Die Kopfjägerin

Intuition / 30. März 2001, "Annabelle"

Symbolbild Thema Porträts

Wer Rita Baechler zum erstenmal begegnet, steht in Gefahr, einem fatalen Irrtum aufzusitzen. Die 55jährige Frau mit ihren üppigen Formen und ihren langen wallenden Gewändern begrüsst jeden Gast so ausnehmend herzlich, dass man sich sofort geborgen fühlt wie in der Gegenwart einer grossen, gütigen Mutter, die der ganzen Welt nichts als milde Nachsicht und unendliche Geduld entgegenbringt.

Doch Rita Baechler, die einzige selbständige Headhunterin der Schweiz, kann auch anders. Wenn ihr Jagdinstinkt geweckt ist und sie sich auf die Suche nach hochkarätigen Köpfen für die Chefetage hiesiger Unternehmen macht, wird sie zur glasklaren Analytikerin, die keine halben Sachen duldet. Dann ist ihr Blick scharf und unbestechlich; in solchen Momenten kristallisiert sie die verborgenen Talente eines Bewerbers, aber auch seine Ausbildungslücken heraus oder ergründet die Unstimmigkeiten in einem Team. An ihr ist es immer wieder, in heiklen Situationen die Dinge beim Namen zu nennen, Erwartungen und Hoffnungen zu enttäuschen, mit einem Wort, sich unbeliebt zu machen: "Ich muss oft knallhart auftreten", konstatiert sie nüchtern, "weil ich nur so meinen Job professionell machen kann."

Innerhalb der Personalvermittlung und -beratung sind Frauen gut vertreten. Sobald es aber darum geht, in die Oberliga des Headhunting zu wechseln und Geschäftsführer, Finanzverantwortliche und Verwaltungsratspräsidenten zu rekrutieren, nimmt ihre Zahl rapide ab: "Die meisten Frauen", analysiert ein Szenenkenner, "haben immer noch zu viel Respekt vor hohen Rängen, berühmten Namen und dem grossen Geld, das in diesem Umfeld tatsächlich umgesetzt wird. Sie scheuen die damit verbundene Verantwortung und überlassen den Männern das lukrative Feld."

Mit 47 die eigenen Firma gegründet

Auch Baechler brauchte etliche Jahre, bis sie sich den Sprung von der angestellten Personalberaterin, die Datatypistinnen, Sachbearbeiterinnen und Buchhalter vermittelte, zur selbständigen Headhunterin zutraute. Erst als ihr das "Umsatzbolzen" ihres damaligen Arbeitgebers, für den sie jährlich mehr als hundert Stellen mit verfügbaren Kandidaten "frei nach dem Zufallsprinzip" besetzte, so "richtig zuwider" war, wagte sie im reifen Alter von 47 Jahren die Gründung ihrer eigenen Firma Baechler.Barth am Zürcher Limmatquai. Fortan arbeitete sie ausschliesslich auf Mandatsbasis. Nicht genug, hatte sie damit den Wechsel in eine nahezu rein männliche Domäne vollzogen, investierte sie gleichzeitig das gesamte Pensionskassenvermögen ihres 18 Jahre älteren Ehemannes in ihr Unternehmen und war künftig alleinverantwortlich für den Unterhalt der Familie. Doch Baechler winkt ab: "Ich bin ein risikobereiter Mensch und habe von Anfang an an mich und meine Fähigkeiten geglaubt."

Sie sollte Recht bekommen: "Frau Baechler macht ihren Job ausgezeichnet", lobt Hans-Werner Bühler, der Geschäftsführer der Firma Alusuisse Allega, für die die Headhunterin seit sechs Jahren tätig ist. Sie setze sich intensiver als ihre Kollegen mit der Kandidatensuche auseinander, so Bühler, sei stark psychologisch ausgerichtet und liefere ihnen jedesmal "derart stimmige und aufschlussreiche Personenprofile", dass sie auf dieser Basis sehr wirkungsvolle Entscheide fällen können.

Ausschlaggebend für den Erfolg ihrer Tätigkeit, sagt Baechler, sei ihre Kommunikationstechnik, die sie in den Gesprächen mit ihren Auftraggebern und den Stellenbewerbern anwende. Diese Technik habe sich im Verlauf ihres Lebens als Berufs-, aber auch Familienfrau herauskristallisiert und gründe auf "einer Kombination von schamloser Neugierde, Interesse an jeder Biographie und Mut zur Wahrheit bei gleichzeitiger Wahrung der Diskretion."

