Karriere vor Transparenz

Schwule Politiker / Januar 1997, "Die Weltwoche"

Symbolbild zum Thema Sexualität

Homosexuelle Politiker führen aus Angst vor gravierenden Nachteilen nicht selten ein Doppelleben.

Vor kurzem geriet der belgische Vizepremierminister Elio di Rupo unter Pädophilieverdacht. Der Politiker, der keinen Hehl daraus macht, homosexuell zu sein, wurde beschuldigt, mit einem Fünfzehnjährigen sexuell verkehrt zu haben. Obwohl sich das vermeintliche Opfer bei seinen Aussagen mehrfach in Widersprüche verstrickte und Di Rupo wiederholt seine Unschuld beteuerte, sind Szenenkenner überzeugt davon, dass die politische Karriere des Vizepremiers in jedem Fall ruiniert sei. Wenige Monate nach der Affäre Dutroux, heisst es, vertrage es keinen Politiker, der nur im entferntesten mit einem Sexualdelikt in Verbindung gebracht werde.

Deutschland hatte im Sommer '95 seinen letzten "Homosexualitätsskandal". Der sächsische Innenminister und stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende Heinz Eggert wurde von verschiedener Seite bezichtigt, ihm unterstellte männliche Mitarbeiter sexuell bedrängt zu haben. Eggert, der verheiratete Vater von vier Kindern, behauptete, weder sexuelle Belästigungen verübt zu haben noch homosexuell zu sein. Der öffentliche Druck zwang ihn trotzdem zum Rücktritt.

Anfangs der achtziger Jahre war es die sogenannte Wörner-Kiessling-Affäre, die das Thema Homosexualität auf unschöne Art ins Gerede brachte. Der damalige CDU-Verteidigungsminister Manfred Wörner hatte den Vier-Sterne-General Günter Kiessling allein auf Grund von Gerüchten der Homosexualität verdächtigt und ihn als "Sicherheitsrisiko" gebrandmarkt. Zum Trauma mit verheerenden Folgen wurde dieser Fall für beide Beteiligte.

Das Muster hat System

Drei Politaffären - drei Schwulenskandale. Das Muster hat System. Denn das Thema Homosexualität und Politik wird meistens nur dann öffentlich behandelt, wenn es sich im Dunstkreis eines wirklichen oder vermeintlichen Skandals ansiedeln lässt, der notabene all jene Clichees und Vorurteile bedient, mit denen seit jeher Schwulen und - in geringerem Masse - auch Lesben begegnet wird. Beispiele wären: Homosexuelle verführen Kinder und Jugendliche. Homosexuelle sind promisk, sexbesessen und bindungsunfähig.

Kein Wunder, will "der" Bürger angesichts solcher Botschaften nichts mit homosexuellen Politikern zu tun haben. Eigentlich hat er es ja schon immer geahnt, jetzt weiss er es ganz genau, "wie es herauskommt, wenn ein Schwuler politische Verantwortung übernimmt". Kein Wunder aber auch, fühlen sich angesichts des belgischen Falles Di Rupo alle verdeckt homosexuellen Politiker bestärkt in ihrer Überzeugung, dass nur ein Doppelleben ihre politische Karriere sichert. Solange der Pädophilieverdacht wie ein Damoklesschwert über den Schwulen schwebt, muss es tatsächlich ratsam erscheinen, seine sexuelle Orientierung zu verbergen.

Während es in den USA inzwischen etliche Kongressabgeordnete wie den Republikaner Jim Kolbe aus Arizona oder den Demokraten Barney Frank aus Massachusetts und bereits mehrere Dutzend "state representatives" in den einzelnen Bundesstaaten gibt, die nach dem Bekanntwerden ihres Schwulseins politisch keinen Schaden genommen haben, sind offen schwule beziehungsweise lesbische Volksvertreter in Deutschland dünn und in der Schweiz noch viel dünner gesät.

Kein Outing auf Bundesebene

In Deutschland gibt es immerhin zwei Bundestagsabgeordnete dieser Art: einen schwulen Grünen und eine lesbische PDS-Politikerin. In der Schweiz hingegen findet auf nationalem Politparkett nach wie vor ein rein heterosexuelles Stelldichein statt - mindestens nach aussen hin. Erst auf lokaler Ebene lassen sich dann einige offen schwule Exponenten ausmachen. Am bekanntesten ist der grüne Winterthurer Gemeinderat Adrian Ramsauer, der sich in jüngster Zeit vor allem dank seines Auftritts auf einem Passugger-Werbeplakat ("Ich will meinen Freund heiraten dürfen.") einen Namen gemacht hat. Im luzernischen Kriens sitzt mit Michael Töngi ein weiterer Grüner im Einwohnerrat, und in Basel hat es dieses Jahr der Gewerkschafter Bruno Suter auf der SP-Liste in den Grossrat geschafft.

