Wie es ist, als Anwalt plötzlich selbst im Gefängnis zu sitzen

Schockerlebnis / 29. Juni 2005, "Annabelle"

Symbolbild Thema Porträts

Es war an einem Morgen im Mai 1992 um Punkt sieben Uhr, als es an meiner Haustür klingelte. Ich warf mir den Bademantel über und fragte mich konsterniert, wer wohl zu so früher Stunde etwas von mir wolle. Als ich die Tür öffnete, stand ich zehn Polizeibeamten gegenüber und hatte einen Haftbefehl vor der Nase. Bevor ich überhaupt realisiert hatte, dass man mich der Geldwäscherei gemeinsam mit einem meiner Klienten verdächtigte, sass ich schon im Kastenwagen und befand mich auf dem Weg ins Bezirksgefängnis Winterthur. Handschellen ersparte man mir. Offenbar hielt man mich nicht für einen ganz schweren Jungen. Festgenommen wurde ich, weil der ermittelnde Bezirksanwalt Verdunkelungsgefahr witterte und Absprachen zwischen mir und meinem vermeintlichen Komplizen verhindern wollte.

Man brachte mich in die Zelle mit der Nummer eins, eine Einzelzelle. Da sass ich nun in Untersuchungshaft und war zunächst wie gelähmt. Ich hatte ja nur in der festen Überzeugung gehandelt, meinem Klienten bei der Resozialisierung zu helfen. Es dauerte einen ganzen Tag, bis mich der Schock in seiner vollen Härte traf. Dann aber geriet ich in Panik. Es wurde mir schlagartig bewusst, dass meine gesamte Existenz als Anwalt auf dem Spiel stand. Von diesem Moment an schlief ich kaum noch und konnte nur sehr wenig essen. Ich nahm auch viel zu wenig Flüssigkeit zu mir und trocknete regelrecht aus. Mein Gewichtsverlust schritt in so horrendem Tempo voran, dass ich täglich schwächer wurde. Wie lange, fragte ich mich schon nach zwei, drei Tagen, würde dieser Alptraum andauern? Ich habe mir sogleich zwei Anwälte genommen; ein Zahnarzt stellt sich ja auch nicht vor den Spiegel und bohrt sich selbst an den Zähnen.

Tagelange Befragung

Der Bezirksanwalt hatte ganze Arbeit geleistet und befragte mich stunden-, ja, tagelang hart und akribisch: Hatte ich von den Drogengeschäften meines Klientengewusst? Hatte ich mich womöglich gar daran bereichert? Vieles, was zu meiner Entlastung beigetragen hätte, musste ich wegen des Anwaltsgeheimnisses verschweigen. Dieses Dilemma zerriss mich schier. In der Extremsituation, in der ich mich befand, wurden plötzlich winzige Dinge bedeutsam, die ich bisher kaum beachtet hatte. Auf einmal nahm ich dankbar zur Kenntnis, dass mir der Bezirksanwalt auch ein Schoggelädli zum Kaffee anbot. Oder ich freute mich, wenn mich der Wärter, der mich jeweils aus der Zelle ins Befragungszimmer führte, per Handschlag begrüsste. An jedem noch so kleinen Zeichen richtete ich mich auf. Diese Perspektive war für mich, der ja immer auf der anderen Seite war, sehr lehrreich.

Trotz meiner Verzweiflung erlebte ich sogar eine Situation von solcher Skurrilität, dass selbst ich lachen musste. Ein Klient von mir, der des Mordes beschuldigt wurde, bestand darauf, nur in meiner Gegenwart auszusagen. Der Bezirksanwalt willigte ein. Und so sassen wir denn tatsächlich gemeinsam bei der Einvernahme: hier der des Mordes beschuldigte Mann, dort sein Anwalt, der sich selbst gerade in Untersuchungshaft befand. Richtig dreckig ging es mir, als ich erfuhr, dass die Zeitungen über meinen Fall berichteten. Ich hatte riesige Angst, dass meine Glaubwürdigkeit darunter leiden würde. Ich dachte sogar an Selbstmord.

Kreislaufkollaps

Zum Eclat kam es bei einer der letzten Befragungen nach fast zwei Wochen Knast: Ich erlitt einen Kreislaufkollaps und musste notfallmässig ins Spital gebracht werden. Das war zugleich das Ende meiner U-Haft.

Viereinhalb Jahre später forderte der Bezirksanwalt achteinhalb Jahre Gefängnis. Das Gericht sprach mich aber von den gravierendsten Vorwürfen frei und verurteilte mich lediglich zu einer bedingten Strafe von einem Jahr wegen Geldwäscherei. Fest steht für mich, dass ich im Bestreben, meinem Klienten zu helfen, zu naiv war. Und wenn man so will, besteht darin meine Schuld. Insgesamt bin ich mit einem blauen Auge davongekommen. Mein Ruf als Anwalt hat keinen bleibenden Schaden genommen. Noch immer, 13 Jahre nach der Haft, lösen die Erinnerungen bedrückende Gefühle in mir aus. Ich betrachte diese 14 Tage inzwischen als Teil meiner Geschichte, der zu mir gehört wie vieles andere auch. Aber es ist ein schwieriger Teil, der Spuren hinterlassen hat. Freunde und Bekannte sind auf jeden Fall gut beraten, nicht morgens um sieben Uhr an meiner Haustür zu klingeln.

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© Barbara Lukesch