Unterwegs mit Maria Becker

Heikle Annäherung / 27. April 2001, "Annabelle"

Symbolbild Thema Porträts

Die Begrüssung fällt formlos aus:"Ist es kalt, sehr kalt? Brauche ich meinen Hut?" ist alles, was Maria Becker, unter der Eingangstür ihres Wohnhauses stehend, zum Besten gibt. Kein "Guten Tag", kein "Grüezi", von einem Händedruck ganz zu schweigen. Das Angebot, ihr dennoch im Sinne eines Willkommensgrusses die Hand zu schütteln, nimmt sie zwar an, stellt aber gleichzeitig mit schonungsloser Offenheit klar: "Ach, ich mag das eigentlich nicht."

In der "Kronenhalle" herrschen andere Sitten. Hier eilt die Chefin des Hauses herbei, als sie ihren prominenten Stammgast erblickt, tätschelt Maria Becker wie einem braven Kind die Wange und erklärt ungefragt: "Frau Becker ist eine ganz wundervolle Frau." Dieses Kompliment kommt zum richtigen Zeitpunkt; schliesslich musste die grosse alte Schauspielerin während der Autofahrt von uns vernehmen, dass die Erwähnung ihres Namens nicht ausgereicht hatte, um uns die Reservation eines Vorzugsplatzes zu sichern. Das wurmt sie, und so kanzelt sie den Geranten beim Betreten des Speisesaals rüde ab: "Es gibt Angestellte bei Ihnen, die Maria Becker nicht kennen". Der peinlich berührte Mann windet sich und will etwas "von einem Durcheinander und drei verschiedenen Namen" gehört haben. Mit einer solchen Ausrede soll ihr keiner kommen.

Mittagessen in der "Kronenhalle"

Dabei hatte sie den Vorschlag zu einem Mittagessen in der "Kronenhalle" gemacht, weil sie sich dem traditionsreichen Zürcher Restaurant seit Jahrzehnten verbunden fühlt. Hier hat sie früher mit ihren Kollegen vom Schauspielhaus "Ballerons am Stück", eine "herrliche Wurst" gegessen und etwas Gutes getrunken. Nach jeder Premiere habe man gefeiert und sei von aufmerksamen KelInerinnen bedient worden, "gestandenen Damen", die selber auch ins Theater gegangen seien und sie alle gekannt hätten. Auch Dürrenmatt habe hier verkehrt und viele andere Menschen, "die etwas waren und leisteten." Heute habe sich auch die "Kronenhalle" gewandelt und sei eher etwas für die Schickeria. Maria Becker hat ihr gleichwohl die Treue gehalten und das Wohlwollen bewahrt.

Gleiches kann man von ihrem Verhältnis zum Schauspielhaus nicht behaupten. Jener Stätte, an der sie einst riesige Erfolge feierte, hat sie den Rücken gekehrt. Sie besucht keine Aufführungen mehr und behauptet, dem aktuellen Theatergeschehen "distanziert, ja, gleichgültig" gegenüberzustehen: "Was heute am Theater ausgeübt wird", konstatiert sie ungnädig, "hat nichts mit meinem ursprünglichen Beruf zu tun. Da sind keine Schauspieler, sondern Aktionskünstler am Werk. An einem solchen Ort habe ich nichts verloren." Ihre Stimme ist jetzt hart. Ihre Augen blicken kalt.

Gleichgültig ist ihr dieses Thema allen Beteuerungen zum Trotz auf jeden Fall nicht. Wie sollte es auch? Da kam mit Christoph Marthaler ein neuer Intendant nach Zürich, übernahm jenes Theater, das sie mitaufgebaut und während Jahrzehnten geprägt hatte - und würdigte sie keines Blickes. Er rief sie nie an, schrieb ihr keine Zeile und vermittelte ihr damit das Gefühl, "eine Altmodische zu sein, ein Instrument auch, für das es keine Verwendung mehr gibt." Diese Erfahrung muss sie doch gekränkt haben. Sie verwirft ihre perfekt manikürten Hände: "Dazu fehlt mir das Organ." Nach einem Moment lastenden Schweigens fordert sie schliesslich ungehalten: "Nun fragen Sie mich doch endlich ein paar andere Sachen."