Seit Ende der achtziger Jahre haben homosexuelle oder sogenannt rosa Listen mit teilweise mehr als zehn schwulen Kandidaten, aber auch einzelnen lesbischen Kandidatinnen in Städten wie Basel oder Zürich für Aufmerksamkeit oder gar Aufsehen gesorgt. Erinnert sei an jenes Basler Wahlplakat, auf dem zwei nackte Männer, darunter ein "Schwangerer" mit dickem Bauch, abgebildet waren. Die Stadtzürcher Grünen haben das Amt ihres Präsidenten kürzlich in die Hände von Martin Abele, eines schwulen Kollegen, gelegt.

Immerhin. Doch wie sieht es in den höheren Rängen aus? Wie steht es mit den Ministern in Deutschland, mit Schweizer Regierungsrätinnen oder Bundesräten? Kein Schwuler an Bord, keine Lesbe in Sicht? Angesichts eines Anteils von fünf bis zehn Prozent Homosexueller an der Gesamtbevölkerung muss es - so viel ist klar - auch Magistraten geben, die das eigene Geschlecht lieben. So brodelt es in der Gerüchteküche mitunter gar heftig. In Deutschland wird die mutmassliche Homosexualität des CDU-Verkehrsministers Matthias Wissmann und diejenige des FDP-Staatsministers im Auswärtigen Amt Helmut Schäfer bereits in seriösen Zeitungen wie der "TAZ" und der "Süddeutschen" offen thematisiert. Wissmann und Schäfer allerdings schweigen hartnäckig zu Verlautbarungen dieser Art.

Die Gerüchteküche brodelt

In der Schweiz wollen einschlägig informierte Kreise wissen, dass es mindestens einen schwulen Nationalrat gibt. Andere berichten von mindestens einer ihnen bekannten Lesbe im nationalen Parlament. Aus dem Kanton Schwyz kommt die Kunde, dass ein ehemaliger Regierungsrat schwul sei, und sogar unter den Alt- beziehungsweise aktuellen Bundesräten, munkelt man, sollen Homosexuelle vertreten sein.

Nun ist das mit den Gerüchten mitunter eine heikle Sache. Eine, die das aus eigener Erfahrung weiss, ist die Zürcher Alt-Stadträtin Emilie Lieberherr. Jahrelang hiess es hinter vorgehaltener Hand, Lieberherr sei lesbisch, lebe sie doch mit ihrer Freundin zusammen. Nach ihrem Rücktritt als Stadträtin meinten viele, einem regelrechten Coming Out der alten Dame beizuwohnen. Zahlreiche gemeinsame Medienauftritte des Frauenpaares bestärkten diesen Eindruck. Doch fragt man Lieberherr ganz direkt, antwortet sie genauso direkt und unverklemmt: "Weder ich noch meine Freundin sind lesbisch. Uns verbindet eine jahrzehntelange Beziehung, die frei von jeder sexuellen Komponente ist."

Nichtsdestotrotz gibt es innerhalb der Politik zahlreiche "undercover"-Homosexuelle, wie ein Szenenkenner die verdeckten Schwulen und Lesben nennt. Dass sich immer noch so viele scheuen, offen zu ihrer sexuellen Orientierung zu stehen, erstaunt auf den ersten Blick. Doch bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass unsere Gesellschaft trotz aller von Toleranz strotzender Lippenbekenntnisse ihre schwulen und lesbischen Mitbürger nach wie vor marginalisiert und ausgrenzt.

Das aktuellste Beispiel stellt die neue Bundesverfassung dar, in der Diskriminierungen aller Randgruppen - mit Ausnahme der Homosexuellen - untersagt sind. Deren Interessenvertreter sind empört: "Es ist eine Zumutung, dass wir als einzige Minderheit nicht in der Verfassung aufgeführt sind." Kathrin Küchler, Pressesprecherin der Lesbenorganisation LOS, ergänzt: "Das ungeliebte Thema Homosexualität macht nach wie vor vielen Bauchweh. Sie begegnen uns nicht nur mit Indifferenz, sondern mit einem regelrechten Panikreflex." Dabei würden die Politiker, blind geworden vor lauter Abwehr, sogar übersehen, dass sie ein Stimmenpotential, vergleichbar jenem der Bauern und Bäuerinnen, brachliegen liessen.

"Stammwähler reagieren ablehnend"

Doch insbesondere bei den bürgerlichen Parteien tut man sich ausgesprochen schwer mit der Vorstellung, offen homosexuelle Kandidaten zu portieren. CVP-Generalsekretär Raymond Loretan befürchtet, dass die grosse Mehrheit ihrer Wähler Homosexualität für "nicht-normal" halte und sich folglich in einem solchen Kandidaten auch nicht wiedererkenne. Ueli Maurer, sein Kollege von der SVP, ist überzeugt, dass "unsere Stammwähler" auf Grund eines "Gefühls direkt aus dem Bauch" ebenfalls ablehnend reagieren würden. Und FDP-Generalsekretär Christian Kauter hat Angst, dass ein offen homosexueller Spitzenkandidat "erpressbar" und damit zum "Sicherheitsrisiko" für die Partei werden könne. Wenn dann noch "Sachen mit Kleinkindern" passieren würden, wäre es mit der politischen Karriere ganz vorbei. Die Vorurteile lassen grüssen.

