Zerreissprobe

Jung verwitwet / 31. März 1996, "SonntagsZeitung"

Symbolbild Thema Frauen

Als gegen Mitternacht drei Polizisten an ihrer Haustür klingelten, war Claudia Munter völlig überrumpelt. Anders als sonst, wenn ihr Mann spät nach Hause kam, war sie an diesem Abend zu Bett gegangen und tatsächlich eingeschlafen. Jetzt stand sie verwirrt vor den fremden Männern, und der einzige Gedanke, der ihr wieder und wieder durch den Kopf jagte, hiess "Unfall". Renzo musste einen Autounfall gehabt haben. Zitternd und nervös versuchte sie sich zu orientieren, und als es plötzlich hiess: "Nein, Frau Munter. Ihr Mann hat Selbstmord gemacht", erfasste sie den Sinn dieses Satzes nicht.

"Ich hatte einen totalen Schock", sagt die 29jährige heute, "meine Gefühle waren wie tot; ich habe in jener Nacht nicht begriffen, dass sich Renzo unter einen Zug geworfen hat." Noch am nächsten Morgen, als sie Verwandten und Freundinnen telefonisch mitteilte, was passiert war, sei sie "ruhig, ja, fast cool" gewesen, während es den anderen "schier den Atem abgestellt" habe.

Der Abschiedsbrief ihres Mannes, in dem er sie um Vergebung bittet und ihr Glück für ihr weiteres Leben wünscht, liess sie - mit ihren damals zwei- und vierjährigen Söhnen - ratlos zurück. So war sie gezwungen, sich selber eine Erklärung für sein für sie völlig überraschendes Handeln zurechtzulegen. War Renzo, der sich nach aussen stets sehr beherrscht und überlegen gegeben hatte, eben doch überfordert gewesen von seinem Hundertprozent-Job und der bereits vier Jahre dauernden berufsbegleitenden Technikerschule? Hatte der 27jährige, der nie mit seiner Frau oder einem Kollegen über irgendein Problem gesprochen hatte, zu viel Belastendes in sich hineingefressen? Schuldgefühle schlichen sich ein. Claudia Munter liess die letzten Tage vor seinem Tod Revue passieren und überlegte, ob sie Fehler gemacht hatte. Ihre Gedanken liefen ins Leere; Antworten bekam sie nicht.

Die Wahrheit schonend beibringen

Doch der Alltag forderte seinen Tribut. Da waren ja noch ihre beiden Kinder, denen sie schonend beibringen musste, dass "der Papi tot und jetzt im Himmel ist." Sie allein musste entscheiden, was sie ihnen zumuten konnte und wollte. "Dass ihr Vater Selbstmord gemacht hat", sagt Claudia Munter, "wissen sie heute, drei Jahre später, noch nicht".

Menschen, die ihre Partner oder Partnerinnen zu einem Zeitpunkt verlieren, da noch kleine Kinder im Haus und zu betreuen sind, stehen vor einer besonderen Zerreissprobe. Hier brennt der eigene Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen, da bricht die Fassungslosigkeit ihrer Söhne und Töchter auf, die die Welt nicht mehr verstehen. Und das Leben - so hart es klingt - geht weiter. Die Todesanzeige will aufgesetzt, die Beerdigung organisiert sein. Sofort stellen sich finanzielle und versicherungstechnische Fragen. Mechanisch läuft ein Apparat ab, der bedient werden muss.

Als Franz Wallimanns Frau vor zwei Jahren nach dem Platzen einer Hauptschlagader starb, befand sich die vierköpfige Familie gerade in den Ferien auf Sardinien. Der 45jährige Polizist hatte die Tragweite des Geschehens noch nicht erfasst, als es schon darum ging, die Überführung der Leiche in die Schweiz zu bewerkstelligen. Er war noch hin und hergerissen zwischen Gefühlen der Wut über die italienischen Ärzte, die seiner Meinung nach versagt hatten, und seiner Trauer.

