"Ein Schwuler ist kein ganzer Mann"

Männlichkeit / 6. April 1996, "Das Magazin"

Symbolbild Thema Männer

"Ich bin ein Mann, liebe Männer und fühle mich männlich." Bis Ueli Morgenthaler diesen Satz aussprechen konnte, vergingen nahezu 30 Jahre seines Lebens, in denen er manchmal schier daran zerbrach, dass er die gesellschaftlichen Anforderungen an einen Mann nicht erfüllen konnte.

Der zarte Junge litt darunter, dass seine Schulkollegen ihn ständig spüren liessen, dass er anders war als sie. Am unerträglichsten empfand Ueli den Turnunterricht, wo er mit seiner grazilen Beweglichkeit nichts galt. Verlor die Mannschaft, die ihn widerwillig hatte mitspielen lassen, wurde er auf dem Heimweg verdroschen. Für alles und jedes stempelte man ihn zum Sündenbock. Doch Ueli, der hin und her überlegte, fand nicht heraus, was es denn eigentlich war, das die anderen in Rage versetzte: "Ist es mein Körper?" fragte ich mich. "Ist es meine Art?" Ich kam zu keinem Schluss und litt weiter."

Ähnliche Erfahrungen wie Morgenthaler machen viele homosexuelle Jugendliche mit Gleichaltrigen. "Die Femininen und Aggressionsgehemmten, die Unsportlichen und Sensiblen werden nicht selten systematisch geplagt", sagt Ernst Frei, Psychoanalytiker in Zürich. Auch die Eltern seien mitunter "strikt in der Zuweisung des Rollenstereotyps an Buben". Wer kein "richtiger" Knabe sei und gern stricke oder mit Puppen spiele, löse schnell einmal Unmut und Geringschätzung aus.

Im Stich gelassen

Bei Ueli Morgenthaler war es der Vater, der sich schwer damit tat, den von Gewalt geprägten Schulalltag seines Sohnes wahr- und dessen Konsequenzen ernst zu nehmen. Dadurch provozierte er in dem Knaben "eine enorme Distanz zur Welt der erwachsenen Männer": Ueli fühlte sich von ihnen "im Stich gelassen". Die Mutter erkannte das Leiden ihres Jungen. Sie ging arbeiten und ermöglichte ihm den ‹bertritt in eine Privatschule, deren Atmoshäre entspannter war.

Als "gutgemeinte, aber hilflose Rettungsaktion" bezeichnet Morgenthaler den Entscheid der ganzen Familie, seine "filigranen Züge in einem Karatekurs umzupolen". Der Kampfsport sagte ihm nichts. Doch auf dem Weg zur ungeliebten Trainingsstätte kam er jedesmal an einem Ballettstudio vorbei und warf sehnsüchtige Blicke auf die Welt der Mädchen und Frauen. Die Mutter hatte Verständnis für seinen Wunsch, und aus dem Karateschüler wurde alsbald ein Balletteleve.

Ueli tauchte ein in den Bannkreis der Frauen, die ihm Sicherheit spendeten und Schutz versprachen: "Zum ersten Mal in meinem Leben spürte ich, dass mein Körper über Qualitäten verfügte. Ich genoss es, gelobt zu werden und auf Wohlwollen und Akzeptanz zu stossen." Knaben- und Männergruppen nahm er noch Jahre später als "verkrampfte, verschlossene und schrecklich bedrohliche Gemeinschaften" wahr. Frauen hingegen schätzte er über alles. Ihnen galt sein Vertrauen. Ausdruck davon war seine Berufswahl: Er wurde der erste männliche Parfümerieverkäufer Zürichs und liess sich später zum Krankenpfleger ausbilden. Er hatte viele gute Freundinnen, mit denen er Persönliches austauschen, über Männer jammern und klönen, aber auch von ihnen schwärmen konnte.

Denn Morgenthaler wusste von jeher - trotz der Distanz, die er Männern gegenüber empfand -, dass ihn das eigene Geschlecht sexuell anzog. Die ersten erotischen Erfahrungen im Alter von 16 liessen ihn dann allerdings ernüchtert, ja traumatisiert zurück.

Er war das reinste Nervenbündel. War er überhaupt ein Mann? Schliesslich wurde er mit seinen weichen Gesichtszügen und grazilen Bewegungen doch immer wieder als "Fräulein" angesprochen. Er überlegte, ob er nicht den Sprung wagen und sich einer Geschlechtsoperation unterziehen sollte. Es würde womöglich alles gut, wenn er nicht länger zwischen den Geschlechtern gratwandern, sondern sich endgültig auf die Seite der Frauen schlagen würde: Dann könnte er seine Gefühle endlich ungestraft ausleben. Er dachte ernsthaft über diesen Schritt nach und war nahe daran, sich ratsuchend an die Frauenzeitschrift "annabelle" zu wenden. Doch den bereits geschriebenen Brief warf er in den Papierkorb.