Wie delikat das Thema ist, erfuhr auch der PR-Berater Iwan Rickenbacher in jener Zeit, als er noch CVP-Generalsekretär war. Rickenbacher nahm damals an einem von Lesben und Schwulen organisierten Podiumsgespräch zur Frage der Diskriminierung von Homosexuellen teil. "Innerhalb der Partei", erinnert sich Rickenbacher, "löste meine Teilnahme an einem "solchen" Anlass erheblichen Wirbel aus. So etwas mache doch ein CVP-Generalsekretär nicht, hiess es." Ähnliche Reaktionen erfuhr Rickenbacher auch, als er in einem Patronatskomitee Einsitz nahm, das für eine Broschüre zum Thema Aids und Homosexualität verantwortlich zeichnete.

Selbst innerhalb der Grünen Partei, die ihren homosexuellen Mitgliedern im allgemeinen "problemlos und tolerant" begegnet und nicht zuletzt deshalb zur politischen Heimat für viele von ihnen geworden ist, stellt der schwule Zürcher Parteipräsident Martin Abele "immer noch einen letzten Rest an Unbehagen gegenüber meinem offenen Auftreten" fest. Auch als es um seine Wahl zum Parteipräsidenten ging, musste er sich die Frage gefallen lassen, ob nicht die Gefahr bestehe, dass er sein neues Amt missbrauchen könne, um Schwulenpolitik zu machen.

Sind Schwule "betriebsblind"?

Dem Vorwurf, ausschliesslich schwule Minderheiten-Politik zu betreiben, sieht sich auch Volker Beck, der rechtspolitische Sprecher der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, der seit Jahren offen schwul auftritt, immer wieder ausgesetzt. Obwohl er, so Beck, "zu neunzig Prozent allgemeine Rechtspolitik und nur zu zehn Prozent Minderheitenfragen" behandle, bringe er das Image des "Schwulenpolitikers", dem eine "spezielle Art von Betriebsblindheit" unterstellt werde, nicht weg. Wenn er dann wirklich einmal zu einem spezifischen Thema wie beispielsweise den gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften eine Rede halte, fühle man sich bestätigt und werfe ihm "in schöner Regelmässigkeit" vor: "Aha, Interessensvertreter! Der redet in eigener Sache!" Dass man einem Bauern, der sich zur Landwirtschaftspolitik äussere, den gleichen Vorwurf machen könnte, käme jedem absurd vor.

Dermassen auf einen Teilaspekt seiner Person reduziert zu werden, stelle für ihn, sagt Beck, "ein Ärgernis" dar. Es nerve ihn auch, dass der "Spiegel" ihn regelmässig als "bekennenden Schwulen" bezeichne, obwohl die Tatsache, dass er sein Schwulsein auch in seinen politischen Alltag integriere, überhaupt nichts Bekennendes an sich habe. Dies übrigens im Gegensatz zu all den heterosexuellen Politikern, die mit ihren Eheringen oder den Familienbildern auf den Wahlplakaten tatsächlich ein Bekenntnis zu ihrer Lebensform ablegen würden. Ansonsten fühle er sich aber sehr gut dabei, als offen Schwuler zu politisieren und damit auch ein "authentisches Leben ohne Verleugnungen" führen zu können. Damit leistet Beck Pionierarbeit. Denn nach wie vor gilt innerhalb der Politik das ungeschriebene Gesetz: Schwule und Lesben ja, aber, bitte, verdeckt.

Es fehlt an Vorbildern

Dabei wünschten sich alle Schwulen und Lesben, dass endlich auch ihnen einmal erfolgreiche und beeindruckende Vorbilder präsentiert würden, mit denen sie sich identifizieren könnten. Gern würden auch sie in den Zeitungen einmal Bilder von homosexuellem Alltag zu sehen bekommen wie jenes beispielsweise von einem Bundesrat und seinem Freund am Neujahrsempfang oder dieses von einer Regierungsrätin mit ihrer Partnerin auf einer Auslandreise.

Das Doppelleben hingegen, zu dem sich die meisten homosexuellen Politiker und Politikerinnen nach wie vor genötigt fühlen, bewirkt das Gegenteil und hat einen hohen Preis. Zum einen lassen die Betroffenen es zu, dass aus ihnen "private Monster ohne jedes sichtbare Beziehungsleben" (Beck) werden, oder sie gaukeln heile Welt vor, zwingen sich zu Heirat und Familiengründung und leben damit ein unehrliches Leben. Zum anderen aber führt die Verleugnung, je länger sie andauert und je höher der oder die Betroffene innerhalb der politischen Hierarchie steigt, oft zu regelrecht paranoidem Verhalten. Bemüht darum, alle Spuren der eigenen Homosexualität zu tilgen, könne es dann passieren, so Szenenkenner, dass sich der schwule Parlamentarier oder seine lesbische Kollegin ablehnend gegenüber der Petition "Gleiche Rechte für gleichgeschlechtliche Paare" ausspreche. "Wie können solche Kreaturen", fragt Volker Beck, "langfristig gesehen glaubwürdige Politik machen?"

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© Barbara Lukesch