"Meine Erfahrungen als Prostituierte habe ich abgeschüttelt wie eine Ente das Wasser"

Aussteigerinnen / 24. August 1996, "Das Magazin"

Symbolbild zum Thema Sexualität

Gespräch zwischen den beiden ehemaligen Prostituierten Domenica Niehoff und Brigitte Obrist zum Thema "Prostitution und Ausstieg".

Domenica Niehoff wurde 1945 in Köln geboren. Bis zu ihrem vierzehnten Lebensjahr lebte sie in einem katholischen Waisenhaus. Mit 17 Jahren lernte sie einen 25 Jahre älteren Mann kennen, mit dem sie während zehn Jahren zusammen war. Als er sich das Leben nahm, stand die damals 27jährige auf der Strasse und stieg in die Prostitution ein. Dank zahlreicher Auftritte in den Medien wurde sie zur bekanntesten Hure Deutschlands. Heute lebt sie in Hamburg und ist als Streetworkerin in der Ausstiegshilfe tätig.
Brigitte Obrist wurde 1963 in Laufenburg AG geboren. Nach dem Besuch der Bezirksschule arbeitete sie im Service und wurde als Barmaid erstmals mit der Prostitution konfrontiert. Ihr erster Kunde zahlte ihr 1000 Franken für einmaliges Masturbieren und machte ihr den Einstieg damit leicht und verlockend. Sie hat sich sehr bald auch öffentlich zu ihrem Beruf und den damit verbundenen Problemen geäussert. Heute lebt sie in einem Dorf im Kanton Bern und arbeitet bei der Aidshilfe Schweiz als Projektleiterin.

Domenica Niehoff und Brigitte Obrist, welche Bezeichnung für Ihren ehemaligen Beruf benützen Sie?

Domenica Niehoff: Als ich eingestiegen bin, hatte ich mir das ganze romantischer erträumt, als es dann war, und fand, Hure sei doch ein schönes altes Wort - also nenne ich mich Hure. Später rief mich dann mal eine Alt-Hure an und sagte: Domenica, sag bitte nie wieder am Fernsehen Hure, da zucke ich jedesmal zusammen. Sprich doch in Zukunft nur noch von Kurtisanen. Ich sage: Nee du, das klingt ja wie Kurt und Sahne. Andere schlugen Liebesmädchen vor, das ist doch lächerlich, denn liebe Mädchen sind wir nun wirklich nicht. Und Liedesdame passt auch nicht, denn mit Liebe hat unsere Arbeit ja auch nichts zu tun. Prostituierte klingt so klinisch und behördlich. Neuerdings bin ich dafür, dass wir von Sexarbeiterinnen reden.

Brigitte Obrist: In der Schweiz sagen wir political correct "Sexworker", das ist sowohl geschlechts- wie auch wertneutral. Unter Kolleginnen nennen wir uns Hure oder auch mal Nutte.

Niehoff: Nutte ist furchtbar, das regt nicht nur mich, sondern meine ganze Zunft auf. Denn unter Nutten verstehen wir diejenigen Frauen, die nicht zu ihrer Arbeit stehen, sondern heimlich anschaffen, aber trotzdem schön Geld dafür nehmen. Wir hatten hier in Deutschland eine Gruppe, die nannte sich "Nutte und Nüttchen": Zwei "Studierte", aus reichem Elternhaus, die mal eben mit dem Arsch wackeln. Das sind keine richtigen Huren. Kein Wunder, nennen sie sich "Nutte und Nüttchen".

Obrist: Ich komme übrigens nicht aus einem reichen Elternhaus, Domenica...

Niehoff: ... da bin ich ja froh...

Obrist: Ich bin ein Mädchen vom Land, eine Bauerntochter, und Zürich war ursprünglich für mich Sodom und Gomorrha...

Niehoff: Die Sünde?

Obrist: Genau.

Niehoff: Du bist also katholisch. Bin ich auch - streng katholisch.

Obrist: Als ich in Zürich mit dem Anschaffen begann, sah ich in jedem blonden Mann einen Zuhälter und hatte nachts auf der Strasse Angst. Studiert habe ich übrigens auch nicht...

Niehoff: Ich doch auch nicht, höchstens Lebenserfahrungen ...

Obrist: Der grosse Unterschied zwischen uns liegt, denke ich, darin, dass ich einer anderen Generation angehöre, die es um einiges leichter hatte als du seinerzeit.

Niehoff: Ich habe tatsächlich noch erlebt, dass man Frauen ihre Kinder weggenommen hat, einzig und allein weil sie Huren waren.