Die Leute zum Reden bringen

Während den rund zweistündigen Interviews gilt es jedesmal, hochkonzentrierte Arbeit zu leisten. Dank gezielter Fragen muss sie die Männer und Frauen, die ihr gegenübersitzen, zum Reden bringen. Sie muss ihnen gut zuhören, um vor allem all jene Botschaften zu vernehmen, die sich zwischen den Zeilen, in der Tonlage, hinter einem verächtlichen Blick oder überraschenden Lachen verbergen. Darüber hinaus muss sie ein Klima des Vertrauens schaffen, in dem ein Team sie als Bestandteil des Unternehmens wahrnimmt und irgendwann auch "die Skelette aus dem Schrank holt, die es in jeder Organisation gibt: Missgunst bis zum Mobbing, sexuelle Belästigung oder Vetternwirtschaft und Begünstigung." Nur auf der Basis absoluter Transparenz und Ehrlichkeit könne sie überhaupt herausdestillieren, welcher Kandidat beziehungsweise welche Kandidatin sich für eine Stelle eigne. Dabei gehe es überhaupt nicht darum, einem Unternehmen ihre eigenen Wertvorstellungen überzustülpen. Nein, sie habe lediglich zu erheben, wie die "Chemie" eines Geschäftsleitungsgremiums oder einer Abteilung beschaffen sei, um damit allfällige Unverträglichkeiten mit dem neuen Mann oder der neuen Frau auszuschliessen: "Erst wenn ich weiss, dass der Geschäftsleiter autoritär ist und mit der Peitsche knallt", sagt sie, "werde ich den richtigen Finanzchef finden, der ihm die Stirn zu bieten vermag."

Genauso präzise und unerbittlich muss sie die Kompetenzen, aber auch die fachlichen Mängel und menschlichen Unvollkommenheiten, die Ängste und Leidenschaften der an einer Stelle Interessierten herausarbeiten. Innert Kürze muss sie bei den Kandidaten die Lust wecken, "mit mir offen und ehrlich über ihre Karriere nachzudenken". Gemäss Baechlers Erfahrung reden die meisten Menschen gern über sich, geniessen die ungeteilte Aufmerksamkeit und lassen sich von ihren Fragen führen. Das sind oft unerwartete Fragen nach der Kindheit, nach frühen Berufswünschen, nach Beziehungsmustern im privaten oder beruflichen Umfeld und - ganz wichtig - nach Misserfolgen und Schwächen, deren Hintergründen und allfälligen Veränderungsmöglichkeiten. Dabei gehe es ihr überhaupt nicht darum, betont sie, einen Mann oder eine Frau blosszustellen. Aber sie müsse auch die wunden Punkte kennen, um eine Persönlichkeit ganzheitlich erfassen zu können.

Internationale Erfahrung

Auf der Suche nach den tieferliegenden Gründen von Baechlers spezifischer Eignung für das diffizile Geschäft des Headhuntings landet man unweigerlich bei ihrer eigenen Lebensgeschichte. Die 55Jährige verfügt über reichhaltige Erfahrungen, verbrachte ein Jahr in Moskau als Mitarbeiterin des Schweizer Militärattaches, war Honorarkonsulin von Peru, verwaltete jahrelang die Luxusvillen einer kuwaitischen Familie am Genfer See und sagt von sich: "Mir ist nichts fremd."

Schon als Kind habe sie gelernt, die Menschen ihrer Umgebung zu durchschauen: "Meine Mutter war nur an ihrer Schönheit interessiert, mein Vater wollte nichts als Geld." Dass sie dabei auf der Strecke blieb, erkannte sie ebenso gnadenlos und sah sich frühzeitig dazu gezwungen, die Verantwortung für ihr Leben selber zu übernehmen. Sie habe sehr bald unternehmerische Talente entwickelt und mit ihren Freundinnen Verträge abgeschlossen: "Tauschst du mit mir das Badkleid, bringe ich dir das Schwimmen bei." Dass sie während vielen Jahren von ihrem pädophilen Stiefvater sexuell ausgebeutet wurde, jenem Mann, der sie gleichzeitig intellektuell und kulturell förderte wie niemand sonst, habe sie trotz allem Leiden gelehrt, Menschen nie in Bausch und Bogen zu verurteilen: "Es lohnt sich bei jedem Menschen, genauer hinzugucken und ihn mit all seinen Facetten, Schwächen und Stärken, zu erfassen." So viel Nachsicht? "Nicht Nachsicht", konstatiert sie ungerührt, "Einsicht in etwas, was mir widerfahren ist."

Hart auf die Probe gestellt wurde sie auch in ihrer Rolle als Mutter. Ihr Sohn, ein hyperaktives Kind, das alle Normen sprengte, schulisch immer wieder versagte, von seinen Kollegen gemieden oder geschlagen wurde, trieb sie immer wieder an den Rand der Verzweiflung. Dennoch vertraute sie auf seine spezifischen Talente und hielt seine Zukunftschancen allen Schwierigkeiten zum Trotz für intakt. Sie sollte recht bekommen, verfügt er doch heute über einen kaufmännischen Abschluss und ist inzwischen glücklicher Familienvater.

