Nella Martinetti führt Medien-Regie

Selbstinszenierung / 1998, "Tages-Anzeiger"

Symbolbild Thema Porträts

Der vorläufig letzte Coup traf ihre Fangemeinde am Freitag, den 24. April. Mitten auf der Frontseite des "Blick" strahlt Nella Martinetti, eingehüllt in ein zotteliges Bärenfell, mit einem riesigen Schinken auf dem strammen Schenkel, und macht Reklame für das Modehaus "Grandios", das Frauenkleider in den Grössen 42 bis 60 anbietet. Viele, die das Bild sahen, reagierten geschockt und fassungslos: "Mein Gott, wie kann sie nur!"

Nella Martinetti lacht sich halbtot: "Das ist doch superlustig." Und mutig noch dazu: "Oder glauben Sie, dass sich Paola so fotografieren lassen würde!" Nein, das nicht. Aber Nella Martinetti, die selber jahrelang unter ihrer Leibesfülle von 91 Kilogramm, verteilt auf 1, 56 Meter, gelitten hat, spürt das Bedürfnis, eine Lanze für die Molligen zu brechen. Also habe sie einem "Blick"-Journalisten, der eigentlich immer darüber informiert sei, was sie gerade mache, von der "glatten Neandertaler-Aktion" berichtet - eh voila!

Jetzt sitzt sie, elegant gekleidet, sorgfältig geschminkt und mit riesigen Strassklunkern an den Ohren in einem tiefen Sessel in ihrer Wohnung in Jona SG und raucht eine Dunhill Blau. Das Telefon klingelt ununterbrochen. Ihr Draht zur Welt läuft heiss, das "chlöpft" sie auf. Nella Bella lacht aus vollem Hals: "Ciao, ciao - ich habe gerade Journalisten auf Besuch."

Mit den Journalisten per Du

Sie mag Journalisten, sagt sie. Oft habe sie sich schon gefragt, warum sie so schnell per du mit vielen sei und regelrecht übersprudle, wenn sie ein Interview gebe. Das geschehe nicht nur aus Dankbarkeit, weil sie sie bekannt, ja, prominent gemacht hätten und ihr mit ihren regelmässigen Storys viele Tausend Franken an Werbeausgaben ersparen würden: "Je mehr ich in der Zeitung bin", grinst sie, "um so mehr Engagements bekomme ich." Nein, da sei noch mehr. Journalisten seien mitunter auch wie Beichtväter für sie, deren aufmerksame Anteilnahme an ihrem Schicksal ihr Erleichterung verschaffe: "Einige meiner besten Freunde stammen aus den Medien."

Dass der Preis für diese Art von Werbung, Publizität und Trost gleichwohl zu hoch sein könnte, indem sie dabei ja stets auch ihre intimsten Gefühle wie Liebeskummer, Eifersucht oder Trauer zu Markte tragen müsse, bestreitet sie vehement: "Ich bin mein ganzes Leben lang eine extrovertierte Person gewesen." Sie geniesse es, frei zu sein und offen zu ihrer Meinung zu stehen. Auch ihrem Zahnarzt habe sie neulich geklagt, dass sie selbst nach dem dritten Orgasmus nicht einschlafen könne und eine Tablette brauche.

Sie hält einen Moment inne und denkt nach. Klar, sie wisse ganz genau, dass viele meinten, sie sei naiv und von vorgestern und mit ihr könne man alles machen. Aber sie habe die Medien längst durchschaut: "Die wollen Geschichten über Sex, Liebe, Skandale." Und nachdem ihre Liebesbeziehung zu Claudio, ihrem dreissig Jahre jüngeren Lover, nun in allen Farben durchgehechelt worden sei, würden alle nur noch auf eine Story warten: "Das Ende unserer Beziehung." Sie habe genau realisiert, dass der "Blick" kürzlich bereits einmal mit dem "Thrill" dieser Geschichte gespielt habe, als er auf einem Plakat verkündete, Nella sei krank und traurig. Prompt sei sie am nächsten Tag gefragt worden, ob es mit Claudio aus sei.

Es ist noch nicht aus. Und wenn es soweit ist, wird Nella Martinetti persönlich die Medien-Regie führen, hat sie doch bereits heute entschieden, welche Journalistin die Nachricht vom Beziehungs-Bruch als erste erhalten wird. Da spricht die Vollprofi-Frau, die das eigene Leben nur noch in Kategorien seiner journalistischen Verwertbarkeit sieht und noch dazu strahlt: "Clever, nicht wahr?"

Es ist toll, bekannt zu sein

Das Telefon läutet. Überbordend vor Freude begrüsst sie den Anrufer, bespricht den nächsten Tag, den sie singenderweise an der Berner BEA verbringen wird: "Das Fernsehen ist auch da", jubelt sie.

Es sei doch einfach toll, bekannt zu sein. Sie stehe zu ihrer "Publicity-Geilheit", liebe es, überall auf der Strasse und in den Spunten angesprochen zu werden und die Leute fröhlich machen zu können. Als sie vor zwei Jahren ihre Karriere - vorübergehend - beendet und alle Journalisten-Adressen eigenhändig aus ihrer Agenda gestrichen hatte, habe sie kein schönes Leben mehr gehabt. Die Freude am Dasein einer "ganz normalen" Hausfrau wollte sich nicht einstellen. Im Gegenteil: "Es war öd und langweilig, und niemand rief mehr an." Als der "Blick" sie und Freund Claudio dann eines Tages in einem Restaurant aufstöberte, fotografierte und die Liebesgeschichte publik machte, wurde sie von einem "grandiosen Glücksgefühl" befallen, weil sie spürte: "Ich bin wieder da." Dieser Zustand halte noch heute an und erfülle sie mit Elan und Energie, dass sie fast zerplatze.

