Aline Graf, Meienbergs Geheimnis

Liaison / 15. November 1997, "Das Magazin"

Symbolbild Thema Porträts

Was würde wohl Niklaus Meienberg sagen, wenn er wüsste, dass Aline Graf, seine einstige Geliebte, das Siegel der Verschwiegenheit gebrochen hat und ihre Tagebuchaufzeichnungen über ihre acht Jahre währende hochgeheime "folie a deux" - wie Graf die Beziehung nennt - der Öffentlichkeit zugänglich macht? Er wäre geschockt und würde protestieren, denn das Schriftenpaket, bestehend aus zwanzig buntgewürfelten Din-A-5-Heften, beinhaltet "eine Bombe". So jedenfalls bezeichnete es eine Verlegerin, die als eine der ersten das handgeschriebene Werk las, das ergänzt mit Zeitungsausschnitten und Fotos des Geliebten äusserlich an die harmlose Sammlung eines liebesverrückten Teenagers erinnert. Als es ihr nicht gelang, Graf zur Entschärfung des Sprengsatzes zu bewegen, indem sie ihre autobiographischen Notizen in einen Roman in der dritten Person verwandelte, platzte die Zusammenarbeit.

Aline Graf hält am "ich" fest, gibt ungeniert sexuelle Praktiken, aber auch seelische Befindlichkeiten preis und nennt in jener Fassung, die nun demnächst im "Weltwoche"-ABC-Verlag erscheint, auch alle Zeitgenossen, Freundinnen und Kollegen Meienbergs, die in seinem Leben eine Rolle spielten, mit vollem Namen. Nur den Namen jenes Mannes, der sie ein knappes Jahrzehnt in Atem hielt, spricht und schreibt sie nie aus. Als hätte sie Angst, mit der Erwähnung der fünf langen Silben auch jene Macht, die er einst unzweifelhaft über sie besass, erneut heraufzubeschwören, versucht sie, ihn mit dem knappen "M." klein zu halten.

Misstrauen im blassen Gesicht

Unsere Begrüssung fällt ungelenk aus. Die ersten Worte geraten zu laut, plump - unsicher irgendwie. Gegenseitiges Abtasten mit Blicken: Das ist sie nun also. Misstrauen steht Aline Graf ins blasse Gesicht geschrieben, das dominiert wird von ihren dunkelrot geschminkten Lippen. Ihre sparsam, aber sorgfältig möblierte Altbauwohnung im Herzen Zürichs strahlt Ruhe und Ordnung aus. Ein, zwei grosse Gemälde an den Wänden verraten die Kunstliebhaberin. Sie ist eine zuvorkommende Gastgeberin, hat Kaffee gekocht, Gipfeli und Sandwichs gekauft, obwohl sie selber gerade eine Saftkur macht, "um sich geistig zu reinigen." Wenn sie ihre Nase putzt, sagt sie jedesmal höflich: "Entschuldigung". Ihr Ostschweizer Dialekt passt wunderbar zu ihrer Geschichte mit (und ohne) Niklaus Meienberg.

Männer haben schon immer eine entscheidende Rolle im Leben der Vierzigjährigen gespielt. Wenn sie von ihrer Kindheit und Jugend im Rheintaler Dorf Rebstein erzählt, gewinnt man den Eindruck, dass allein das Wort ihres Vaters, eines Textilindustriellen, für sie von Bedeutung gewesen sei. Sein Wunsch, aus ihr eine tüchtige Arbeitskraft zu machen, eine Kindergärtnerin zum Beispiel, stand zwar im Widerspruch zu ihren künstlerischen Ambitionen. So verliess die Achtzehnjährige gegen seinen Willen das Elternhaus und versuchte sich in Zürich und später in Essen als Schauspielschülerin. Sie wollte eine zweite Liv Ullmann werden, hatte aber das Pech, nie "ihrem" Ingmar Bergmann zu begegnen. In Rom lernte sie italienisch und genoss die Wärme des Südens.

Finanziell blieb sie lange Zeit von ihrem Vater abhängig, und auch psychisch reichte sein Einfluss nach wie vor aus, um sie eines Tages doch noch zum Absolvieren einer einjährigen Sekretärinnen-Schule in St.Gallen zu bewegen: "Ich stand wie unter dem Zwang", erinnert sie sich, "ihm zu beweisen, dass ich auch eine bürgerliche Existenz führen kann." In Wien, jener Stadt, die sie schon lange magisch angezogen hatte, wurde eine Export-Sachbearbeiterin im Speiseöl-Handel aus ihr. Na also, brummte der Vater.