Punk-Frau mit Stöckelschuhen

Was blieb, war der Wunsch, endlich eine eindeutige Rolle einzunehmen. So verkehrte Morgenthaler, damals knapp 17 Jahre alt, während Monaten nachts als Punk-Frau mit Jupe und Stöckelschuhen in Zürichs Alternativem Jugendzentrum, zog bewundernde Blicke auf sich und vergass für Stunden die traurige Suche nach Akzeptanz. "Für einmal war alles klar", erinnert er sich. "Niemand zweifelte mehr an meiner Identität, und ich wusste genau, was ich an Reaktionen zu erwarten hatte."

Er wollte allerdings auch schockieren, wollte Rache nehmen an jener Gesellschaft, die ihn in ihrer Engstirnigkeit und Ordnungswut schier zur Verzweiflung trieb. "Warum", so haderte er damals mit dem Schicksal, "wird von mir gefordert, dass ich mich auf ein Geschlecht festlege, wo ich die Grenzen doch als fliessend empfinde?" Den Geschlechtertausch und die Verkleidung genoss er - bis er Nina Hagen begegnete, die er bewunderte. An der Bar des Hotels "Hilton" in Zürich riet ihm die Sängerin, er solle sich nicht unterkriegen lassen, sondern zu seinem wahren Ich finden. Prompt packte Ueli "Fummel" und Seidenstrümpfe in die hinterste Ecke seines Kleiderschranks. Als er sich Jahre später an der Gay Parade in San Francisco oder im Rahmen einer Performance wieder einmal schminkte und als Frau verkleidete, amüsierte er sich und genoss den Witz der Situation - mehr war da nicht.

Er hatte gemerkt, dass es ihm nichts nützte, kein Mann sein zu wollen. Er war ein Mann, der Männer liebte, ein Mann mit stark ausgeprägten femininen Zügen und Interessen, aber er war und blieb ein Mann. Der Grundstein für sein Selbstbewusstsein war gelegt - aber er sollte noch Irrewege gehen.

"Schwule", konstatiert Psychoanalytiker Ernst Frei, "fühlen sich als Männer, auch wenn sie das eigene Geschlecht begehren." Doch die Gesellschaft rücke sie immer wieder in die Nähe von Frauen und taxiere sie als unmännlich oder gar "weibisch". Unbeirrbar werde davon ausgegangen, dass es Frauen seien, die Männer lieben, und dass folglich ein Mann, der einen anderen Mann begehre, eine "halbe Frau" sei.

Tunten und Ledermänner

Wegen der Infragestellung ihrer Männlichkeit beschäftigen sich Schwule intensiver als Heterosexuelle mit dem Thema Geschlechtsidentität. Diese Auseinandersetzung äussert sich in der Homosexuellenszene etwa in der Ausprägung so gegensätzlicher Typen wie der Tunte und des Ledermanns. Während der Ledermann die Attribute des harten Machos - von der Lederkluft über die klobigen Stiefel bis hin zum schwarzen Schnauz - zelebriert und mit diesem Outfit oft eine deutliche Abwehr gegen eigene weibliche Züge zum Ausdruck bringt, zieht die Tunte mit ihrer schrillen Aufmachung bewusst oder unbewusst Aspekte von Weiblichkeit ins Lächerliche. "Tunten", sagt Udo Rauchfleisch, Professor für klinische Psychologie an der Universität Basel, "wählen ihre Aufmachung nicht zuletzt deshalb, um der Gesellschaft und sich selbst fast trotzig den Anblick zu bieten, mit dem sie in Vorurteilen gleichgesetzt werden."

Karl Scheuber, der Leiter des Schwulen Männer-Chors Zürich (Schmaz), erfährt eine andere Spielart des Themas am eigenen Leib: Der 52jährige wird von seinen Sängern mit Vorliebe als "Mutter" angesprochen und erlebt auch andernorts, dass "Schwule sich untereinander gern in der weiblichen Form oder mit weiblichen Vornamen anreden". Schwule hätten auch eine "grosse Schwäche für Opern- und Schlagersängerinnen wie Zarah Leander, Marlene Dietrich, Maria Callas und Lys Assia, in denen sie vermeintlich Tuntiges wahrnehmen?"

