Warum Hiltl funktioniert

Vegetarische Küche / 1998, "Bilanz"

Symbolbild Thema Porträts

Hundert Jahre vegetarisches Restaurant Hiltl in Zürich - die einst belächelten "Outsider" sind gut im Geschäft.

Wenn alles klappt, wird die Fassade des vegetarischen Restaurants "Hiltl" im Herzen der Zürcher City im Frühling mit Rasen bepflanzt, während zwei Monaten bewässert und von lebensgrossen Kühen aus Designer-Hand bevölkert werden. So jedenfalls stellt sich Rolf Hiltl, der jüngste Spross des Familienunternehmens, den optischen Auftritt anlässlich der Hundertjahr-Feier seines Restaurants vor. Würden ihm technische Schwierigkeiten oder auch unverhältnismässig hohe Kosten einen Strich durch die Rechnung machen, wäre das halb so wild. Denn Hiltl hat noch weitere Pfeile im Köcher, die er zum runden Geburtstag abschiessen will.

Zum einen soll endlich eine breite Öffentlichkeit erfahren, dass das "Hiltl", gemäss einer Recherche der European Vegetarian Union, das älteste vegetarische Restaurant Europas ist. Dann erscheint das Buch "Vegetarisch nach Lust und Laune", in dem erstmals sechzig Original-Rezepte aus der "Hiltl"-Küche, die bisher hochgeheim operierte, gelüftet werden. Im Frühling werden drei grosse Festzelte an der Silhstrasse installiert, in denen Events und Einladungen an die verschiedenen Kundengruppen über die Bühne gehen.

Rolf Hiltl übernimmt

Rolf Hiltl hat allen Grund zum Feiern. Denn just zum hundertsten Geburtstag des Familienunternehmens legt ihm sein Vater Heinz, der sechzigjährige Seniorchef, die Verantwortung für den Betrieb in die 32jährigen Hände - Stabübergabe von der dritten an die vierte Generation.

Freude herrscht, und das Geschäft läuft prächtig. Der Umsatz ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen und hat 1997 erstmals die Zehn Millionen Franken-Grenze überschritten. Der Cash Flow beträgt zufriedenstellende fünfzehn Prozent. Weitherum geniesst das Gastro-Unternehmen Anerkennung. Testesser versteigen sich zu Superlativen wie "Das Salatbuffet ist prächtig, das grösste in Zürich, und das indische Buffet abends sensationell." (ZüriTip) Es ist die Rede von "lustvoller Gastronomie mit hohem Freizeitwert" (Fachzeitschrift "Salz & Pfeffer"). In der Laudatio anlässlich der Verleihung des Hamburger Food Service Preises 1995 werden die "fast unglaubliche Kontinuität im Unternehmerischen", "der Mut der Macher" und "ein Höchstmass an System in Produktion und Service" gerühmt. Kein Wunder stehen die Interessenten aus dem In- und Ausland Schlange und wollen das Zürcher "Hiltl" im Franchising-System multiplizieren und zur Restaurant-Kette machen.

Das Thema Expansion lässt Rolf Hiltl, den gelernten Koch und Absolventen der Hotelfachschule Lausanne, für einmal ratlos erscheinen: "Ich fühle mich in einem Dilemma", gibt er zu. Er sei sich bewusst, dass sich der Markt noch nie so günstig für vegetarische Restaurants modernen Zuschnitts präsentiert habe wie jetzt. Fleischlose Ernährung liege seit den Diskussionen um Salmonellen, BSE und Tiertransporten eindeutig im Trend. Und er sei überzeugt, dass die grosse Nachfrage, die ihnen täglich rund 1200 Kunden beschert, auch in Basel, Bern, München oder Frankfurt vorhanden wäre. Doch gleichzeitig frage er sich, wozu er all die zusätzlichen Belastungen auf sich nehmen solle: "Die vielen gestressten Manager tun mir eigentlich nur leid." Er brauche Zeit, hält er fest, um den richtigen Entscheid zu fällen, und wolle sich nicht drängen lassen.

Sicheres Qualitätsbewusstsein

Rolf Hiltl ist keineswegs faul oder antriebslos. Ganz im Gegenteil. Er ist ein selbstbewusster junger Mann, der seinem Vater sehr bald nach Eintritt ins Familienunternehmen 1990 deutlich machte, dass er an die Spitze will. Er vertraut auf seine Kreativität und sein sicheres Qualitätsbewusstsein. Er weiss auch, dass er gut mit seinen insgesamt achtzig Angestellten umgehen kann und über die Fähigkeiten eines Machers verfügt.