Ihre Menschenkenntnis wurde zusätzlich verfeinert, weil sie gleichzeitig mit ihrer zweiten Heirat zweifache Stiefmutter wurde und damit eine Funktion übernahm, "in der es überlebensnotwendig ist zu realisieren, ob dir jemand mit echter Zuneigung begegnet oder nur den ‚Schmus' bringt."

Dermassen versiert in der genauen Beobachtung und Einschätzung ihrer Umgebung, braucht es viel, um der Headhunterin ein X für ein U vorzumachen. "Bluffer und Aufschneider erkenne ich schon unter dem Türrahmen", stellt sie mit einer wegwerfenden Handbewegung fest. Häufig genüge ihr ein Blick auf deren Bewerbungsunterlagen mit Foto und Handschriftprobe und sie wisse, wer integer beziehungsweise unglaubwürdig sei.

Schwäche für Querdenker

Andererseits habe sie eine Schwäche für Querdenker, Männer und Frauen, die aus der Reihe tanzen. Deren Begabungen "schmöcke" sie oft bei der ersten Begegnung. Einen Riecher habe sie auch, wenn es darum gehe, in einem Team diejenigen herauszufiltern, die zwar eigene Karriereabsichten hegen, diese aber nicht zu äussern wagen und bei Sitzungen ständig die beleidigte Leberwurst spielen. Denen müsse mit äusserster Sensibilität begegnet werden, würden sie doch sonst dem neuen Stelleninhaber von Anbeginn an das Leben schwermachen.

Intuition sei etwas vom Wichtigsten, sagt Baechler, um in ihrer Branche zu bestehen: "Jagdinstinkt," macht sie mit erhobenem Zeigefinger geltend. Doch damit ist es nicht getan. Mindestens genau so wichtig seien Hartnäckigkeit, Ausdauer und Fleiss: "Ich bin enorm fleissig", sagt sie, "und leiste stets exklusive Arbeit." Jedes neue Mandat werde frisch aufgerollt; das "Rezyklieren" ehemaliger Kandidaten aus vorgängigen Aufträgen komme für sie nicht in Frage. Darüber hinaus brauche es auch den Mut, einem Kandidaten beim leisesten Zweifel an dessen Eignung selbst in letzter Minute noch abzusagen: "Das bin ich meiner Professionalität schuldig." Wer mithin darauf angewiesen sei, "jedermanns Liebling" zu sein, spottet sie, habe im Executive Search nichts verloren.

Neun Jahre nach Firmengründung ist Rita Baechler stolz auf das Erreichte, und das nicht zuletzt, weil es ihr gelungen ist, auf einem hartumkämpften Markt ihren Platz zu finden und ihren hohen Ansprüchen dennoch treu zu bleiben. Sie beschränkt sich bewusst auf rund zwanzig Mandate pro Jahr, die sie als "schwierig und herausfordernd" qualifiziert. Aufträge, zu denen sie nicht uneingeschränkt ja sagen kann, lehnt sie ab oder verweist an einen Kollegen. Dazu gehören alle Anfragen von Grossbanken und Versicherungen, deren Strukturen und Funktionsweise ihr "fremd und nur schwer durchschaubar" erscheinen. Sie ist gleichwohl für grosse internationale Firmen wie Siemens oder Alcan Group tätig, siedelt ihren Tätigkeitsschwerpunkt allerdings mit Nachdruck bei den sogenannten Klein- und Mittelbetrieben mit bis zu tausend Mitarbeitenden an.

Rita Baechler wurde am 1. Oktober 1945 in Wettingen geboren. Die Tochter eines Unternehmers und einer Hausfrau wuchs im Tessin auf. Mit 17 Jahren absolvierte sie eine Handelsschule. Sie übernahm zahlreiche Jobs in verschiedenen Unternehmen, hat sich ständig berufsbegleitend weitergebildet und spricht heute fünf Sprachen. Sie hat einen 33jährigen Sohn und eine 32jährige Tochter, zwei Stiefkinder, vier Enkel und vier Stiefenkel und bezeichnet sich als "praktizierende Teilzeit-Grossmutter". Sie lebt mit ihrem Mann in Zürich. Sie sammelt Kunst, malt und stellt selber Keramik her. Ihre Zwergrauhhaardackeldame Lila begleitet sie an nahezu alle Geschäfstermine und macht selbst Firmenchefs Eindruck mit ihrem Bellen.

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© Barbara Lukesch