Lea Wyler - Bettlerin aus Passion

Hilfswerk Rokpa / 4. August 2000, "CASH"

Symbolbild Thema Porträts

Eigentlich hätte Lea Wyler, die Gründerin und Vizepräsidentin des internationalen Hilfswerks Rokpa, Grund zum Feiern. Schliesslich wird Rokpa zwanzig Jahre alt, zählt inzwischen 18 Zweigstellen auf der ganzen Welt und unterhält in Tibet, Nepal und Indien Projekte wie Kinderhäuser, Ausbildungsstätten, Kleiderdepots, Gewächshäuser und Kliniken, deren Qualität und Effizienz weitherum unbestritten sind. Doch Wyler hat weder Zeit noch Geld für ein grosses Fest: "Weil ich den Hunger, die Not und Verzweiflung der Armen aus nächster Nähe kenne", sagt sie, "bringe ich es nicht über das Herz, auch nur 1000 Franken in die Organisation eines solchen Anlasses zu stecken."

Aus demselben Grund weigerte sie sich bisher, einen Teil des weltweiten Spendenaufkommens, das 1999 2,2 Millionen Franken betrug und zu zwei Dritteln aus der Schweiz stammt, in professionelle PR- und Werbeaktivitäten zu investieren. Langsam wird ihr allerdings bewusst, dass diese Haltung höchstens kurzfristig Sinn macht, auf die Dauer aber wenig erfolgversprechend ist. Rokpa müsse neue Geldquellen erschliessen, weiss Wyler, und dürfe nicht länger in so hohem Masse von ihren persönlichen Anstrengungen abhängig sein. Die Tätigkeit des Spendensammelns sei nämlich dermassen anstrengend und zeitraubend, dass sie mitunter an ihre Grenzen stosse. Das fange beim Knüpfen von Erstkontakten am Rande von Vorträgen in Klubs oder Kirchen an und reiche bis hin zur Beziehungspflege mit der Stammspenderschaft.

Unerbittlich diplomatisch

Lea Wyler, die das personifizierte Aushängeschild von Rokpa ist, wird aber auch dann am Ball bleiben, wenn dereinst eine Fachkraft die PR- und Öffentlichkeitsarbeit der Organisation an die Hand nimmt. Schliesslich sei sie "dermassen professionell deformiert", dass sie in jedem Gespräch mit einer fremden Person, die noch dazu über viel Geld verfüge, irgendwann auf das Thema Spenden zu reden komme: "Da bin ich unerbittlich", lacht sie, "aber immer diplomatisch."

Die Zeiten, in denen sie jeden und jede in ihrem Umfeld mit erhobenem Zeigefinger auf deren unverhältnismässigen Luxuskonsum aufmerksam gemacht und postwendend eine Spende für die Armen in Nepal angemahnt habe, seien endgültig vorbei. Heute weiss sie, dass Moralapostel keine guten Spendensammler sind. Das einzige, was Wirkung zeitige, sei der Appell an die Vernunft: "Es geht doch nicht an, dass in der sogenannten Ersten Welt Milliarden von Franken für Diätkuren ausgegeben werden, während die Menschen in der Dritten Welt am Hungertod sterben." Wer das nicht kapiere, polemisiert sie, gehöre in die Schule zurückversetzt.

Die 53Jährige hat Witz und Humor. Sie ist eine temperamentvolle Erzählerin, die ihre Umgebung mit ihrer Energie zu begeistern vermag. Als Roger Schawinski sie im "Talktäglich" auf Tele24 in seiner bewährten Manier ein- bis zweimal recht unsanft zu attackieren versuchte, bot sie ihm souverän und lächelnd Paroli. Wer so überzeugt von seiner Sache ist, gerät nicht so schnell aus der Fassung. Bei Bedarf kann sie auch direkt, ja, regelrecht dreist werden. Voller Sarkasmus, aber im Grunde bitterernst gemeint, stichelt sie: "Ein Millionär leidet doch unter der Last seines Reichtums, der ständig geschützt, optimal versichert und gerecht vererbt werden muss." Rokpa biete diesem Mitbürger die einzigartige Möglichkeit, sein Leiden zu lindern: "Ist es nicht eine wunderbare Erfahrung, 20'000 Franken zu geben und zu wissen, dass damit zwanzig nepalesische Kinder ein ganzes Jahr lang ernährt, betreut und ausgebildet werden können?" Mit einem Taschenrechner, der schon bessere Tage gesehen hat, ermittelt sie die entsprechende Zahl für das Tibet, die auf Grund tieferer Lebenshaltungskosten sogar 33 beträgt.

Egoistische Motive

Lea Wyler ist alles andere als eine Heilige. Sie mag auch den Begriff Wohltäterin nicht, und wer sie auf dem Helfertrip wähnt, kassiert finstere Blicke aus ihren dunkelbraunen Augen: "Ich handle aus rein egoistischen Motiven", stellt sie klar, "und will meine Person auf diesem Weg ein wenig verbessern." Sie halte es für sinnvoll und nötig, Geld, Freundschaft und Wärme zu teilen, und darum verhalte sie sich entsprechend. Wenn sie angesichts des Todes dereinst behaupten könne, sie habe ihren Charakter dank ihres Engagements für Rokpa nur schon um ein einziges Prozent verbessert, habe sich ihr Leben bereits gelohnt: "Dann brauche ich nicht mehr als hundert Leben", grinst sie frech, "um perfekt zu werden."