Pochen auf Präzision

Über ihre beruflichen Aktivitäten und Pläne redet sie gern. Wenn sie von ihrem "Jedermann"-Projekt erzählt, gerät sie richtig ins Schwärmen. Gemeinsam mit ihrem Sohn Benedict hat sie vor, das barocke Stück 2002 im Zürcher Rieterpark auf eine moderne Art zu inszenieren. Benedict werde den Jedermann spielen, Anne-Marie Blanc seine Mutter, der Gnädinger den Mammon und die Nena, die ehemalige Lebensgefährtin Benedicts, die sich als Popsängerin einen Namen gemacht hat, übernehme die Rolle der Buhlschaft: "Lauter gute Leute, auf die ich mich freue." Benedict mache dazu noch die Musik: "Ich halte grosse Stücke auf meine Söhne, von denen ich viel lerne", sagt sie mit Stolz in der Stimme.

"Und Sie, Frau Becker, führen quasi Regie?"

"Nicht nur quasi, ich führe Regie", kommt ihre Antwort blitzschnell und messerscharf. Wehe dem, der sich der 81Jährigen gegenüber eine sprachliche Unachtsamkeit erlaubt. Unbestechlich pocht sie auf Präzision. Kurz darauf verbittet sie sich mit Nachdruck den Begriff "Job": "Ich betrachte meine Arbeit nicht als Job, auch wenn ich damit Geld verdiene." Vorgebracht mit ihrer tragenden Stimme, in perfektem Bühnenhochdeutsch verfehlen die Worte ihre Wirkung nicht. Maria Becker hat mitunter etwas Einschüchterndes an sich.

Gott sei Dank bietet eine gemeinsame Mahlzeit immer auch Gelegenheit zum Small Talk, zum sich Entspannen und Durchatmen. Der Kellner trägt unsere Gerichte auf, der Fotograf macht einige Aufnahmen. Dass sie fotografiert wird, lässt sie kalt. Hauptsache, die Frisur sitzt. Ihre vollen schönen Lippen zieht sie mehrmals mit einem dezenten Farbstift nach. Wir reden über das Essen in der "Kronenhalle", das berühmte Wiener Schnitzel, das sie sich schmecken lässt. Sie sei leider ein ausgezeichneter Futterverwerter und trage alles, was sie esse, sofort auf sich herum. So sei sie gezwungenermassen zum Diät-Freak geworden. Essen ist fast immer ein unverfängliches Thema, bei dem nichts schief gehen kann.

Der Tod ist kein Thema

An den Tod ihres Sohnes Christoph im Jahr 1966 hingegen möchte sie nicht erinnert werden: "Bitte, das ist kein Thema." Überhaupt: Den Tod verbannt sie vom Tisch. Knapp gibt sie preis: "Ich weiss, dass das Sterben unabwendbar ist und versuche, mich nicht zu sehr davor zu fürchten." Mehr dazu gehöre nicht an die Öffentlichkeit. Kehren wir also zurück zum Leben, zu dem ja nebst anderem auch Geld gehört. Ein eigener Verdienst, erwähnte sie andernorts, sei für sie stets eine Selbstverständlichkeit gewesen: "Ich hätte niemals wie andere Frauen die Hand ausstrecken können und meinen Mann für mich arbeiten lassen." Sie sei immer eine emanzipierte Frau, keine Emanze und Männerhasserin, aber eine selbständige Person gewesen und habe auch als Mutter dreier kleiner Kinder ihren Teil zum Unterhalt der Familie beigesteuert: "Zum einen waren wir nicht sonderlich gut betucht, zum anderen hätte ich meinen Beruf niemals aufgegeben und mich auf die Rolle eines Kindermädchens beschränkt." Heute zwinge ihre bescheidene AHV sie dazu, weiterhin ihrer Erwerbsarbeit nachzugehen.

Die Frage nach dem Verdienst einer Schauspielerin lässt sie erneut einsilbig reagieren: "Schauspieler verdienen nicht unendlich viel Geld." Einmal mehr stockt das Gespräch; sie leistet Widerstand, wo sie nur kann. Einkünfte sind tabu, Ausgaben ebenso. Nichts geht mehr. Die Erwähnung des Wortes "Konkurrenz" setzt der Verstimmung die Krone auf: "Andere Schauspieler empfinde ich nicht als Konkurrenz", hält sie in autoritärem Ton fest, "sie sind meine Kollegen."

Welcher Teufel reitet sie jetzt? Hasst sie Journalistinnen? Empfindet sie die Medien als lästige Plage? Immerhin hatte sie die telefonische Interviewanfrage der "Annabelle" mit Interesse, Freundlichkeit und einem prompten "Ja" beantwortet.