Befreit überliess sie sich der "sonambulen Atmosphäre" Wiens, unter deren Einfluss ihre Lust am Schreiben von Gedichten und Kurzgeschichten wuchs. Erst die unglückliche Liebe zu einem Mann, "einer wilden Mischung aus Österreicher und Ukrainer", trieb sie eines Tages nach Zürich zurück, an den Ausgangspunkt ihrer rastlosen Reise.

Zielloses, hektisches Leben

Tagsüber jobbte sie als Sekretärin, nachts verschlang sie Ingeborg Bachmanns Erzählungen und ihren Roman "Malina". Es sei ihr damals nicht gut gegangen, sagt sie. Sie habe sich fremd gefühlt unter den Menschen, einsam und nahezu unfähig, immerfort zu funktionieren und den Anschluss an das Alltagsleben nicht zu verlieren. Statt durch Europa zog sie nun in Zürich von Wohnung zu Wohnung und wechselte ihre Temporärstellen innert Monatsfrist. Ziellos und schrecklich hektisch sei ihr Leben damals verlaufen: "Ich habe irgendetwas gesucht und wusste nicht was."

1984 gerät ihr Schicksal endgültig aus den Fugen. Auf der Zugreise nach Paris, beim Umsteigen in Basel, steht plötzlich "Herr M." vor ihr. Sie hätten einander angestarrt, magnetisiert wie zwei Fremde, die sich aber aus einer anderen Welt schon lange kennen würden. Sie habe sofort realisiert, wer er sei. Er habe sie so, wie nur er das könne, gefragt, wohin denn die Reise führe, und sie habe den verhängnisvollen Spruch gemacht: Sie befinde sich auf den Spuren von Baudelaire."So ein Satz", seufzt sie und lacht, "hat M. natürlich elektrifiziert und für mich eingenommen."

Im Bett stürzen sie wie zwei "hungrige Tiere" übereinander her. Der Sex mit M. sei wild, unzimperlich und rauschhaft gewesen: "Ich hätte nie gedacht, dass in der Schweiz noch einmal so etwas Tolles zum Vorschein kommt." Sie ist fasziniert von dem grossen Mann, dem "Bären", wie sie ihn nennt, der noch wagt, auf den Tisch zu klopfen. Doch gleichzeitig schwant ihr Böses und sie spürt mit "dem Bewusstsein einer Wölfin", dass sie sich in Gefahr begibt. In einem letzten Versuch, Widerstand zu leisten, reist sie für drei Monate nach Spanien. Doch bei ihrer Rückkehr ist alles wie vorher, und die fatale Geschichte nimmt ihren Lauf.

Acht Jahre lang ist Aline Graf die heimliche Geliebte von Niklaus Meienberg. Morgens, mittags, abends, nachts oder im Morgengrauen kündigt er seine Besuche jeweils sehr kurzfristig telefonisch an: "Ich komme in zwanzig Minuten vorbei." Zwei, drei Stunden bleibt er bei ihr, dann ist er wieder weg, ohne ein Wort der Verbindlichkeit. Ob freudig erregt, erschöpft oder krank, sie öffnet ihm immer ihre Tür: "Heute praktizieren wir es ausnahmsweise auf dem Boden, auf meinem schrecklich alten, nicht mehr sauber zu kriegenden Teppich, trinken Weisswein von der Weinkellerei meiner Cousine, nachher kugeln wir uns aufs Bett und verkrallen uns nochmals ineinander." (Tagebuch)

Eine kränkende Situation

Ausgerechnet jener Mann, dessen berufliches Wirken stets darauf zielte, Licht in das gesellschaftliche Dunkel zu bringen, will um gar keinen Preis, dass irgendjemand von diesem Verhältnis erfährt. Meienberg kriegt seinen Willen. Abgesehen von ein paar Freundinnen Alines weiss bis kurz nach seinem Tod kein Mensch, dass er nebst seiner damaligen offiziellen Freundin, mit der er sich auch in der Öffentlichkeit zeigte, noch eine "Hintertreppen"-Geliebte hatte. Es sei für sie kränkend gewesen, sagt Graf, dass M. sie dermassen "unter Verschluss" gehalten habe. Gemeinsame Ausgänge könne sie an einer Hand abzählen. Sie habe ihn oft gefragt, ob sie eigentlich aussätzig sei oder woran seine Weigerung, sich mit ihr zu zeigen, liege. Seine Antworten seien vage und ausweichend geblieben, und hätten sie oft verzweifelt und "in einem schwarzen Loch" zurückgelassen. Sie müsse aber zugeben, dass eine solche "absolut geheime" Beziehung auch "ihre eigene Magie" und etwas "sehr Prickelndes" an sich habe. "Ein richtiges Geheimnis", sagt sie, "ist in einer so nüchternen Welt wie der unseren eben auch ein Schatz, den es zu hüten galt."