Momentan ist sie tatsächlich noch einiges von der Perfektion oder Erleuchtung, wie es im von ihr hochgeschätzten und praktizierten Buddhismus heisst, entfernt. Sehr zu ihrem Ärger schafft sie es nämlich immer noch nicht, ihre Gelüste nach Süssigkeiten unter Kontrolle zu halten. Wenn sie nach Nepal reist, muss ihre Mitarbeiterin die Schokolade, die sie "ihren" Kindern als Geschenk mitbringen will, bis zur letzten Minute verstecken: "Sonst kann es passieren, dass ich sie in einer schwachen Minute aufesse." Auch ihre Eitelkeit hat sie noch nicht im Griff. Jedesmal, wenn Fotograf Roland Iselin sie um ein paar Aufnahmen bittet, huscht sie rasch vor den Spiegel im Flur ihrers Hauses, zieht den Lippenstift nach und rückt ihre Frisur zurecht. Egal. Lea Wyler weiss um ihre Schwächen und gelobt Besserung.

Die Zürcherin entstammt einer gutbürgerlichen jüdischen Familie, in der Kunst, Literatur und Kultur schon immer einen zentralen Stellenwert hatten. Ihr Grossvater war Felix Salten, der Verfasser so weltberühmter Werke wie "Bambi" und "Josefine Mutzenbacher". Ihre Grossmutter und Mutter waren erfolgreiche Schauspielerinnen, die unter anderem am Wiener Burgtheater auftraten. Ausgrenzung und Diskriminierung hat sie schon als Kind am eigenen Leib erfahren. Mehr als einmal riefen ihre Schulkameraden ihr "Saujude" hinterher. Gleichzeitig aber erlebte sie auch, dass ihre Eltern bedürftigen Menschen mit Worten und Taten beistanden. Ihre Grossmutter war eine der ersten Frauen in der Schweiz, die nach dem Ersten Weltkrieg Flüchtlingskinder bei sich aufnahm. So überrascht es nicht, dass ihr über neunzigjähriger Vater, ein Anwalt, ihre Hilfswerk-Arbeit mit Wohlwollen, aber auch finanzieller Unterstützung begleitet und ihr damit ermöglicht, seit zwanzig Jahren ehrenamtlich tätig zu sein. Rokpa setzt sich abgesehen von der Geschäftsführerin und zwei Teilzeit-Sekretärinnen ausschliesslich aus Mitarbeiterinnen und Helfern zusammen, die Gratisarbeit leisten. Dass es ihnen die Vizepräsidentin gleichtut, steigert die Motivation aller und erklärt nicht zuletzt deren langjährige Loyalität.

Ein Dank wäre schön gewesen

Auf eine materielle Abgeltung ihrer Tätigkeit zu verzichten, fiel Lea Wyler nie schwer. Ein Dankeschön hingegen hätte sie früher gern einmal gehört. Doch die nepalesischen Knaben und Mädchen, die sie in all den Jahren von der Strasse geholt und in dem Schutz spendenden Rokpa-Kinderhaus untergebracht hat, verfuhren nach den Gepflogenheiten ihres Landes und bedankten sich nicht. Sie habe lernen müssen, sagt Wyler, mit dieser Erfahrung umzugehen. Inzwischen wisse sie: "Wer humanitäre Arbeit ernst nimmt, macht sie, weil sie gemacht werden muss, und nicht, damit man ihm oder ihr danke sagt und Komplimente austeilt." Würde sie sich von der Zuneigung und Anerkennung "ihrer" Kinder abhängig machen, führt sie aus, würde sie ihre persönliche Integrität verletzen und die Wirksamkeit ihrer Arbeit beeinträchtigen.

Auch wenn ihr all das bewusst sei, müsse sie sich weiterhin täglich mit ihrer Rolle als Schweizerin, die Geld, Güter und Hilfe bringe und damit über Macht verfüge, auseinandersetzen. Macht zu haben, schliesse immer auch die Möglichkeit des Machtmissbrauchs ein und dagegen wappne sie sich auf jede erdenkliche Art. Insbesondere ihre langjährige Beziehung zu Akong Tulku Rinpoche, dem Präsidenten von Rokpa International, Arzt, hoher tibetischer Lama und ihr Meditationsmeister, leiste ihr dabei unschätzbare Dienste. Rinpoche besitze Weisheit, Lebenserfahrung und ein riesiges Potenzial an Mitgefühl. Sie achte den 60Jährigen unendlich und vertraue ihm vollständig. Dass "Rinpoche" auf tibetanisch "kostbares Juwel" heisse, treffe den Kern.

