Einsatz und Engagement ihnen ihre lieben Kleinen nach den langen strengen Tagen der berufsbedingten Abwesenheit wert sind. Doch trotz "neuer Vaterschaft" und veränderter Mann-Frau-Beziehung bieten Strandbäder und Badeanstalten auch in diesen Hochsommertagen das alte, vertraute Bild: Mutti rennt, Papi pennt.

Eine junge Frau, begleitet von ihrer alten Mutter und ihren zwei- beziehungsweise fünfjährigen Söhnen, betritt am Sonntagmorgen gegen zehn Uhr die Badeanstalt am Züri-See. Die Last von mehreren Taschen, einer randvollen Kühlbox, einem Sonnenschirm und einem bereits aufgeblasenen Gummi-Wal zerrt an ihren schmalen Schultern. Erschöpft lässt sie ihr Gepäck sinken und macht das sonntägliche Plätzchen für ihre Lieben parat.

Der Tag hat es in sich. Als auch ihr Gatte gegen 12.30 Uhr, ausgeschlafen und gut erholt, mit seiner Badehose in der Hand, eintrifft, ist Mutti noch keine Minute auf ihrem Frotteetuch gesessen, hat dafür aber ihrem Jüngsten bereits mehrmals lautstark angedroht, ihn in den See zu werfen, falls er nicht endlich mit seinem nervtötenden Geschrei aufhöre. Vati hat gute Laune mitgebracht. Sofort macht er es sich in dem leicht nach hinten geneigten Campingstuhl, aus dem kein Hochkommen mehr ist, bequem und wartet auf das Mittagessen. Im Anschluss an den Kartoffelsalat und die Wienerli braucht er erst einmal ein bisschen Ruhe um zu verdauen.

Dafür ist Mutti gertenschlank

Doch gegen halb drei sitzt er dann mit seiner Frau am Ufer des Sees und schaut seinen Buben zu, die schön spielen. Seine Frau cremt ihm den Rücken mit Sonnenöl ein; für Lukas holt sie noch rasch den bunten Schwimmreifen vom Platz. Da sagt ihr Mann, der aufmerksame Vater: "Fabian, du solltest deine 'Flügeli' anziehen!" Sagt es, - und Mutti ist auf den Beinen. Nicht einmal den Anschein, als wolle er sich womöglich selber erheben, hat Vati sich gegeben. Dafür ist Mutti aber auch gertenschlank.

Das sind nicht alle Muttis in der Badi. Dabei rennen und rackern die meisten ebensoviel wie Fabians und Lukas' Mutter, während ihre Partner (sic!) es problemlos schaffen, an einem Badetag die gesamte Sonntagspresse, dazu den Überhang von der Woche ("Weltwoche", "Facts" etc.) und das eine oder andere Buchkapitel durchzuackern. Vorzugsweise liegend, dabei Frau und Kindern den Rücken zugewandt, schätzen sie es gar nicht, bei der Verrichtung dieser Tätigkeit gestört zu werden. Klebrige Glacehände auf Papis Schultern werden mit Unmut quittiert. Nicht selten schafft es der eine oder andere, seine Kleinen derart unflätig zusammenzustauchen, dass die ganze Badi mithört. Mutti hasst diese Situationen; aufgebracht verlangt sie von ihren Kindern Zurückhaltung: "Ihr seht doch, dass Papi am Lesen ist."

Anschliessend dösen Väter gern, gönnen sich auch einmal ein Sonnenbad oder gucken ihrer Frau wohlwollend dabei zu, wie sie den grossen Kinderwagen in der prallen Mittagssonneüber den holprigen Rasen stösst oder die acht Tage alte Selina aus ihren dreckigen Windeln befreit. Wenn sie ins Wasser gehen, bleiben sie mindestens eine halbe Stunde weg und schwimmen ein schönes Stück. Leistung muss sein. Nachher ist wieder eine Ruhepause angesagt - es sei denn, ein Kollege aus dem Sportverein winkt von der Terrasse des Restaurants.

Sollte Fabian jetzt per Zufall seinen Vati in der Beiz entdecken, hat er gute Chancen, ihm einen Zweifränkler abzuluchsen. Wenn es dem Fünfjährigen dann nach dem Verzehr von zahllosen Coci-Fröschen und "sauren Zungen" speiübel ist, muss wieder Mutti ran und mit ihm auf's Klo. Dabei hatte sie sich doch für kurze Zeit dem Trugschluss hingegeben, dass sich ihr Mann vorübergehend um den älteren Buben kümmert.