Doch der Preis, den sie zahlt, ist je länger je höher. Immer widerwilliger erträgt sie seinen schnellen Sex, der "wie ein Hammer", ohne Vor- und Nachspiel, auf sie niedergefahren sei. Immer gereizter schaut sie zu, wenn er, ohne zu fragen, an ihren Kühlschrank geht und diesen leer isst. Gleichzeitig tischt sie ihm wieder einen kühlen Weissen oder einen spanischen Roten auf - ganz die liebenswürdige Gastgeberin. Stundenlang schenkt sie ihm ihre Aufmerksamkeit, widmet sich einer "Seelsorgerin" gleich, wie sie es nennt, seinen Nöten und Ängsten. Er sei schon ein "Brocken" gewesen. In gewissen Zeiten, wie jenen rings um die Publikation seines Wille-Buchs, sei er ungeheuer schutzbedürftig gewesen, habe auch unter körperlichen Beschwerden gelitten und sei hilflos in ihrer Wohnung herumgetigert: "In solchen Phasen", sagt sie, "habe ich mich wirklich gefragt, was er ohne mich gemacht hätte."

Lob vom grossen Meister

Dass sie selber regelrecht unter die Räder gerät, eigene Ausbildungspläne vernachlässigt und sich jahrelang in einer langweiligen Lektoratsstelle bei einer Lokalzeitung vergräbt, um wenigstens einen ruhenden Pol in ihrem "verrückten Leben" zu haben, nimmt sie nur am Rande wahr. Dann klingelt wieder das Telefon: "Von Uster ruft M. gegen halb zwölf Uhr in der Nacht an, erzählt, er sei in Einsiedeln gewesen, um ein Ferienhaus anzusehen. Amüsiert rufe ich in den Hörer: 'Einsiedeln, das passt aber nicht zu Dir, das ist doch eher etwas für kontemplative Menschen.' Er entgegnet: 'Das bin ich doch auch.'Ich flirte: 'Meine Zehennägel sind heute wunderschön, wie die eines Fischotters.' Er findet diesen Vergleich unschlagbar und sagt, er würde in dreiviertel Stunden bei mir sein. Aber diesmal schafft es M. nicht, er lässt mich warten, ich friere, bin sehr unruhig und schlafe dann ein, begleitet von diffuser Träumerei."(Tagebuch)

M. weiss natürlich, dass sie selber auch Gedichte, Kurzgeschichten und Reportagen schreibt. Er liest mitunter einen Text von ihr und spendet ihr Lob. Was er nicht einmal ahnt, ist, dass sie jeweils nach seinem Aufbruch zu ihren Schreibheften greift, um die letzte Begegnung mit ihm schwarz auf weiss "abzulegen", wie sie sich geradezu geschäftsmässig ausdrückt. Und tatsächlich - mit der Zeit wird das Verfassen ihres Tagebuchs zu ihrem "zweiten Beruf". Sie fühlt sich wie die "minuziöse Chronistin" einer Lebensgeschichte, die ihr "zugelaufen" sei. Das Schreiben, sagt sie, habe sich regelrecht verselbständigt und seine eigene Realität angenommen.

Irgendwie muss sie ja auch ihre Haut retten und ihr Scherflein ins Trockene bringen. Da verfällt sie der Faszination eines prominenten, fast zwanzig Jahre älteren Mannes, dessen Widerborstigkeit sie betört, und sie liefert sich ihm jahrelang "freiwillig", wie sie stets mit Nachdruck betont, aber auch absolut hilflos aus. Sie verfügt noch über die Energie und Ausdauer, die man nur im Alter zwischen dreissig und vierzig hat, und lässt den "einsamen Riesen" davon zehren - grosszügig und ohne an deren Versiegen zu denken. Unfähig, sich von ihm zu trennen, erträgt sie das "Chaos, die Herzschmerzen und den Wahnsinn" bis zum bitteren Ende seines Todes. Im ersten Moment, als "dann alles vorbei gewesen" sei, sei sie vor allem erleichtert gewesen.

Doch die Trauer über den Verlust eines Menschen, dem sie sich trotz allem, was er ihr angetan habe, auch sehr nahe und verwandt gefühlt habe, holt sie schnell ein. Nach Meienbergs Selbstmord, der sich wenige Monate nach dem qualvollen Tod ihres Vaters zuträgt, ist sie wie betäubt vor Schmerz. Sie nimmt therapeutische Hilfe in Anspruch und schluckt Psychopharmaka.

Pietätlos? Obszön?