Doch wenige Tage nach der Rückkehr nach Zürich stand er vor der Notwendigkeit, sein Leben und dasjenige seiner inzwischen acht- und dreizehnjährigen Töchter von Grund auf neu zu organisieren. Bisher waren Haushalt und Kindererziehung Sache seiner verstorbenen Frau gewesen. Nun musste er neben seiner Berufstätigkeit Betreuungspersonen für seine Kinder finden und kochen lernen. Die finanzielle Zusatzbelastung von rund 3000 Franken pro Monat für die Kinderbetreuung riss zudem ein Loch ins Familienbudget, das sich aus Zustüpfen von Pro Juventute und den Halbwaisenrenten seiner Töchter nur teilweise stopfen liess. Anspruch auf eine Witwerrente hat er (noch) nicht.

Der Schock als Korsett

Wenn dann der Alltag wieder einigermassen im Lot ist, bricht bei vielen Betroffenen überhaupt erst der eigentliche Schmerz auf. Dorothea K., 34 Jahre alt, hat ihren Mann vor sechs Monaten nach einem Herzinfarkt verloren. Die Mutter von vier kleinen Kindern, darunter ein Säugling, sagt: "Der anfängliche Schock war wie ein stützendes Korsett für mich; erst vor drei, vier Wochen haben mich Gefühle wie Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und auch Angst vor der Zukunft eingeholt." Auf einmal seien die Gespenster da, und sie erschrecke, wie stark sie so etwas wie "Sehnsucht nach dem eigenen Tod" empfinde.

Auch Franz Wallimann ist in jener Zeit oftmals am Abend zu Hause gesessen und hat, wenn die Kinder im Bett waren, das bittere Gefühl der Einsamkeit empfunden: "Mich hat vor allem das Wissen, nun ganz allein für meine Töchter verantwortlich zu sein, schwer belastet."

Plötzlich stellt sich bei vielen auch das Bedürfnis ein, sich mit dem Thema Tod eingehender zu befassen und dazu Fachliteratur zu lesen. Sie spüren, dass sie auch ihren eigenen Weg im Umgang mit dem Verstorbenen finden müssen. Dorothea K., zum Beispiel, hat sehr schnell den Mantel und das Jackett ihres Mannes von der Garderobe in den Kleiderschrank versorgt, "um mich der nach wie vor unfassbaren Realität, dass er nicht zurückkommt, doch irgendwie auszusetzen." Sie spürt aber auch einen starken Drang, sich das Fotoalbum mit Bildern ihres Mannes immer wieder anzuschauen: "Das löst mitunter sehr intensive Gefühle in mir aus. Wut auf Paul, dass er mich und die Kinder so plötzlich hat sitzen lassen. Oder dann auch einen regelrecht körperlichen Schmerz, der mich schier zerreisst."

Mit einher geht stets auch die Sorge um das Wohl der Kinder. Wie verkraften sie den Verlust eines Elternteils? Soll man sie an die Beerdigung "nötigen", auch wenn sie sich deutlich dagegen wehren? Was hat es zu bedeuten, wenn sie monatelang passiv in ihrem Zimmer sitzen, kein Spielzeug mehr in die Hand nehmen, keine Kollegen mehr nach Hause einladen, aber trotzdem nie weinen? Was sollte Claudia Munter ihrem Sohn sagen, als er fragte, warum denn keine Leiter zum Papi in den Himmel führe? Dorothea K. gab ihrer siebenjährigen Tochter auf jeden Fall recht, als diese klagte: "Das ist aber kein lieber Gott, der unseren Papa hat sterben lassen."

Das Umfeld tut sich oft schwer

Mehr denn je sind die Männer und Frauen, die ihren wichtigsten Ansprechpartner verloren haben, auch auf ihre Umwelt angewiesen. Das können Nachbarn sein, die bei der Kinderbetreuung oder beim Einkauf helfen; das mögen Freundinnen und Verwandte sein, bei denen man Trost findet und sich auch einmal ausweinen mag.

Doch nicht selten tut sich die Umwelt auch schwer mit den jungen Witwen und Witwern. "Es gibt Leute", sagt Dorothea K., "die mich auf der Strasse nicht mehr zu grüssen wagen, sondern mit niedergeschlagenen Augen stumm an mir vorbeigehen." Alle Betroffenen haben es erlebt, dass sich Menschen in dieser Zeit von ihnen distanziert oder den Kontakt gar abgebrochen haben. "Viele Leute", sagt Franz Wallimann, "sind überfordert und wissen gar nicht, wie sie einem Trauernden begegnen sollen."