Domenica Niehoff, Sie werden dieses Jahr 51 und sie, Brigitte Obrist, sind 33. Wie alt waren Sie, als Sie in die Prostitution eingestiegen sind?

Obrist: Anfang zwanzig.

Niehoff: Ich war 27. Mein Knackpunkt-Erlebnis allerdings hatte ich schon mit 14. Meine Mutter, eine Zockerin und Ganovenbraut, erwischte mich am hellichten Tag bei meinem ersten Kuss, schlug mich und schrie: Hure! Hure!

Obrist: Mir ist etwas ganz ähnliches passiert. Ich war zwölf Jahre alt und hatte einen Schulfreund. Mehr als Händchenhalten war da allerdings nicht. Als ich zu Hause stolz von meinem "Schatz" erzählte, hat meine Mutter mir eine geknallt und geschrien: "Du wirst nochmal auf dem Strich landen, du bist ein Hürchen!"

Niehoff: Na, wunderbar!

Obrist: Bei mir kam noch ein zweites Erlebnis dazu. Ich wurde an einem Karnevalsanlass vergewaltigt. Als ich von der Polizei nach Hause gebracht wurde, schlug mein Vater mich und sagte, er wolle künftig nichts mehr mit mir zu tun haben. Meine Mutter schrie: "Ich hab's ja gewusst, dass du irgendwannmal auf dem Strich landen wirst." Im Grunde genommen habe ich mit der Prostitution nur das gemacht, was meine Mutter immer von mir erwartet hat.

Niehoff: Meine Mutter hat ja wenigstens vor ihrem Tod noch umgedacht und sich wunderbar mit mir versöhnt. Sie hat noch zu mir gesagt: "Dass du Hure geworden bist, ist nicht schlimm. Aber dass du nichts gespart hast, das ist wirklich schlimm."

Obrist: Als meine Mutter wusste, dass ich anschaffe, ist sie nicht einmal mehr in meine Privatwohnung gekommen. Und dann wollte sie auch noch den Kontakt zu meiner jüngeren Schwester unterbinden - aus Angst, ich könne sie anstecken.

Niehoff: In unserer Familie gab es ja bereits eine Hure, meine Tante Rita, die war stadtbekannt. Ich weiss eigentlich gar nicht, warum sich meine Mutter mir gegenüber zunächst so ablehnend verhalten hat. Sie hatte wahrscheinlich Angst, dass ich auch so untendurch müsste wie sie. Sie hat mir ja auch gedroht: Wenn du ein Kind kriegst, trete ich es dir aus dem Bauch. Ein schlimmer Satz, der Folgen hatte: Ich bin mein Leben lang nie schwanger geworden.

Was verstehen Sie beide unter einer Hure, mit der Sie sich identifizieren würden?

Niehoff: Eine Hure ist eine professionelle Frau, die weiss, was sie will, die ohne Druck arbeitet, die die Männer auf die Matte legt, eine Wohnung, Klamotten, Schmuck hat, die reisen kann und - ganz wichtig - die zuhause bleiben kann, wenn sie krank ist. Eine professionelle Hure ist nicht verelendet.

Obrist: Für mich heisst professionelles Anschaffen primär, dass sich eine Frau von ihrem Kunden abgrenzt, dass sie ihn kontrolliert, nicht aus Liebe, sondern wegen dem Geld arbeitet, dass sie im sexuellen Sinn nicht bei der Sache ist. Unprofesionell sind diejenigen, die sich auf emotionale Beziehungen einlassen, die einen Kunden zum Beispiel küssen...

Niehoff: Dann habe ich aber zum Teil unprofessionell gearbeitet...

Obrist: Hast du Kunden geküsst?

Niehoff: Nein, geküsst nicht. Aber ich habe meine Grenzen manchmal fallen lassen und mich auch in den einen oder anderen verliebt. Warum auch nicht? Ich war doch alleinstehend. Gut, in solchen Situationen habe ich jeweils gesagt: Komm, wir gehen weg aus dem Puff.

Obrist: Dann ist es aber für mich immer noch professionell, weil du die Kontrolle behalten hast.

Wie lange und in welchem Rahmen haben Sie angeschafft?

Obrist: Ich habe neun Jahre angeschafft und in der Zeit eigentlich alles ausprobiert: auf der Strasse, zu Hause, als Callgirl, das Männer zum Essen begleitet. Mehrheitlich habe ich allerdings in Studios gearbeitet, denn in der Schweiz gibt es ja keine Bordelle. Am Schluss hatte ich gemeinsam mit einer Freundin mein eigenes Studio und war Puffmutter auf dem Land.