Tunten polarisieren. Einzelne Schwule mögen sie, viele aber stehen ihnen indifferent bis ablehnend gegenüber. Auf einer Beliebtheitsskala, so ein Szenenkenner, würden sie klar am unteren Ende rangieren. "Schwule", das weiss auch Psychoanalytiker Frei, "neigen mitunter gar zum Tuntenhass." Deutlich zeigten das Kontaktanzeigen, in denen es oft explizit heisse: "Tunte aussichtslos". Der Hass auf die "effeminiert wirkenden Homosexuellen" entspreche der Abwehr der eigenen weiblichen Anteile. "Tragisch ist, dass Schwule mit Tunten dasselbe machen, was die Gesellschaft ihnen antut."

Erneute Ausgrenzung

Als sich Ueli Morgenthaler nach mehreren Jahren des geistigen Rückzugs, der Besinnung auf Joga und Buddhismus und der sexuellen Abstinenz wieder öffnete, schloss er erste Kontakte zur Schwulenszene. Einen schützenden Hafen fand er dort aber nicht. Mit seiner "blumigen Verspieltheit" besass er für viele den Anstrich einer Tunte: "Ich wurde erneut ausgegrenzt, traf keineswegs auf Akzeptanz." Die Männerwelt machte es ihm nicht einfach, seinen Platz zu finden.

Da tut sich die jüngere Schwulengeneration bereits um einiges leichter. Philippe R. zum Beispiel, ein 23jähriger Schwuler, der sich am liebsten als Ledermann präsentiert und Spass an sadomasochistischen Spielen hat, fühlt sich in seiner Umgebung gut integriert. Er gesteht ungeniert, dass der Ledermann mit einer trapezförmigen Silhouette seinem ästhetischen Ideal entspricht und dass das sexuelle Spiel von Dominanz und Unterwerfung, das in dieser Szene zu Hause ist, ihn sexuell am stärksten stimuliert.

Als selbstbewusster junger Schwuler kann er es sich allerdings auch erlauben, auf den Geschlechtergrenzen zu balancieren und bisweilen sehr "tuckig", sprich tuntig, daherzukommen. Mit manierierter Handbewegung gibt er preis, dass ihn nichts mehr "entzückt als ein Ledermann, der auf einmal tuntige Züge an den Tag legt".

Viele Schwule ahnen früh, dass es sie erotisch zum eigenen Geschlecht hinzieht. Dennoch versuchen sie sich als "Heterosexuelle" und praktizieren Sex mit Frauen - "in der Hoffnung", so ihre späteren Begründungen, "dem familiären und gesellschaftlichen Erwartungsdruck entsprechen zu können".

Was diese Männer in den Armen von Frauen erleben, bleibt vielen als äusserst problematisch und verkrampft in Erinnerung. Geleitet von einem sehr traditionellen Rollenbild, hatte Schmaz-Leiter Karl Scheuber, der erst im Alter von 30 Jahren sein Coming-out erlebte, immer das Gefühl, er müsse Frauen "besonders vorsichtig und zuvorkommend behandeln". Nur schlecht vermochte er sich gegen das als zerbrechlich wahrgenommene Geschlecht abzugrenzen.

Verbündete gegen patriarchale Gesellschaft

Nebst solchen Erfahrungen gibt es zahlreiche Gemeinsamkeiten im Leben von Homosexuellen und Frauen und somit auch viele enge Freundschaften. Nicht selten erleben sich diese Paare als Verbündete gegen eine als unwirtlich und kalt empfundene Patriarchengesellschaft, die Schwule genauso ausgrenzt wie Frauen.

Doch nicht immer geht es zwischen Frauen und Schwulen in Minne ab. Frauenfeindlichkeit kann das Verhältnis belasten, Neid mag es trüben. Wo Risse und Brüche lauern, ist der Cartoonist nicht weit. Ralf König, der deutsche "Schwulcomix"-Zeichner, schenkt den "Tussis", "Quarktaschen" oder "Schnitten", wie er Frauen nennt, gerne seine Aufmerksamkeit. Nicht zuletzt der erfolgreichere weibliche Zugriff auf die muskelbepackten "Heti-Böcke" reizt seine spitze Feder immer wieder: "Ist doch ungerecht, oder? Unsereins kriegt höchstens zweimal im Jahr irgendeine einfallslose, gefönte Tunte ins Bett, und die braucht nur mal mit dem Hintern zu wackeln, und schon liegen ihr die geilsten Kerle zu Füssen!" So ein Frust.