Getrieben von dem Wunsch, einen Verlag zu finden, der ihr Tagebuch publiziert. Obwohl M. gerade erst gestorben ist, hält sie ihre roten, gelben und grünen Schreibhefte bereits im Herbst '93 verschiedenen Verlegern unter die Nase. Sie stösst auf Ablehnung. Zu obszön, wird ihr beschieden. Pietätlos, heisst es andernorts. Spannend und brisant, sagt ein Dritter, der es sich aber mit dem Limmat-Verlag, Meienbergs Haus-Editeur, nicht verderben will. Taub und gefühllos, wie sie in jener Zeit durch die Welt wankt, steckt sie die Absagen scheinbar locker weg. Was ihr zu schaffen macht, ist das Warten. Einige Verlage lassen ihr Manuskript, das sie in der Zwischenzeit computerisiert hat, monatelang in der Schublade liegen und sie auf einen Entscheid bangen.

Mit der Zeit merkt sie, dass sie dem linken Umfeld M.s "irgendwie unheimlich" ist: "Da taucht plötzlich so ein Huhn aus dem Nichts auf", spottet sie über sich selber, "unbekannt und unberechenbar, und hat die Frechheit zu behaupten, dass sie über die letzten acht Lebensjahre des grossen Helden sehr genau Bescheid wisse." Das müsse für viele seiner "linken Brüder" ein "Hammerschlag" gewesen sein.

Schnell einmal macht der Spruch von der "Abrechnung" die Runde. Leicht angewidert gehen etliche seiner alten Weggefährten auf Distanz: Eine "Rachedurstige" sei unterwegs. Unbeeindruckt davon greift schliesslich der "Weltwoche"-ABC-Verlag zu. Jürg Ramspeck, der ehemalige Chefredaktor und Freund M.s, übernimmt das Lektorat. Lakonisch hält er fest, dass "Meienberg-Hageographen" mit Sicherheit Mühe mit dem postumen Werk haben werden. Denn in Grafs Tagebuch erstehe tatsächlich kein Heiliger und auch kein Seliger auf, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut.

Keine Abrechnung

Graf selber verwahrt sich dagegen, eine Abrechnung geschrieben zu haben. Es möge auf viele irritierend wirken, gibt sie zu bedenken, dass jemand wie M., der vom Wunsch nach gesellschaftlicher Gerechtigkeit regelrecht besessen gewesen sei, privat halt auch nur ein Mann wie viele gewesen sei und eine Frau ausgenützt habe, die sich das ganze - notabene - jahrelang habe gefallen lassen: "Aber so war es nun einmal." Konfrontiert mit dem Vorwurf, sie strebe mit der Veröffentlichung ihrer intimen Aufzeichnungen nach eigener Publizität, lässt sie diese Motivation "zum Teil" gelten. Viel wichtiger sei ihr aber, ihre Geschlechtsgenossinnen aufzurütteln und davor zu warnen, sich auf eine "polygame Beziehung" einzulassen, die so demütigend sei und viel Kraft koste. Das Genre des Tagebuchs sei schon immer ein Hilfsmittel von Frauen gewesen, um sich Luft zu machen und mitunter auch Gehör zu verschaffen.

Ihr Tagebuch, soweit es bisher einsehbar ist, ist weder in einem hämischen noch bösartigen Ton verfasst. Bissig wird die Schreiberin mitunter, wenn es um das Thema Sexualität geht: "So gut wie heute haben wir es seit Paris nie mehr getrieben - für M.s Verhältnisse hält er heute erstaunlich lange durch." Oder: "Seine Plumpheit ist offensichtlich, und sein Versagen im Bett monumental." šber weite Strecken enthüllt es das bizarre Verhältnis zweier umhergetriebener Menschen, das im Schatten der vier Wände einer Wohnung im Zürcher "Bidon Ville Oerlikon" (Graf) eigenen Regeln und Ritualen gehorcht: "M. am andern Ende, fragt, wie es geht und das Unvermeidliche: "Qu Šst que tu portes sur toi?"" Es entwirft kein schmeichelhaftes Bild von seinen Protagonisten. Aber es zeigt auch die Gnade des Alltags auf: Jede neue Begegnung beinhaltet auch eine neue Chance. Aline Graf hält es schon lange nicht mehr auf dem hölzernen Stuhl an ihrem Küchentisch aus. Immer wieder lassen die Erinnerungen sie aufspringen und hin- und herlaufen. Dann bleibt sie plötzlich in der Ecke des Raums stehen, in sich versunken, einem Gedanken, einem Bild nachhängend. Ihr Hals ist übersät von roten Flecken, die von Nervosität und Aufregung zeugen. Noch einmal hat sie M. Einlass in ihr Leben gewährt. Erneut beschert er ihr Chaos und mit Sicherheit einige schlaflose Nächte.

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© Barbara Lukesch