Niehoff: Ich habe siebzehn Jahre angeschafft. Die ersten dreieinhalb Jahre war ich auf der Strasse und hatte einen Zuhälter. Nachdem ich den losgeworden bin, hatte ich über zehn Jahre lang mein Zimmer in der Herbertstrasse auf St.Pauli. Von Zuhältern wollte ich nichts mehr wissen. Die konnten baggern, so viel sie wollten, mich umwerben: Ach, Domenica, du bist so toll. Da lief nichts mehr. Brigitte, was mich übrigens noch interessieren würde: Wieviel Geld hast du nach neun Jahren gespart?

Obrist: 18 000 Franken. Und du?

Niehoff: Du wirst lachen, ich hatte nach siebzehn Jahren in etwa das Doppelte: rund 35 000 Mark. Gut, die Schweizer Franken sind ein bisschen mehr wert.

Obrist: Und ich habe in den letzten fünf Jahren nur noch zwei, drei Tage pro Woche gearbeitet.

Niehoff: Also stimmt es wirklich, dass man sich in der Schweiz mit der Prostitution eine goldene Nase verdienen kann.

Obrist: Wenn das Geschäft gut läuft, ja. Ich will aber nochmal rasch erklären, warum ich ohne Zuhälter gearbeitet habe. Mich wollte gar keiner, weil ich denen - genau wie viele Frauen meiner Generation - zu selbstbewusst und emanzipiert war. Sie haben gemerkt, dass sie bei mir mit ihrem Macho-Schmus nicht mehr landen können. Und sowieso wäre es mir nicht im Traum eingefallen, so einen Typen finanziell auszuhalten.

Niehoff: Ich habe mir hin und wieder noch einen Spass draus gemacht, mir einen Zuhälter für eine Nacht zu kaufen. Und weisst du, wozu? Zum Tanzen. Und wie die getanzt haben. Für 1000 Mark habe ich die Puppen tanzen lassen. Das war meine persönliche Rache, richtig gemein und sadistisch. DasGeld war mir egal - Hauptsache, sie haben getanzt.

Nun sind Sie, Brigitte Obrist, vor drei Jahren ausgestiegen und Sie, Domenica Niehoff, bereits vor sechs Jahren. Wie kam es dazu?

Obrist: Der Entscheid zum Ausstieg ist bei mir genau an meinem 29. Geburtstag gefallen. Ich hatte an jenem Tag in Graz einen Vortrag zum Thema "Prostitution als legaler Missbrauch von Frauen" zu halten. Im Umfeld dieser Veranstaltung wurde auch eine Ausstellung zu sexueller Ausbeutung und Gewalt gegen Frauen gezeigt. Nachdem ich diese Ausstellung gesehen hatte, bin ich mit dem Zug in die Schweiz zurückgefahren und habe während zehn Stunden geheult wie ein Schlosshund. Auf einen Schlag ist die Erinnerung an meine Vergewaltigung, die ich jahrelang verdrängt hatte, wieder in mir aufgebrochen. An diesem Tag, das war im März, habe ich dann auch beschlossen, dass ich Ende Jahr mit der Prostitution aufhören werde. Ich hatte überhaupt das erstemal ein Gefühl für meinen Körper bekommen, nahm ihn als Teil von mir und nicht länger als Fremdkörper wahr und wusste: Ich muss aussteigen.

Niehoff: Mein Ausstieg ist anders gelaufen, ganz anders. Ich hatte immer davon geträumt, eines Tages einen Salon zu eröffnen, mit netten Leuten, schönen Bildern, Klavier, in dem ich selber nicht mehr anschaffen würde. Aber alles kam anders. Gemeinsam mit Hamburger Sozialarbeiterinnen hatte ich ja jahrelang lautstark dafür gekämpft, dass endlich Stellen für ehemalige Prostituierte geschaffen werden, die als Streetworkerinnen Ausstiegshilfe machen sollten. Ich hatte dabei - wie gesagt - nie an mich gedacht. Doch als dann endlich nach ewigem Hin und Her zwei Stellen von der Stadt bewilligt wurden, bestürmten mich die Sozialarbeiterinnen und riefen: Du musst es machen, Domenica, du bist ein Vorbild. Was sollte ich tun? Gut, habe ich gesagt, für ein Jahr mache ich es, und dann gehe ich zurück in die Prostitution. Von wegen. Mittlerweile mache ich das sechs Jahre. Obrist: Du arbeitest also mit den Betroffenen selber.