Adrian Ramsauer, 36, Bezirksanwalt und langjähriger Schwulenaktivist, ist gar aus Protest gegen seine schwulen Kollegen und deren machistisches Treiben erstes und einziges männliches Mitglied der Lesbenorganisation Schweiz (LOS) geworden. Ramsauer, der "seelisch und emotional einen wesentlich stärkeren Gleichklang mit Frauen empfindet", teilt mit ihnen auch die "negativen Erfahrungen mit Männern". Ramsauers Urteil ist harsch. Er disqualifiziert seine schwulen Geschlechtsgenossen als "emotional verschlossen, egoistisch, konfliktscheu, mitunter feige und kindisch". Ihn als "Fettleibigen" würden sie, befangen in einem Kult, der nur Jugend, Schlankheit und Muskelkraft gelten lasse, auf eklatante Art und Weise ausgrenzen.

Ueli Morgenthaler ging den Männern, die er eigentlich begehrte, jahrelang aus dem Weg. Als der 19jährige in die Rekrutenschule einrücken sollte, drehte er fast durch. "Ich hatte Angst, dass sich meine früheren Erfahrungen mit Männergemeinschaften wiederholen würden und ich erneut gequält würde." Ein Psychiater riet ihm dennoch, die RS zu absolvieren, in der Annahme, er könne so seine brachliegende Männlichkeit entfalten. Doch Morgenthaler winkte ab: "Das hätte eine Katastrophe gegeben." Statt dessen unterzog er sich einem ‹berlebenstraining in Nordschweden, wo er sich auf seine Art an die Grenzen seines Körpers herantastete.

Asiaten schätzen grazile Männer

Auf der Suche nach seiner Identität - und einer besseren Welt - verschlug es ihn auch später ins Ausland. In den folgenden Jahren bereiste er Asien und meditierte im Schatten von Buddha-Statuen. Schon lange hatte es ihn in jene Länder gezogen, von deren Bewohnern er sich mehr Sensibilität und Wohlwollen versprach. Er fühlte sich in Korea, Burma, Japan und Thailand tatsächlich wohler, denn er stellte fest, dass grazile Männer dort weit mehr geschätzt werden als hier. Sollte Asien seine Heimat sein?

Bald aber erkannte er, dass dieser Weg nicht zum Ziel führte. Er konnte seinem Schicksal, ein Mann zu sein, auch hier nicht entrinnen.

Also wagte er sich mit 26 Jahren nach Algerien, um sich dort mit einer "extremen Männergesellschaft", wie er sagt, zu konfrontieren. Er hatte immer eine Schwäche für "arabische Machos" besessen; dass er den Mut aufbrachte, sich mit ihnen real auseinanderzusetzen, verbuchte er für sich als Entwicklungsschritt.

Doch nach seiner Rückkehr war Ueli Morgenthaler "total kaputt" und fühlte sich "wie ein Häufchen Elend". Er hatte feststellen müssen, dass er diesen Männern noch immer "wehrlos ausgeliefert" war. So bitter diese Erfahrung auch war, sie rüttelte ihn endgültig auf: "Mir wurde bewusst, dass ich endlich meine eigene Männlichkeit entfalten musste. Um harmonisch leben zu können, musste ich mir meine eigenen Männerwaffen schmieden und mir meinen Weg auch mit den Ellbogen bahnen."

Arbeit im Zürcher Aidspfarramt und im Aidshospiz Ankerhuus gab ihm zusätzliches Selbstvertrauen und lehrte ihn Selbständigkeit. Er schätzte die Kontakte zu Ärzten und Patienten und wagte sich zusehends weiter in die Sphäre der Männer vor. So entwickelte er eine neue, wohlwollende Beziehung zu seinem Körper, "dem männlichsten Teil" seiner Identität.

Mehr Distanz zu den Frauen

Und er entdeckte seine Lust an aggressiven Impulsen, spürte, dass auch er dominieren und in der sexuellen Begegnung nicht nur seinem Geliebten zu Diensten sein wollte. Ueli Morgenthaler wurde Mann und begann es zu geniessen, seine Männlichkeit, seinen Dreitagebart oder seine Kleidung zu zelebrieren.

Damit veränderte sich auch sein Verhältnis zu Frauen. Der 31jährige ist heute nicht mehr bereit, hingebungsvoll und unkritisch jedem weiblichen Wesen einen Bonus einzuräumen. Er sei ungeduldiger gegenüber seinen Freundinnen geworden, reagiere bisweilen auch gereizt, wenn sie "zum tausendsten Mal mit ihren emotionsgeladenen Beziehungspüffern" an ihn gelangten und darauf warteten, dass er "in ihr Lamento einstimme". Früher seien seine Frauenbeziehungen frei von Konflikten gewesen. Heute hingegen komme es auch zu Auseinandersetzungen: "Ich stehe den Frauen nicht mehr so nahe wie früher. Denn ich bin ein Mann."

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© Barbara Lukesch