Getragen von dieser Euphorie posierte sie nackt und nur spärlich bedeckt für den "Blick", nachdem sie kurz vorher von 2000 Kundinnen des alternativen "Body Shop" zum attraktivsten Anti-Modell des Jahres gewählt worden war. Die Freude am Leben, aber auch ihre Unfähigkeit, "nein" zu sagen, bescherten ihr in jener Zeit auch Fotos von sich und ihrem Freund Claudio, auf denen dieser wie ein grosser Säugling an ihrem mächtigen Busen ruht - intime Aufnahmen, die im Licht der Öffentlichkeit nur noch eins waren: nämlich peinlich.

Sie habe tatsächlich manchmal Angst, missbraucht und lächerlich gemacht zu werden, gesteht sie kleinlaut ein. Bei beiden Fototerminen habe sie lange gezögert, habe sich schliesslich überreden lassen: "Sie wissen ja, wie Journalisten sind: 'Doch, doch, Nella!' 'Komm schon, Nella!', 'Mach doch, Nella!'" Irgendwie - und jetzt hat sie ihren Text wieder gefunden - sei es ja auch "sauglatt" gewesen. Schliesslich sei sie doch für jeden Spass zu haben, sei ja eigentlich eine Clownin, was - nebenbei gesagt - auch ihre berufliche Zukunft bestimmen werde: "Da kommt eine neue, freche, selbstbewusste Nella, wie sie noch keiner kennt."

Medikamentensüchtig – na und?

Doch über Berufliches redet sie nicht gross. Diese Lektion hat sie gelernt: "Was ich beruflich mache, interessiert eigentlich niemanden." Mit einer neuen CD von Nella Martinetti liessen sich halt keine Schlagzeilen basteln. Das sei schon ein bisschen traurig, klagt sie und findet im selben Augenblick zu ihrem Optimismus zurück: Aber so schlimm sei es ja auch nicht. Sie arbeite streng, habe gewaltigen Erfolg, werde bereits als "Kultfigur" gehandelt und fühle sich wohl wie schon lange nicht mehr.

Und schluckt Schlaftabletten und Anti-Depressiva, wie sie kürzlich in der "Gsundheit-Sprechstunde" auf SF 2 offenbarte. Das sei so, ja, gibt sie zu. Sie könne sich einfach noch nicht ganz von der Vergangenheit lösen, in der eine zwanzig Jahre dauernde Beziehung mit einem Mann auf "höchst dramatische Art" auseinandergebrochen sei. Sie sei sogar medikamentensüchtig, jawohl, aber das interessiere sie "gleich null", konstatiert sie trotzig. Was allein zähle, sei ihre zweite Karriere als "Nella, die Klamaukfrau", die ihr Publikum zum Lachen bringt: "Das ist meine wahre Therapie".

Plötzlich sieht sie richtig unglücklich aus. Sie wisse sehr genau, sagt sie überraschend leise, dass sie täglich an sich arbeiten müsse: "Oder glauben Sie, es ist einfach, wenn man ständig die 'kleine dicke Zusammengeflickte' spielen und noch dazu strahlen soll?" Sie habe immer wieder Phasen, in denen sie an sich zweifle, in denen sie doch wieder an Diäten denke, obwohl sie sich geschworen habe, nie wieder zu hungern. Ein tiefer Seufzer entweicht ihr. Eine Sekunde der Traurigkeit gönnt sie sich noch. Dann hat sich Nella National wieder im Griff: "In solchen Momenten der Unsicherheit stelle ich mich nackt, nur in Stöckelschuhen, vor den Spiegel und sage zu mir: 'Du bist schön, du bist stark, du bist eine Powerfrau'" Und dann sei alles wieder in Ordnung. Basta.

Die Schweiz als Familie

Gibt es eigentlich noch irgendetwas in ihrem Leben, das sie den Journalisten nicht preisgegeben hat? Irgendetwas Intimes, ein Rest an Privatheit? Sie verwirft die Hände: "Wozu denn? Ich gehöre dem Publikum. Die ganze Schweiz ist meine Familie, das ist doch wunderbar." Dann denkt sie doch noch einmal nach. Was sie tatsächlich niemandem anvertraut habe, kommt es zögernd, sei die Ursache für das Scheitern ihrer langen Liebesbeziehung: "Das war zu heavy." Doch, wer weiss, vielleicht hinterlasse sie ja bei ihrem Ableben einen Brief, in dem sie die ganze Geschichte für die Nachwelt aufrollen werde.

Nella Martinetti kokettiert hin und wieder mit dem Gedanken an ihren Tod, der - davon ist sie felsenfest überzeugt - für Schlagzeilen sorgen wird: "Schon oft habe ich vor meinem inneren Auge die riesige "Blick"-Schlagzeile gesehen: 'Nella tot'". Sagt es und lacht dabei so hämisch, als wäre ihr Tod ein Triumph über die Medien, denen sie - aller kritischen Töne zum Trotz - eben doch heillos ausgeliefert ist.

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© Barbara Lukesch