Niehoff: Ich betreue Drogenabhängige mit Abszessen, mit epileptischen Anfällen, mit Aids, Aussteigerinnen, die Dämonen sehen und Stimmen hören, HIV-infiziert und obdachlos sind, die - auf Deutsch gesagt - verrottet sind. Ich bin in das Grauen gekommen, habe meine ganzen Ersparnisse in diese Arbeit gesteckt und bin Tag für Tag fünfzehn Stunden auf der Strasse herumgerannt. Ich habe den Mädchen einen Stammtisch eingerichtet, für den ich jeden Monat tausend Mark bezahlt habe. Verdienen tue ich zweieinhalb tausend. Ans Aufhören ist nicht zu denken, denn ich habe die kranken Menschen mit zu mir nach Hause genommen und betreue sie teilweise auch bei mir.

Obrist: Das könnte ich nicht. Rein aus Selbstschutz musste ich mich gegen die Arbeit mit den Betroffenen abgrenzen. Ich habe ja schon bei der Aidshilfe Schweiz gearbeitet, als ich noch angeschafft habe, und damit meinen beruflichen Grundstein für die Zeit nach dem Ausstieg gelegt. Ich habe auch als Streetworkerin mit Drogenprostituierten und ausländischen Frauen zu tun gehabt. Aber irgendwann ist mir ihre Not, ihr Leiden zu nahe gegangen, und ich habe entschieden, mich auf die konzeptionelle Arbeit zu konzentrieren. Heute bin ich als Projektleiterin tätig.

Sie haben mit der Prostitution einen Beruf aufgegeben, den Sie beherrschten, dem Sie Ihr finanzielles Auskommen, aber auch Ihre soziale Identität verdankten. Hatten Sie keine Existenzängste, als Sie sich für Ihr neues Leben entschieden?

Niehoff: Und ob.

Obrist: Drei Monate, bevor ich ausgestiegen bin, wollte ich mich umbringen. Ich bin in ein Loch gefallen und habe mich gefragt: Was kannst du denn, Brigitte? Ich hatte ja nichts vorzuweisen, keine Papiere, keine Diplome, und in der Schweiz zählt nur, was man schriftlich belegen kann, und nicht, was jemand wirklich kann.

Niehoff: Das ist doch in Deutschland genauso. Ein paar Wochen vor meinem Ausstieg habe ich mich hingekniet und zu meiner Mutter im Himmel gebetet: Anna, hol mich. Anna, hol mich. Bei mir kam noch folgendes dazu. Ich hatte drei Kolleginnen in meiner unmittelbaren Nähe, drei Dominas, und von denen bin ich in der letzten Zeit regelrecht gequält und tyrannisiert worden. Die hatten was zu vertuschen und hatten Angst, ich würde alles ausplaudern. Was ich ja niemals gemacht hätte.

Obrist: Ich habe sicher ein ganzes Jahr gebraucht, um mein Selbstbewusstsein wieder aufzubauen. X-mal hat mir ein Teil meines neuen Umfeldes ja auch zu verstehen gegeben: Das kannst du nicht. Das hast du nicht gelernt. Das machst du vom "Technischen" her falsch. Einer ehemaligen Prostituierten gesteht man keine Fachkompetenz zu. Und das, obwohl ich Prostituierten-Projekte betreue und eigentlich d i e Fachfrau bin, die mit Freiern zu tun gehabt hat und die Szene am besten kennt.

Niehoff: Soll ich dir mal sagen, Brigitte, wie mich meine neuen Kolleginnen, die Sozialarbeiterinnen, behandelt haben? Boykottiert, verunglimpft, ausgegrenzt, angegriffen haben sie mich. Sie haben mich nach wie vor als Hure behandelt und nicht ernstgenommen. Es hat ihnen nicht in den Kram gepasst, dass ich keine "Studierte" war und trotzdem genauso viel wie sie verdiente. Da habe ich gesagt: Das ist ja allerhand. Erst bewegt ihr mich zum Ausstieg - und dann das. Schämt ihr euch denn nicht? Ich mache diesen Job nicht des Geldes wegen. Und ich habe eine Lebenserfahrung, die auch nicht zu verachten ist. Mit wem reden denn die Drogenprostituierten über sexuellen Missbrauch und solche Sachen? Sicher nicht mit euch "Studierten", die angeekelt weggucken, wenn es ans Eingemachte geht. Sondern mit mir. Jawohl.

Obrist: Der Ausstieg war für mich emotional schlimmer als alles, was ich in der Prostitution erlebt habe.

Niehoff: Wenn ich gewusst hätte, auf was ich mich da einlasse, wäre ich niemals ausgestiegen. Mir ging es doch vorher besser. Ich hatte Geld, konnte machen, was ich wollte, war unabhängig, hatte nach der Arbeit mein Vernügen.