Väter haben Grösseres im Sinn

Nun ist allerdings auch jenen Vätern Rechnung zu tragen, die sich hin und wieder dazu hergeben und mit ihrem Nachwuchs spielen. Doch wenn sich Männer ihren Kleinen dann tatsächlich einmal widmen, neigen sie nicht selten zu Masslosigkeit, ja, bisweilen auch Grobschlächtigkeit oder - weit verbreitet - zur publikumswirksamen Bühnenshow. Auf dem Programm: Ein Vater in Aktion.

Beispiel 1: Nach langem Hin und Her und hundertfachem Quengeln ist Vati bereit, mit Martina ein bisschen im Sand zu spielen. Doch in der Regel arten väterliche Spiele in Arbeit aus; aus einem kleinen Sandkuchen, den die Vierjährige sich wünschen würde, wird ein meterlanger Staudamm oder ein ebensolanges Sandkrokodil, das die umstehenden Erwachsenen zu Begeisterungsrufen hinreisst und alle Badi-Rekorde bricht. Väter haben keine Lust, Sandkuchen zu backen. Väter haben Grösseres im Sinn. Nur die kleine Martina steht mutlos neben dem väterlichen Monument.

Beispiel 2 - Variante 1: Gegen Abend lässt sich Fabians Vater endlich dazu erweichen, mit seinem Sohn auf der grossen Wiese Fussball zu spielen. Doch mehr oder weniger ungeübt im Umgang mit einem Fünfjährigen, beginnt der 36jährige nun, den Ball an sich zu reissen, das Kind mit seinen zarten, noch gestabbigen Beinchen problemlos auszutricksen und die Gesundheit seines Sprösslings regelrecht aufs Spiel zu setzen, indem er unkontrolliert harte Schüsse plaziert. Fabian hat nach fünf Minuten die Nase voll und rennt heulend davon. Mutti tröstet ihren Buben; entnervt nimmt Vati wieder auf seinem Campingstuhl Platz: "Man kann machen, was man will. Nichts ist recht!" Das war es dann wohl für den Rest dieser Badesaison.

Variante 2: Auch wenn sich ein Vater dazu durchringt, mit seinen Kindern am "Döggeli"-Kasten zu "tschutten", ist Vorsicht am Platz. Nicht selten neigt er nämlich auch hier zur Kraftmeierei und riskiert mit seinem Einsatz, das Gerät aus den Angeln zu heben. Andere Männer kennen auch beim Rangeln mit ihren Söhnen keine Grenzen und nehmen sie dermassen brutal in den Schwitzkasten, dass den Kleinen Hören und Sehen vergeht. Vati ist nun einmal in jeder Lebenslage Chef im Ring.

Die normalste Sache der Welt

Beispiel 3: Papi, zum Beispiel ein Firmenbesitzer oder Chefarzt, der normalerweise in der Badi Fachpublikationen sichtet, erblickt einen Standeskollegen, der gleichfalls in Begleitung seiner Gattin und seines Nachwuchses fremdes, ungeliebtes Terrain betritt. Und siehe da, welch wundersame Wandlung vonstattengeht. Heute füttert Papi den kleinen Max. Nachher wickelt er "seinen" Dreckspatz. Später steht er - etwas zu angestrengt lächelnd vielleicht - bis zu den Kniekehlen im matschigen Kinderbecken und füllt so ausdauernd wie noch nie Mäxchens Giesskanne mit Wasser.

Der Kollege hat den Ernst der Lage erkannt; er weiss, was es gilt, und hat sich ebenfalls in die Hocke begeben, um mit seinem zweijährigen Töchterchen so liebevoll wie schon lange nicht mehr zu planschen. Das perfekte Vater-Glück - und zwei Mütter, die nicht wissen, wie ihnen geschieht. Doch vordergründig lächeln sie einander zu und tun so, als sei das die normalste Sache der Welt.

Aber wehe, wenn der Kollege mit seiner Familie aus der Badi abzieht. Dann ist die Zeit für Bühnenväter abgelaufen, und Papi liegt wieder versunken in den Jahresbericht auf dem Frotteetuch, müde von der wöchentlichen Arbeit, unansprechbar für seine Lieben. Mutti wäscht Mäxchen, der vor Dreck steht, und zieht das übermüdete und plärrende Kind frisch an. Mutti springt wieder, rennt, packt die Sachen für die ganze Familie zusammen und träumt höchstens noch von Bernhard Russi, der doch neulich in der "Schweizer Illustrierten" gesagt hat, dass es "sein Lebensziel" sei, "Vater zu sein" oder vom Fernseh-Moderator Frank Baumann, der gleichenorts verraten hat, dass er "zuhause zu 250 Prozent" für seine Kinder da sei.

Das sind noch Töne. Doch Mutti, geeicht vom Alltag, weiss: Das nächste Sommer-Wochenende kommt bestimmt.

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© Barbara Lukesch