Der Journalismus ebnet uns dann doch wieder den Weg. Überraschenderweise erklärt Maria Becker, dass sie selber wahnsinnig gern Journalistin wäre: "Ich finde Interviews etwas Tolles, weil ich in diesen Situationen so viel beobachten und lernen kann." Für die Fachzeitschrift "Musik und Theater" hat sie bereits einmal Gespräche mit dem ehemaligen Zürcher Intendanten Achim Benning, dem Dramatiker Rolf Hochhuth und dem Regisseur Jürgen Flimm geführt. Noch lieber würde sie heute allerdings für das Fernsehen arbeiten: "Mein Traum wäre es, grosse Personeninterviews im Stil eines Larry King zu machen." Der Anspruch ist hoch, zählt King doch zu den renommiertesten TV-Talkmastern der USA. Prominent im strengen Sinne müssten Maria Beckers Gäste nicht sein. Lieber würde sie die Chefin der "Kronenhalle" befragen, oder die Gattin von Stadtpräsident Estermann oder jenen Indianer, der anlässlich einer Ausstellung im Rietbergmuseum zur Zeit in Zürich weilt: "Ich bin überzeugt", sagt sie, "dass ich das gut hinkriegen würde." Eine Botschaft, die sie so engagiert, ja voller Leidenschaft vorträgt, dass man ihr wünscht, sie möge ihre Adressaten erreichen: einen Schawinski, Schellenberg oder wie die TV-Verantwortlichen hierzulande alle heissen. "Ich mache überall mit", lacht sie auf einmal richtig entspannt.

Zum Dessert wird gesündigt. Eine kleine Portion Mousse au Chocolat muss einfach sein, sonst ist ein Besuch in der "Kronenhalle" nicht abgerundet.

Lange schwierige Phase

Was war eigentlich die glücklichste Zeit in Ihrem langen Leben, Frau Becker?

Becker: Das waren die drei Jahre, die ich von zehn bis dreizehn in der "Schule am Meer" auf der Norseeinsel Juist verbracht habe. Die Lehrer haben uns Kinder ernstgenommen und auf jede erdenkliche Art gefördert. Diese Erfahrung hat mich zutiefst geprägt.

Und was war die schwierigste Phase?

Becker: Alle anderen Phasen bis zu meinem sechzigsten Altersjahr.

Was ist denn mit sechzig passiert?

Becker: Von da an ging es leichter.

Wieso?

Becker: Weil ich älter wurde.

Selbstbewusster auch?

Becker: Nein, älter.

Können Sie das nicht etwas konkreter umschreiben?

Becker: Na, ich war weniger doof, weniger dusslich, weniger ahnungslos, weniger verwirrt auch.

Was hat Sie so verwirrt im Leben?

Becker: Alles.

Nachdem das Aufnahmegerät abgeschaltet ist, fährt sie sich mit den Fingern durch ihre Haare und atmet tief durch.

Becker: "Und - wie war ich? Habe ich irgendetwas Intelligentes von mir gegeben? Man fühlt sich ja immer so dämlich nach einem Interview."

Nicht mehr so dünnhäutig

Es wäre schön, wenn Sie mir doch nochmals erklären würden, warum Ihr Leben mit sechzig auf einmal so viel einfacher wurde.

Erstaunlicherweise entspannt sie sich jetzt und erzählt, dass sie seit ihrem sechzigsten Altersjahr nicht mehr so dünnhäutig sei, was - der erhobene Zeigefinger fährt steil in die Luft - nicht heissen solle, sie sei jetzt dickfellig. Aber früher habe sie sich alles so sehr zu Herzen genommen, habe unter allem und jedem gelitten und die ganze Welt immer von ihren Ansichten überzeugen wollen. Heute sei sie gelassener. Klar mache sich das Alter bei ihr bemerkbar. Aber Gott sei Dank nicht im Kopf, den halte sie mit entsprechendem Training fit. Neuerdings rechne sie in atemberaubenden Tempo die Quersumme jener Autonummern aus, die sie an einer roten Ampel vor sich habe. Wo hingegen selbst das beste Training nichts nütze, seien ihre Knochen: "Die Karosserie zeigt nun mal Verschleisserscheinungen."

Auf einmal sprudelt unser Gespräch. Verstehe einer, was diesen Wandel herbeigeführt hat. War es das Tonbandgerät, das sie so einsilbig hat reagieren lassen? Die Umgebung, die Kellner, der Lärm im vollbesetzten Restaurant?