Obrist: Was mich auch so aufgeregt hat, war die Erwartungshaltung der Leute: Jetzt bist du ausgestiegen, jetzt hat es dir gefälligst gut zu gehen.

Niehoff: Das kenne ich auch. Huch, waren die alle stolz und haben sich gegenseitig auf die Schultern geklopft: Wir haben eine Hure anständig gemacht. Das war das Allerschärfste. Da kamen die feinsten Leute zu mir, an Vernissagen oder so, und es hiess: Ist es nicht grossartig, dass wir Domenica jetzt solide gemacht haben. Und jetzt kriegt sie sogar noch Geld vom Staat für ihren neuen Job.

Obrist: Nur schon die Wortwahl ist so verräterisch. Ob ich denn keine Angst hätte, rückfällig zu werden, fragt man mich gern. Mein Gott, ich war doch nicht süchtig, ich habe bloss einen Beruf ausgeübt und eine Dienstleistung angeboten, nach der übrigens eine enorme Nachfrage in dieser Gesellschaft besteht.

Der Volksmund geht ja davon aus: Einmal Hure, immer Hure.

Niehoff: Das ist eine Unverschämtheit.

Obrist: Und es stimmt auch nicht. Ich bin nicht mehr käuflich. Mein Körper ist nicht mehr zu kaufen, meine Dienstleistungen sind nicht mehr zu haben. Was natürlich bestehen bleibt, ist die Angst der Freier vor uns. Ich bin zwar nicht länger Prostituierte, er aber ist nach wie vor Freier - und ich könnte ihn ja erkennen. Das macht uns so bedrohlich. Und dafür gehören wir bestraft. Schon mein Vater hat in dem Moment, als er erfuhr, dass ich anschaffe, zu mir gesagt: Du weisst hoffentlich, dass du jetzt ein Leben lang gestraft bist. Er hatte recht. Als Hure hast du ein Leben lang einen Stempel auf der Stirn.

Niehoff: Und wer - wie wir - dann auch noch in die Medien geht, ist besonders stigmatisiert. Wo hätte ich denn nach dem Ausstieg noch arbeiten können? Abgesehen davon, dass ich keine Lust gehabt hätte, mich bei Siemens oder beim Otto-Versand belästigen und belachen zu lassen, hätte mich ja gar keine Firma genommen. Sie? Um Gottes Willen. Da gehen die Türen zu.

Obrist: In der Schweiz ist es natürlich noch schlimmer, weil das Land so klein ist. Die Chance, dass dich ein ehemaliger Kunde wiedererkennt, ist viel grösser. Gut, ich habe ja nie dieses Doppelleben geführt, sondern mich sehr bald einmal geoutet. Ich wollte reinen Tisch machen. Damit war aber auch klar, dass ich nach dem Ausstieg ähnlich wie du, Domenica, nirgendwo eine Stelle bekommen würde.

Ist das Thema Prostitution für Sie heute erledigt?

Niehoff: Ich muss Ihnen ehrlich sagen, Sehnsucht nach der Hurerei habe ich nicht. Da kann ich mir was Schöneres vorstellen. Ich hatte einen ehemaligen Freier eine zeitlang als Chauffeur beschäftigt. Dann hat der angefangen, mich zu beglotzen und zu begieren und wollte als Entgelt für die Fahrerei plötzlich noch eine Nacht mit mir. Den habe ich rausgeschmissen. Ja, soll ich es denn auch noch mit dem Bäcker und dem Gemüsemann machen? Dann gehe ich wirklich lieber wieder ganz in die Prostitution zurück.

Obrist: Zurückgehen würde ich nicht. Als Beruf ist die Prostitution für mich erledigt. Aber ich will auch nicht in den Service zurück. Ich habe es satt, irgendwelchen Männern zu dienen. Trotzdem wird mich das Thema Prostitution ein Leben lang beschäftigen. In den neun Jahren habe ich so viel erlebt und auch eine Menge gelernt, da wäre es doch absurd, das Thema von jetzt an ad acta zu legen. So im Sinne vieler Leute, die von mir erwarten: Jetzt ist sie ausgestiegen, jetzt soll sie gefälligst auch nicht mehr davon reden. Andererseits führen dieselben Leute alles, was ich heute mache oder sage, darauf zurück, dass ich einmal angeschafft habe. Egal, was ich zum Beispiel über Männer sage - prompt heisst es: Du hast als Hure halt schlechte Erfahrungen gemacht. Geht eine Liebesbeziehung bei mir kaputt, sagt mir der Arbeitskollege: Du spiegelst halt den Männern ihre dunkle weibliche Seite und machst ihnen Angst.