Dabei wünschen sich diese vor allem eins: Offenheit. Nichts sei schlimmer, so heisst es unisono, als zum Schweigen verurteilt zu sein und den Namen der Verstorbenen nicht in den Mund nehmen zu dürfen. Solange man reden könne, verzeihe man auch die mitunter "lästigen und unsensiblen Trostversuche": "Aber du hast doch die Kinder", "Nun wird es ja bald wieder Frühling", "Halte dich doch an die schönen Erinnerungen". Zu viel Trauer werde nicht goutiert; schnell einmal dränge das Umfeld auf die Rückkehr zur sogenannten Normalität. Dorothea K., die als frisch Verwitwete noch über so etwas wie "Narrenfreiheit" zu verfügen glaubt, hat denn auch Angst vor jenem Moment, "da sich Freunde und Freundinnen von mir abwenden, weil sie mich mit meinem Schmerz und meinen wechselnden Stimmungen nicht länger ertragen mögen."

Franz Wallimann merkte bald einmal, dass er in seiner besonderen Situation Menschen brauchte, die Ähnliches wie er durchlitten hatten. Der Witwer, der sich als "eher introvertiert und verschlossen" bezeichnet, machte sich gezielt auf die Suche. Im "Club 79", wo sich alleinerziehende Väter und Mütter treffen, fühlte er sich mit seinen Sorgen nur zum Teil verstanden. Als er im Herbst letzten Jahres dann per Zufall auf die Ankündigung eines Kurses "Und plötzlich stehst du allein - Für Verwitwete mit Kindern" stiess, meldete er sich kurzentschlossen an. Der Austausch mit Schicksalsgenossen und - genossinnen habe ihm, so sagt er, "sehr gut getan." Zum erstenmal habe er sich mit seinen Sorgen und Nöten ernstgenommen gefühlt.

Gesellschaftliche Vorurteile

Das ist kein Zufall: Denn Renee Komenda, die Initiantin dieses Kurses, verlor selber vor knapp vier Jahren ihren Mann und litt seinerzeit nicht zuletzt darunter, dass sie weder bei einer Beratungsstelle noch im Rahmen einer Selbsthilfegruppe Unterstützung fand. Die Sozialpädagogin führt zusätzlich die "Aurora Kontakt- und Beratungsstelle für Verwitwete mit Kindern"1) in Zürich, die auf grosses Interesse stösst.

Und eines Tages hält die Lebensfreude, ja, vielleicht auch die Liebe wieder Einzug im Alltag. Erneut gilt es, sich gegen gesellschaftliche Vorurteile abzugrenzen. Da tuscheln die Nachbarn, die einen bisher mit Missachtung gestraft haben, hinter vorgehaltener Hand, "dass eine, die sich so schnell wieder einen Freund zulegt, ihren Mann doch gar nicht geliebt haben kann."

Durfte Claudia Munter tatsächlich drei Monate nach dem Tod Renzos mit ihren Kindern in die Ferien fahren? Und dann noch der rasche Umzug nach Zürich, und das neue Auto? Egal - die junge Frau hat genau das gemacht. Und sie hat zum gleichen Zeitpunkt auch den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen: "Ich hatte meinen Mann verloren, stand vor der schwierigsten Aufgabe meines Lebens und meine Eltern behandelten mich wieder wie ein Kind - das passte nicht zusammen."

Viele der Betroffenen werden in dieser schwierigen Phase ihres Lebens tatsächlich kompromissloser. "Ich hatte ja nichts mehr zu verlieren", sagt Claudia Munter, "also habe ich begonnen, meine Bedürfnisse endlich ernstzunehmen und nicht länger nur das zu tun, was die anderen von mir erwarteten." Sie fühle sich heute freier und selbstbewusster denn je. Jetzt, drei Jahre nach dem Tod ihres Mannes, sei sie überhaupt erst in der Lage, sein Grab zu besuchen und "auf eine sehr schöne Art mit ihm zu reden."

Verein Aurora, Kontakt- und Beratungsstelle für Verwitwete mit Kindern, Postfach, 8045 Zürich, Tel. 01/461 43 38

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© Barbara Lukesch