Egal. Jetzt ist es auf jeden Fall locker, und auch der Fotograf kann voll und ganz auf ihre Kooperation zählen. Maria Becker weiss, wie man sich vor einer Kamera bewegt, und ist zu jeder Position und Pose bereit. Professionell und konzentriert verrichtet sie diese Arbeit. Ein Vergnügen, zu beobachten, was sie mit ihrem Gesicht alles anstellen kann. Nach der Rückkehr zu ihrem Haus im Zürcher Seefeld-Quartier gewährt sie uns trotz Müdigkeit Einlass in ihr Büro, das sie ihre "Hexenküche" nennt. Hier erledigt sie ihre Post, bereitet sich auf Lesungen vor, wie jene im Kunsthaus Zürich, bei der sie kürzlich aus den Tagebüchern Lavaters las, oder führt Telefongespräche.

Einige Porträtaufnahmen sind noch gewünscht. Währenddessen erzählt sie von Otti, ihrem geliebten sechzehnjährigen Yorkshire Terrier, der sie mehrmals täglich, Hüftoperation hin oder her, zu einem Spaziergang zwingt. Ein Blick durch das Zimmer bleibt an ihrem Computer, einem eher älteren Modell, hängen. Ihrer Aufmerksamkeit entgeht nichts: "Ha, wie verächtlich Sie gucken." Sie seufzt vernehmlich. "Ich liebe meinen Computer und würde so gern Mails verschicken oder auf dem Bildschirm zeichnen. Aber obwohl ich Stunden genommen habe, bin ich offensichtlich zu dumm, mir diese neue Technik anzueignen." Auch wenn sie ihre Stimme dramatisch erhebt, schwingt eine gehörige Portion Koketterie mit. Plötzlich wetzt Otti ins Zimmer und begrüsst aufgeregt alle Anwesenden. Maria Becker strahlt. Zum Abschied drückt sie uns die Hand, warm und herzlich.

Maria Becker wurde 1920 in Berlin als Tochter des Schauspielerehepaars Maria Fein und Theodor Becker geboren. Nach der Scheidung ihrer Eltern wuchs sie bei ihrer Mutter auf, wurde aber mehrheitlich von ihrer Grossmutter betreut. Von zehn bis dreizehn Jahren lebte sie auf der Nordseeinsel Juist, wo sie die "Schule am Meer", ein Internat, besuchte. 1936 verliessen Mutter und Tochter Berlin, das im Banne Hitlers und der von ihm inszenierten Olympischen Spiele stand, und wechselten nach Wien. Hier besuchte die Sechzehnjährige das Max-Reinhardt-Seminar. Nach dem sogenannten "Anschluss" Österreichs ans Deutsche Reich wanderte Maria Becker 1938 nach Zürich aus und wurde am Schauspielhaus engagiert.
Die folgenden sechs Jahrzehnte ihres Lebens waren erfüllt von einer grossen Karriere als Schauspielerin. Sie spielte in zahllosen klassischen und modernen Stücken, liess sich auch am Burgtheater in Wien und am Schauspielhaus in Hamburg verpflichten und trat oftmals auch im Rahmen von Gastspielen auf. 1956 gründete sie gemeinsam mit Robert Freitag, mit dem sie während sechzehn Jahren verheiratet war, die "Schauspieltruppe Zürich", ein eigenes Tournee-Theater, das heute noch existiert, zur Zeit allerdings "auf Eis gelegt ist." Hier war sie vermehrt auch als Regisseurin tätig. Eine intensive und von der Kritik hochgelobte Zusammenarbeit verband sie zudem mit Friedrich Dürrenmatt. Einem breiten Publikum wurde sie durch ihre Auftritte in etlichen Fernsehkrimis wie "Derrick", "Der Alte" und "Siska" bekannt. Heute macht sie viele Lesungen. Im Herbst geht sie erneut mit dem Stück "Die Päpstin" von Ester Vilar auf Tournee.
1997 wurde sie mit dem Bundesverdienstkreuz I. Klasse und dem Louise-Dumont-Goldtopas als beste deutschsprachige Schauspielerin geehrt.
Gemeinsam mit Robert Freitag hat sie drei Söhne. Benedict und Oliver Freitag sind ebenfalls Schauspieler geworden. Christoph starb 1966.

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© Barbara Lukesch