Das ist ja nun ein Thema, das sicher bei vielen Leuten die Phantasie anregt. Ist es denn nicht tatsächlich schwieriger, als ehemalige Prostituierte Liebesbeziehungen einzugehen?

Obrist: Da bin ich nicht sicher. Es gibt ja viele Frauen, die glückliche Partnerschaften haben. Ich glaube, dass sich viele Männer nicht auf mich einlassen, weil ich ihnen zu stark oder selbstbewusst bin. Klar, gibt es auch die Reiheneinfamilienhaus-Typen, die in dem Moment, in dem ich mich in sie verliebe, sagen: Es ist ja ganz toll mit dir, aber eigentlich möchte ich eine andere Frau, weisst du, eine Frau zum Heiraten und Kinderhaben. Ja, und da sind sie bei mir momentan wirklich an der falschen Adresse.

Niehoff: Ich bin nun seit über zehn Jahren alleinstehend, und der Verzicht auf eine Partnerschaft und Kinder ist der hohe, ich betone, der sehr hohe Preis, den ich für meine Bekanntheit bezahle. Ich bin nämlich ein bisschen bekannter als du, Brigitte. Mich kennt man nicht nur in Deutschland, mich kennt man auch in der Schweiz, in Italien, in Spanien. Wer sich auf mich einlässt, lässt sich öffentlich auf die Konfrontation mit der Hure ein - und so stark ist kein Mann, dass er das täglich ertragen würde. Daher sind die Männer total von mir abgerückt. An eine Beziehung ist nicht zu denken.

Bereuen Sie es, sich dermassen in den Medien exponiert zu haben?

Niehoff: Ich bereue überhaupt nichts. Es hat mir ja zunächst auch geschmeichelt, in den Medien so viel Beachtung zu finden. Da ich allerdings die erste Hure in Deutschland war, die sich geoutet hat, bin ich auch verbraten und verkauft worden. Es ist so schmutzig über mich geschrieben worden, dass ich mich manchmal geschämt habe, in die Stadt zu fahren. Mich erkennt ja jeder sofort auf Grund meiner Statur und meiner Frisur. Der Mann auf der Strasse hat mich verunglimpft und auf dreckigste Art angemacht. Wildfremde Frauen haben über mich laut gelacht. Ja, die Medien haben meine Privatsphäre total versaut. Das ist so.

Obrist: Ich hatte es diesbezüglich einfacher, weil vor mir schon Prostituierte wie Dora Koster oder Mischa von S. an die Öffentlichkeit gegangen waren. Ich konnte von ihnen lernen und hatte bessere Möglichkeiten mich zu schützen.

Niehoff: Mein Wunsch, auch wenn das wie ein Pastor klingt, wäre, dass man mich, bitte schön, endlich auch als Mensch anerkennt. Ich war doch keine 24-Stunden-Hure.

Obrist: Das kenne ich auch, Domenica. Mich haben auch schon Leute am Stammtisch angepöbelt: "Scheisshure. Und jetzt wirst du auch noch von unseren Steuergeldern bezahlt." Und wenn ich vor irgendeinem Gremium rede, weiss ich doch ganz genau, dass mich nach wie vor alle auf die Prostituierte reduzieren. Darum ist es ja für mich auch so wichtig, den Ausstieg zu schaffen. Ich will beweisen, dass man als ehemalige Prostituierte intelligent sein kann, den Ausstieg schaffen und in einem anderen Beruf Erfolg haben kann. Aber dieses ewige Beweisenmüssen erschöpft einen auch und macht müde.

Niehoff: Erzähl mir nichts von Erschöpfung. Das soziale Elend und meine jetzige Arbeit haben mir den letzten Orgasmus geraubt. Ich hatte in der Prostitution eine bessere Körperlichkeit als jetzt. Mein Körper und meine Sexualität gehören nicht mehr mir. Ich bin total abgearbeitet.

Obrist: Das bin ich auch. Aber der Bezug zu meinem Körper und die Möglichkeit, guten Sex zu haben, sind mir geblieben. Ich habe mich als Prostituierte immer systematisch auf der körperlichen Ebene abgegrenzt und daher ist auch meine eigene Sexualität nicht berührt worden.

Niehoff: Im Gegensatz zu dir habe ich bei Freiern Orgasmen gekriegt...

Obrist: Das heisst ja nicht, dass ich nicht auch einmal einen Orgasmus bei einem Freier bekommen hätte.