Kennengelernt hat sie ihn in jenem Moment ihres Lebens, in dem sie so verzweifelt war, dass sie sich beinahe umgebracht hätte. Während eineinhalb Jahren hatte sie ihre krebskranke Mutter gepflegt und während ihres qualvollen Sterbens begleitet. Sie habe eine sehr enge und spezielle Beziehung zu ihrer Mutter gehabt: "Es war eine grosse Liebe zwischen uns." Mit ihrem Tod stand Lea Wyler vor dem Nichts. Der Sinn ihrer bisherigen Existenz als Schauspielerin war ihr abhandengekommen. Weder die Sorge um ein paar zusätzliche Pfunde noch die Befürchtung, eine besonders begehrte Rolle nicht zu erhalten, waren noch von Belang. Dabei hatte sie früher immer behauptet, nicht ohne Bühne und Applaus überleben zu können. Doch jetzt war nichts mehr wie früher. Stattdessen wurde die damals Dreissigjährige von Fragen niedergedrückt wie jener, wie man wohl leben müsse, um ein solch grauenvolles Ende wie ihre Mutter zu verkraften.

Helfen, wo Hilfe gebraucht wird

Eine dreimonatige Reise mit Rinpoche durch Nepal und Indien stellte ihr Dasein noch einmal auf den Kopf. Als sie das Elend, den Hunger der Kinder, die Not der Mütter und die für sie damals unfassbare Armut sah, war sie zutiefst geschockt. Begegnungen mit einem blinden Knaben, einem verwachsenen leprakranken Bettler und einer alten, von Hunger zermarterten Frau wurden für sie zu Schlüsselerlebnissen, die ihr innerhalb eines Tages "brillantene Klarheit" darüber verschafften, was sie mit dem Rest ihres Lebens anfangen sollte. Auf die für sie typische "hochdramatische Art" habe sie innert Kürze beschlossen, in Nepal, Indien,Tibet und überall dort, wo es nötig ist, humanitäre Hilfe zu leisten.

Lea Wyler hielt Wort. Zurück in Zürich gründete sie 1980 gemeinsam mit ihrem Vater und Rinpoche den Verein Rokpa International, dessen Motto lautet: "Helfen, wo Hilfe gebraucht wird". Seither arbeitet sie wie eine Besessene. Sie kennt seit Jahren keine freien Wochenenden und keine Ferien mehr. Stattdessen beginnt sie frühmorgens mit der Niederschrift der ersten Bettelbriefe, beantwortet tagtäglich Dutzende von E-Mails und verbringt viele Stunden am Telefon, verbunden mit der ganzen Welt. Erst weit nach Mitternacht geht sie zu Bett. Die Menge der anfallenden Arbeit hat sie dermassen in Beschlag genommen, dass sie während der letzten elf Jahre an einem Ort in der Agglomeration von Zürich wohnen blieb, der so "scheusslich" sei, dass sie depressiv würde, wenn sie ihn täglich wahrnehmen müsste. Doch dazu hat Lea Wyler, die alleinstehende Frau, deren Partner 1989 gestorben ist, gar keine Gelegenheit. Schliesslich verbringt sie jedes Jahr mehrere Monate in Nepal, wo sie in bitterer Winterkälte eine Gassenküche betreibt, die täglich Hunderte von Mahlzeiten abgibt, reisst neue Hilfsprojekte in Indien oder im Tibet an, tourt seit neuestem auch durch die USA, wo Rokpa fester verankert werden soll, oder nimmt in Schottland an den Jahresversammlungen der Hilfsorganisation teil. Unter diesen Umständen ist ihr zweistöckiges Häuschen für sie nicht mehr als ein grosses Büro mit mehreren Räumen.

Doch als sie kürzlich einmal ausrechnete, dass sie jährlich zwei geschlagene Arbeitswochen vergeudet, um von zu Hause an den Rokpa-Hauptsitz an der Zürcher Neptunstrasse zu fahren, fasste sie den Entschluss, in die Stadt umzuziehen, von der sie sich auch mehr gesellschaftliche Impulse und soziale Kontakte verspricht. Sie freut sich auf diesen Wechsel, doch wann er vollzogen wird, steht in den Sternen. Erstens dürfte es ein Unternehmen der besonderen Art werden, ihr mit unzähligen nepalesischen, tibetanischen und indischen Nippsachen, Schalen, Döschen, Kerzenständern und Tonfiguren vollgestopftes Haus zu räumen, an dessen Wänden Dutzende von Fotos von Rinpoche mit und ohne Lea Wyler, von Mutter Teresa mit Lea Wyler und von "ihren" Kindern hängen. Zweitens wird die "Hilfswerk-Bettlerin", wie sie sich selber mit trotzigem Stolz nennt, jede Stunde reuen, die sie nicht im Dienst ihrer grossen Rokpa-Familie verbringen kann. Immerhin verfolgt sie zur Zeit das ehrgeizige Ziel, das Spendenaufkommen innerhalb der nächsten drei Jahre zu verdoppeln, um noch mehr "Hilfe" leisten zu können, "wo Hilfe benötigt wird."

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© Barbara Lukesch