1993 gab er eine erste eindrucksvolle Probe seines Könnens ab, als er angesichts des stagnierenden Geschäftsgangs auf einen Umbau und eine zeitgemässe Anpassung des Konzepts drängte. Vater Heinz fühlte sich zunächst überrumpelt von den Plänen seines Filius, und es entbrannte ein heftiger Streit zwischen den beiden: "Ich kam mir vor wie ein Platzhirsch", sagt Heinz Hiltl, "der von einem jüngeren Rivalen aus seinem Revier vertrieben wird." Im Nachhinein müsse er allerdings zugeben, dass sein Sohn den richtigen Weg eingeschlagen habe.

Drei Millionen Franken liessen sich die beiden Hiltls den Umbau kosten, der ein attraktives Restaurant mit einem Hauch von Pariser Markthallen-Ambiente hervorbrachte. Das Mobiliar ist funktionstüchtig und schnörkellos; die Parkettböden und Holzvertäfelungen sind stilsicher gewählt. Der gewaltige Kristallüster, der schwer über dem zweistöckigen Etablissement thront, und die sorgfältig aufgezogene Ahnengalerie an den Wänden entführen den Gast in die Vergangenheit des traditonsreichen Familienunternehmens. Hiltl Junior hatte aber auch Zukunftsweisendes im Sinn, pochte auf den Ausschank von Alkohol und verlängerte die Öffnungszeiten.

Dem "Teilzeit-Vegetarier", wie er sich selber nennt, ging es vor allem darum, aus dem "Hiltl" ein "ganz normales Restaurant" zu machen. Der Zusatz "Vegi", auf den man einst so stolz war, verschwand aus dem Namen, um alles, was an griesgrämige Gesundbeterei und freudlose Diätküche erinnern könnte, auszumerzen: "Wir finden es nach wie vor toll, vegetarisch zu kochen", betont der junge Besitzer, "aber wir bevorzugen trotzdem die schlichte Bezeichnung "Hiltl"". Es liege ihnen ja auch fern, irgendjemanden belehren oder gar bekehren zu wollen: "Unsere Aufgabe ist es, unsere Gäste mit gutem Essen und Trinken zu begeistern."

"Cook and chill"

Das gelingt ihnen tatsächlich. Das Angebot ist reichhaltig und setzt sich täglich aus 50 Salaten, 25 indischen Buffet-Spezialitäten, 30 a la carte-Gerichten und zehn Fruchtsäften zusammen. Am begehrtesten sind das Salat- und das indische Buffet, die allein 50 Prozent des Umsatzes ausmachen. In der hauseigenen Produktionsküche, in der 25 Mitarbeiter beschäftigt sind, wird jede Mahlzeit von Grund auf frisch zubereitet. Das ist ein Luxus, den man sich dank des ausgeklügelten Fertigungsverfahrens des "cook and chill" leisten kann, gemäss dem die Nahrungsmittel gekocht, abgekühlt und für eine Höchstdauer von drei Tagen tiefgefroren werden.

Technische Raffinessen, die der Optimierung der Arbeitsabläufe dienen, sind bei den Hiltls stets auf Interesse gestossen. Eine der sowohl von der Konkurrenz wie auch der Kundschaft am stärksten beachteten Veränderungen stellt der infrarotgestützte Service dar. Ausgerüstet mit kleinen Handy-Computern kann das Personal alle Bestellungen innert Sekunden direkt in die beiden Fertigungsküchen durchgeben. Die auf diese Art gewonnene Zeit, sagt Hiltl, könne die Kellnerin nutzen, um ein nettes Wort mit den Gästen zu wechseln, während ihr Kollege bereits die Getränke parat macht und bringt.

"Value for money", auf Deutsch "mehr Leistung für denselben Preis", war denn auch das Zaubermittel, dank dem es dem Gastrounternehmen gelungen ist, der Wirtschaftskrise zu trotzen. Im "Hiltl" wird beispielsweise jeder Kunde auf Wunsch plaziert. Innert zehn Minuten hat er sein Menu auf dem Tisch. Angesichts der zunehmenden Flexibilisierung der Essenszeiten wird das gesamte Angebot durchgehend serviert. Ein Mittagessen mit Tagesteller, Salat, Mineralwasser und Kaffee kostet nicht mehr als 25 Franken. Die hauseigenen Bio-Brötchen, für die man einst 70 Rappen pro Stück bezahlte, gibt es heute sogar gratis. Die Weinkarte wurde erweitert, und das Bio-Guetzli zum Kaffee soll einer attraktiveren Neukreation weichen. Gleichzeitig hat Rolf Hiltl neue Nischen erschlossen, bietet das indische Buffet "zum Mitnehmen" an und hofft, im kommenden Sommer erstmals für zwei bis drei Monate ein "Hiltl am See" betreiben zu dürfen.