Niehoff: Ich dachte nur, nachdem was du eben gesagt hast...

Obrist: Um genau zu sein: Ich habe alle Schaltjahre mal bei einem Freier einen Orgasmus bekommen, der die Qualität eines Niesanfalls hatte.

Niehoff: Als ich das mit den Orgasmen das erstemal öffentlich zugegeben habe, bin ich heftig angegriffen worden. Damals galt das noch als Sünde.

Hatte Ihr Ausstieg eigentlich irgendetwas mit Ihrem jeweiligen Alter zu tun?

Niehoff: Nein, überhaupt nicht. Klar musste ich mir damals anhören: Domenica steigt aus, weil sie zu alt ist und nichts mehr verdient. Das Gegenteil war der Fall: Am Schluss habe ich mehr verdient als am Anfang, weil die Freier meine Erfahrung und Professionalität schätzten. Die waren ja richtig scharf auf eine erfahrene Hure; immer nur junge Hühner wollten sie gar nicht. Mit der Zeit ist die Arbeit einfach langweilig geworden; der Reiz war weg. So gesehen bin ich fünf Jahre zu lang auf meinem Stuhl in der Herbertstrasse gesessen.

Obrist: Ich habe auch gewisse Ermüdungserscheinungen gespürt. Ich hatte es mit der Zeit satt, irgendeinem Trottel, der einen weit tieferen IQ als ich hatte, ständig attestieren zu müssen, dass er der Grösste sei. Ewig musst du den Kunden nach dem Mund reden...

Niehoff: Nee, nee, da kennst du mich nicht. Das hätte mir noch gefehlt. Bei mir haben die Kunden Feuer gekriegt.

Obrist: Ich hatte auch genug davon, mich für siebzig Franken auszuziehen, einen Typen zu massieren, bis ich den Krampf im Unterarm hatte und mir dabei noch sein geiles Geschwätz anzuhören. Erst nach dem Ausstieg habe ich gemerkt, dass ich die Nähe der Leute kaum noch ertragen habe, dass ich nicht mehr Bahn- und Tramfahren mochte, weil ich regelrecht menschenscheu geworden bin.

Niehoff: Die Erfahrungen aus der Prostitution habe ich abgeschüttelt wie eine Ente das Wasser. Freiern, die mir nicht gepasst haben, habe ich die Meinung gegeigt. Männer, die gestunken haben, habe ich aus vier Meter Distanz behandelt. Einen Orgasmus hatten sie trotzdem. Wunderbar. Was ich nicht so leicht abschüttle, weil es mir menschlich viel näher geht, ist die Sozialarbeit. Dafür hat sie mir eine Ersatzfamilie gebracht und reinigt meine Seele; ich spüre, wie meine Seele sauberer wird, wie der alte Müll von mir abfällt. Prostituierte sind ja die Mülldeponie der Gesellschaft.

Obrist: Prostituierte sind tatsächlich so etwas wie Sündenböcke, auf die sich alles Negative projizieren lässt.

Apropos Familie. War bei Ihnen, Brigitte Obrist, denn der Ausstieg nicht mit dem Wunsch verbunden, irgendwann einmal eine Familie zu gründen?

Obrist: Wer geglaubt hat, dass ich mit dem Ausstieg nun auch meine Weltsicht um 180 Grad drehe und bürgerlich im Denken werde, hat sich getäuscht. Ich bin immer noch unkonventionell und lege grossen Wert auf meine Unabhängigkeit. Das heisst, dass ich mir Kinder im Rahmen einer Kleinfamilie nur schwer vorstellen kann. Eher innerhalb einer Sippe. Aber - wie gesagt - zur Zeit fehlt es ja auch noch an einem geeigneten Partner.

Niehoff: Ja, ja, die Männer. Als ich noch angeschafft habe, bin ich mit den Männern viel unbelasteter umgegangen. Mittlerweile merke ich, dass ich sie auch im privaten Bereich taxiere. Das gefällt mir gar nicht. Gut, als Hure ist man natürlich im Taxieren geübt. Ich sehe natürlich jedem Mann an, ob er überhaupt ein Mann ist, was er für einen hat, wie gross, wie klein, wie dünn, wie dick. Ich weiss sogar, wie er sich im Bett verhält. Das spüren die Männer, dass ich die Macht habe, sie zu durchschauen. Das hält sie natürlich auch auf Distanz.

Wie haben Ihre Familien reagiert, als sie von Ihrem Ausstieg erfahren haben?

Obrist: Meine Familie hat überhaupt nicht reagiert. Für meine Eltern hat sich nichts geändert. Mein Vater redet sowieso selten; und für meine Mutter ist alles beim Alten geblieben.

Niehoff: Nach dem Ausstieg kamen die Leute und strahlten mich an: Wenn Ihre Mutter noch leben würde, hiess es, wäre sie doch jetzt sicher stolz auf Sie. Von wegen, meine Mutter, die alte Zockerin, hätte mich aus der Sozialarbeit weggejagt, wenn sie gesehen hätte, wieviel Herzblut, Geld und Körperlichkeit ich da hinein stecke. Sie hätte gesagt: Um Gottes willen, Kind, geh sofort wieder ins Puff und verdien ordentlich Geld.

Obrist: Meine Mutter hat mich stets als Vorwand benutzt, um leiden und jammern zu können. So gesehen ist es eigentlich egal, welchen Beruf ich ausübe...

Niehoff: Und wenn du Blumenverkäuferin wärst?

Obrist: Vergiss es. Ich bin Hure geworden und werde das in ihren Augen auch immer bleiben.

Niehoff: Das sind die Selbstgerechten. Grauenhaft.

Haben Sie noch Kontakte und Freundschaften aus der "alten" Zeit?

Niehoff: Nein. Wenn man aussteigt, steigt man aus. Ich werde auch nicht mehr viel eingeladen. Es gibt zu viele Freier und Huren, die Angst davor haben, dass man sie outen könnte.

Sind Sie denn aber als ehemalige Prostituierte nicht auch sehr faszinierend für einen Teil der Leute?

Obrist: Doch. Dann werde ich zum Paradiesvogel, auf den man sämtliche sexuellen Phantasien projiziert, die man selber nicht auszuleben wagt. Dann stehe ich stellvertretend für das grosse Abenteuer, für alles Verbotene, das sowieso reizt.

Niehoff: Zu der Zeit, als ich eingestiegen bin, war Prostitution ja das Allerletzte. Dann war es nur noch das Vorletzte und heute tun mindestens viele so, als sei es nicht mehr das Letzte. Plötzlich heisst es: Huren können ja auch toll sein, Huren können ja auch denken, Huren können ja sogar essen und reden. Da wurdest du plötzlich mit Einladungen bombardiert - weil sie in uns, wie Brigitte sagt, den Paradiesvogel sahen.

Obrist: Und endlich kann man eine vom Fach alles fragen, was man schon immer wissen wollte. Unter Garantie kommt auch die Frage, ob ich überhaupt noch Gefühle habe. Als wäre ich ein Stück Seife, das sich abnützt.

Niehoff: Das kenne ich. Mich regt am meisten auf, wenn Leute, die mich verletzt oder traurig antreffen, sagen: Was ist denn mit dir los, Domenica? Das musst du doch aushalten, du warst doch fast zwanzig Jahre Hure. Als wenn meine Seele in dieser Zeit zu Stein geworden wäre.

Obrist: Genau diese Vorstellung der Leute macht mich auch heute noch, drei Jahre nach dem Ausstieg, kaputt. Sie haben die fixe Idee, dass ich als ehemalige Hure abgebrüht sein müsste und dass sie mich deswegen auch abgebrüht behandeln dürfen. Manchmal habe ich Angst, angesichts solcher Kälte wirklich gefühlsmässig abzusterben. Dieses ewige Beweisenmüssen, dass ich nicht so bin, wie sie mich sehen, erschöpft mich stark.

Sie beide rauchen trotz starker Bronchitis sehr viel.

Niehoff: Ist keine Hurenkrankheit.

Obrist: Rauchen hat immer etwas mit Stress zu tun.

In Ihrer Biographie, Domenica Niehoff, machen Sie auch keinen Hehl aus Ihrem früheren Alkoholkonsum.

Niehoff: War schön. Ich war ein Effekttrinker. Wenn ich mit einem Glas Wasser besoffen gewesen wäre, hätte ich Wasser getrunken. Ich mochte Alkohol gar nicht, ich mochte nur den Effekt. Da wurde ich angstfrei, bin auf jeden los und konnte mich besser auseinandersetzen.

Ihre Biographie, Domenica Niehoff, liegt vor...

Niehoff: Die ist doch beschissen. Ich habe ja nicht mal das Manuskript vorher lesen dürfen. Nach dem faulen Ei muss ich nochmal was Richtiges machen.

Obrist: ... und meine Biographie ist bei der vielen Arbeit liegengeblieben. Es existieren bisher hundert Seiten, und ich habe fest vor, das Buch, ergänzt um meine Erfahrungen beim Ausstieg, fertigzuschreiben.

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© Barbara Lukesch