40% der Gäste sind Männer

Die Kundschaft honoriert all diese Anstrengungen mit zahlreichem Erscheinen. Gelten vegetarische Restaurants (wie zum Beispiel das Zürcher Lokal "Gleich") vielerorts noch als muffiges Refugium alter Damen, hat es das "Hiltl" geschafft, sowohl junge wie auch männliche Gäste anzulocken. Heute stellen Männer immerhin vierzig Prozent des Publikums. Das will etwas heissen, da grosse Teile des sogenannt "starken" Geschlechts immer noch frustriert bis sauer reagieren, wenn das berühmte Stück Fleisch auf dem Teller fehlt. So macht auch der Zürcher Gastro-Kritiker Silvio Rizzi einen Bogen um das "Hiltl", weil sein Freund in "miserable Laune" gerät, wenn er einen Abend ohne Steak verbringen muss.

Zahlreiche Prominente aus Wirtschaft, Politik und Sport erleben das längst ganz anders. So haben Nicolas G. Hayek, Stephan Schmidheiny und David de Pury allesamt schon dem "Hiltl" ihre Aufwartung gemacht. Der Zürcher Stadtpräsident Josef Estermann und seine Frau Maggy gehören gar zu den Stammgästen ebenso wie Alt-Stadträtin Emilie Lieberherr und der einstige GC-Star Thomas Bickel. Vegetarisch essen ist regelrecht "in".

Das war nicht immer so. In den Gründungsjahren des damaligen "Vegetarierheims und Abstinenz Cafes" waren das Restaurant als "Wurzelbunker" und seine Gäste als "Grasfresser" verschrieen. Etliche Kunden schlichen durch den Hintereingang in die Gaststätte, um nicht gesehen zu werden. Doch der Besitzer Ambrosius Hiltl hielt überzeugt an der fleischlosen Kost fest, die ihn immerhin von seinem schmerzhaften Gelenk-Rheumatismus befreit hatte. Er würde es den Lästermäulern schon zeigen. Und siehe da - der Umsatz begann sehr bald zu steigen, und die Erfolgsgeschichte des Familienunternehmens nahm ihren Lauf.

1925 wurde das Restaurant erstmals neugestaltet, sechs Jahre später kam es zur Erweiterung in den ersten Stock. Das Flair seiner Besitzer für technische Neuerungen schlug schon damals durch, und so konnte man sich 1931 rühmen, das "erste Zürcher Restaurant mit vollelektrischer Küche" zu sein.

Entscheidende Reise durch Indien

Eine schwere innerfamiliäre Krise wurde zur Zerreissprobe für den Betrieb. Wer sollte Vater Ambrosius ablösen? Sohn Walter, der Küchenchef, oder sein Bruder Leonhard, der Unternehmergeist? Leonhard machte schliesslich das Rennen, weil ihm der Vater mehr Initiativ- und Gestaltungskraft zutraute. Als Glück für das Restaurant erwies sich sodann Leonhards tatkräftige Ehefrau Margrith, die 1951 auf einer Reise durch Indien in die Geheimnisse der exotischen Küche eingeweiht wurde und diese nach Zürich mitbrachte. Ein weiterer Meilenstein für den kulinarischen Erfolg war gelegt.

Heinz Hiltl trat bereits 1959, im Alter von 22 Jahren, in den elterlichen Betrieb ein, um seiner Mutter nach dem frühen Tod des Vaters unter die Arme zu greifen. 1973 schlug seine grosse Stunde, als er den sogenannten "Schockumbau im 70er Stil" mit schrillen, bunten Farben initiierte. Schon damals ging es darum, sich vom "Chörnlipicker-Image" zu befreien und neue Kundensegmente zu erschliessen.

Nachdem Heinz Hiltl den schweren Konflikt zwischen seinem Vater Leonhard und seinem Onkel Walter hautnah miterlebt hatte, war er entschlossen, eines Tages eine sorgfältig geplante šbergabe des Geschäfts an seinen Nachfolger zu vollziehen. Trotz bester Vorsätze sei es ihm manchmal sehr schwer gefallen, "die Macht" an seinen Sohn Rolf abzugeben: "Das Restaurant", sagt er, "ist schliesslich mein Lebenswerk." Da sei es doch normal, dass das Loslassen schmerzliche Gefühle auslöse: "Es war ein bisschen wie Sterben."

Doch inzwischen hat Heinz Hiltl diesen Trennungsprozess abgeschlossen. Heute, beteuert er, schätze er sich glücklich, in seinem Sohn Rolf "den besten aller möglichen Nachfolger" gefunden zu haben. Mit ungebremstem Elan schaut der Senior nun der Hundertjahr-Feier entgegen, die, so der Sechzigjährige, in die Zukunft weisen müsse und nicht an der Vergangenheit hängen bleiben dürfe: "Bei allem Respekt vor den Verdiensten meiner Vorfahren", sagt Heinz Hiltl, "muss es auch jetzt vor allem eins: vorwärtsgehen."

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© Barbara Lukesch